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Sex, Freibier und ein Beatmungsgerät

Wäre der Rollstuhl von Klaus Birnstiel nicht doppelt so lang wie hoch, würde kein Schlauch in seine Luftröhre führen, würde sich niemand für unseren besoffenen Abend und seine Meinung zu Sex und Sexleben interessieren.

Klaus Birnstiel und seine Assistentin, schockiert bis amüsiert wegen der Musik im „Kuppelinstitut"; Fotos von Diana Pfammatter

Klaus Birnstiel ist genial, schlagfertig und mit einer guten Portion Zynismus gesegnet. Er ist 30 Jahre alt, Dozent an der Universität Basel und sitzt wegen einer genetischen Anomalie, einer unspezifischen Muskeldystrophie, seit seiner Geburt im Rollstuhl und wird seit seiner frühen Kindheit beatmet. Zu seinen 26 Kilo Körpergewicht kommen die 250 Kilo seines Rollstuhl-Ungetüms. Klaus ist gebürtiger Bayer, Performer und Blogger. Im Digital/Pausen-Blog der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb er mehrfach über Körpergefühl, Sex und Intimität. Ansonsten publiziert der Literaturwissenschaftler Texte zu Postmoderne und Neil Young.

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Weil wir uns gut verstehen, feierten Klaus und ich vergangenen Juni den Abschluss meiner Bachelorarbeit an der Rhein-Buvette. Das erste Bier gab es damals gratis. „Gibt es ein Bierli zum Feierabend, kleiner Mann?", fragte der Wirt. Dabei dehnte sich seine Stimme in etwa so: „Sie sitz-en in ein-em Roll-stuhl. Des-halb be-tone ich je-de Sil-be. Bin ich nicht offen?" Klaus blieb ungerührt, aber ich war perplex. Geantwortet haben wir beide nicht. Der Typ gab einem Behinderten das Bier gratis und wollte sich beim „kleinen Mann" ein Dankeschön dafür abholen. Was hätten wir ihm antworten sollen? Klaus erzählte mir daraufhin, dass einem als Person mit körperlicher Beeinträchtigung so was oft passiere. Die Leute fühlten sich komisch und privilegiert gegenüber Behinderten. Sie wollten einem Vorteile verschaffen. Sie seien nett und ließen einem alles durchgehen.

Seine Behinderung ist auch der einzige Grund, warum ich ihn interviewe. Könnte Klaus gehen, wäre sein Rollstuhl nicht doppelt so lang wie hoch, würde kein Schlauch in seine Luftröhre führen, würde sich niemand für unseren besoffenen Abend und seine Meinung zu Sex und Sexleben interessieren. Klaus trinkt Wein auf ex. Einen halben Liter bei seinen 26 Kilo. Und je länger wir trinken, desto klarer wird, wie besessen die „gesunde Welt" davon ist, Klaus zwischen die Beine zu schauen.

Klaus Birnstiel: Das Ding ist ja, dass es kein Tabu mehr gibt! Sex und Behinderung werden nicht mehr tabuisiert.

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VICE: Nicht?
Seit etwa zwei Jahren herrscht Exhibitionismus. Exhibitionismus pur. Alle wollen sie es genau wissen: Spiegel, NEON, FAZ, WOZ und jetzt VICE. Was mag dann noch kommen? Höchstens Studentenblättchen.

Bist du also ein Aktivist auf Nachfrage?
Alle interessieren sie sich für das „Wie". Wohin mit den Schläuchen? Missionarsstellung liegt nicht drin? Und das finden die dann geil. Ich gehe auch nicht unter deren Decken kucken, was da steht und was nicht.

Ist das denn ein wirklich entspannter Umgang mit dem Thema, wenn sich alle für das „Wie" interessieren?
Das „Warum" ist ihnen ja wenigstens klar.

Ist das denn Enttabuisierung, wenn du allen erzählen darfst, wie der Sex bei dir abläuft?
Du hast Recht. Weißt du, da sitzt so ein 50-jähriger Journalist vor dir, schwitzt wie ein Stier, hat die Glubscher von Endo Anaconda und fragt dich über dein Sexleben aus. Das ist richtig geil. Ein vernünftiger Umgang mit dem Thema wäre, wenn es normal wäre. Wenn man ein fairer Spieler auf dem Markt wäre.

Man hat ein Produkt und offeriert das?
Das ist halt diese neoliberale Welt. Dann geh ich zu einer und zeig mich als Sabbernder und dann soll die Frau den Muskelprotz nehmen. Das wäre wenigstens ehrlich. Weißt du, alle sind immer sooo verständnisvoll …

Es gibt ja zunehmend mehr auf Behinderte spezialisierte Sexualtherapeuten. Wie stehst du dazu? Ist das Sozialarbeit?
Das ist ganz schlimm. Da tätschelt man sich hinterher den Arm und macht sozialpädagogischen Schwachsinn mit, dabei geht es ja eigentlich nur um Sex.

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Du hast täglich dem Theaterpublikum unter anderem von deinen Erfahrungen mit Prostituierten erzählt. Wie stehst du zur Prostitution?
Meine Güte, da gibt es nichts zu entschuldigen. Ich hab es gemacht und vielleicht werde ich es wieder tun. Aber das ist scheiße. Die Regisseurin, die hat das natürlich noch unterstützt. Richtig gut fand sie das. Sie wollte auch ein spannendes Stück. Aber trotzdem, bei Behinderten heißt es: „Gut, dass es Nutten gibt. Das ist kein Problem, moralisch vertretbar, absolut sauber." Dabei kann man Prostitution nicht entschuldigen und sonst ist es ein Tabu.

Weg von den Cüplitanten. Immer weiter, „Like a Rolling Stone".

Ehrlich? Also, diesen Eindruck habe ich nicht. Sind das vielleicht Spuren einer Jugend im katholischen Bayern?
Nein. Als Kind hatte ich mal so eine Erfahrung gemacht in einer katholischen Messe: „Gesündigt haben die Kranken und Lahmen." Da hat mich mein Vater gepackt und rausgeschleppt. Ich habe das gar nicht verstanden damals.

Ich bin selbst etwas verstört von der katholischen Kirche.
Weißt du, ich hätte ja schon gerne so einen katholischen Knacks. Ich habe Freunde, bei denen es schon richtig abging. Die waren Ministranten und so. So ein kranker Katholizismus mit Beten, Anfassen und hie und da eine Ohrfeige. Das wäre schon was.

Aber eigentlich bist du evangelisch?
Ja, also das ist der Verein, in dem ich als Mitglied eingetragen bin. Nur ist dieser evangelische Scheiß eigentlich genauso schlimm. Gitarre und Gesang und Wir-umarmen-die-ganze-Welt.

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Es setzen die ersten Takte des Doors-Songs „The End" ein und Klaus schlägt vor, den letzten TGV nach Paris zu nehmen, um sich am Grab von Jim Morrison auszuheulen, wie er es nennt. Das führt dazu, dass Klaus leicht melancholisch von dieser einen Frau zu erzählen beginnt, mit der er in Paris das Bett geteilt hat, ohne dass was gelaufen ist. Dann beginnt mein Dozent jedoch Gefallen an der Fotografin und ihrer Blitz-Technik zu finden. Also doch nicht Paris. Wir folgen stattdessen der Fotografin. Sie hat uns Gästelistenplätze auf einer Party in der Kuppel versprochen. So machen wir uns vom linksalternativen Hirscheneck auf in den Lieblingsclub aller 17-Jährigen aus dem Großraum Basel. Auf dem Weg bezeichnet Klaus Passanten als „Cüplitanten" und will eine offene Lastwagenrampe hochfahren. „Für jede Rampe eine Schlampe!", ruft er in die Nacht hinaus. Das Gesprächsniveau versinkt in Alkohol, Imitationen von Marcel Reich-Ranicki, lallendem Hall und Rückfällen ins rollende Nazi-R. Vor der Kuppel—dem „Kuppelinstitut", wie Klaus meint—empfängt uns geschniegeltes Personal: „Wir freuen uns sehr, dass ihr hier seid. Braucht ihr noch irgendwas? Ist ein Freibier in Ordnung?"

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