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Die Geschichte des Südsudan

Totenstille

Überall um uns herum befinden sich Anzeichen für unrechtmäßige Morde an Zivilisten und andere schreckliche Kriegsverbrechen.

Die Schlange von Menschen, die Malakal verlassen, hat weder Anfang noch Ende. Es ist ein unaufhörlicher Strom von Menschen, die aus der zerstörten Stadt flüchten. Fotos von Tim Freccia

Am nächsten Tag scheint die verwüstete Stadt von Malakal ruhig—„ruhig“ bedeutet weniger Plünderer, Schüsse und brennende Gebäude. Ich bin schon vor Morgengrauen wach und beobachte Hunderte Zivilisten, die versuchen, einen einzigen Bus zu besteigen. Sie drängeln sich um den Bus, übergeben Taschen und Bündel, versuchen, durch jede offene Tür zu klettern, und ein Mann auf dem Dach fängt einen Koffer, während andere ihre hochwerfen. Der Fahrer fährt genervt 100 Meter weiter, aber immer mehr Leute quetschen sich hinein.

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Ein blaues Licht umhüllt die Stadt. Irgendjemand feuert scheinbar ziellos eine Flugabwehrkanone ab. In 50 Meter Entfernung geht ein Gebäude in Flammen auf und die Sonne schafft es kaum durch den Rauch hindurch.

Um 6 Uhr morgens bläst irgendjemand ein Horn, der nicht mal dieses simpelste aller Blechblasinstrumente beherrscht. Die Rebellen stolpern in Decken gewickelt umher. Einige sind schon auf dem nahegelegenen Feld angekommen, wo sie ihre Hosen runterlassen und scheißen oder sich die Zähne putzen und auf den Boden spucken. Jeder von ihnen hat diesen tiefen Husten, der von Staub, Fettbränden und Atemwegsinfekten zeugt.

Wie ein Betrunkener, der nach dem Suff erwacht, wirkt die Stadt mit ihren verbliebenen Bewohnern traurig, verwirrt und beschämt. Keiner scheint zu wissen, ob die Regierungstruppen sich vorübergehend zurückgezogen haben oder da draußen gerade den Gegenangriff planen.

Als es heller wird, sehe ich eine unfassbar lange Schlange Menschen, die über ein offenes Feld aus der Stadt hinausziehen. Ich kann weder den Anfang noch das Ende ausmachen. Es ist geradezu filmisch, es ist biblisch.

Jede Person trägt etwas. Ein Mann trägt ein Stück Holz, ein anderer ein Fahrrad. Die meisten haben Schlafmatten und Plastikstühle. Es scheint für alle wichtig zu sein, die Plastikstühle aus Malakal mitzunehmen—in einem Land aus Bäumen und Sträuchern ist ein 3-Dollar-Plastikstuhl wertvoll.

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Die White Army eskortiert die gefangenen Familien aus dem UN-Stützpunkt. Ich fange an zu zählen, aber weil die Schlange kein Ende nimmt, kann ich nur schätzen, dass ich etwa 5.000 Menschen pro Stunde sehe. Wenn sie in die aufgehende Sonne hineinlaufen sehen die Flüchtlinge aus wie eine verschwommene Luftspiegelung. Allen steht ein Tagesmarsch in der glühenden Hitze zum zwölf Meilen entfernten Camp am Fluss bevor. Die riesige Anzahl von Soldaten, die abziehen, lässt das Ganze weniger nach einem Sieg als viel mehr nach einem Rückzug aussehen.

General Gatkuoth hält ein Treffen in unserem Lehmhaus ab. Draußen rennen Kleinkinder im Kreis um müde Mutter herum. Soldaten kommen rein und raus, um nach ihren Freunden zu suchen oder herauszufinden, was los ist. Es gibt keine Funkgeräte oder anderen Kommunikationsmittel. Sogar das Satellitentelefon des Generals streikt. Heute will er uns auf eine Tour in die befreite Stadt von Malakal mitnehmen, um zu beweisen, dass er sie endgültig übernommen hat (Gatkuoth wird Malakal in einigen Tagen verlieren … und es dann wieder zurückerobern).

Am Morgen danach ziehen Mitglieder der White Army mit ihren Familien und Habseligkeiten Richtung Süden.

Ein Jet überfliegt die Stadt um exakt 7:28 Uhr. Schon nachts waren Flugzeuge zu hören, aber niemand schien sich daran zu stören. Diesen Morgen feuern die Rebellen wieder ihre Waffen und Raketenwerfer ab, weil sie endlich wieder ein Ziel haben, auch wenn es weit außer Reichweite liegt. Die Anspannung ist der Verwirrung gewichen.

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Ein wortgewandter neuer Freund, ein Nuer-Lehrer namens James, hat gerade herausgefunden, dass sein Haus in Schutt und Asche liegt. Seine Frau und seine Kinder sind bereits im UN-Camp. Er ist nur zurückgekehrt, um zu sehen, was von seinem Hab und Gut übrig geblieben ist—nicht viel. Auf dem Weg in die Stadt kommen wir an verlassenen, niedergebrannten Dinka-Dörfern vorbei, die sich in einem genauso schlimmen Zustand wie Malakal befinden, wenn nicht schlimmer. James weiß, was er als Nächstes zu erwarten hat und nichts davon ist gut. „Der Feind hat nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt“, sagt er mir, „wir verteidigen uns selbst und kämpfen für unser Heimatland.“

Simon, ein 26-jähriger Student, ist ein weiterer Bewohner von Malakal, der plötzlich eine neue Bleibe braucht. „Das ist eine alte Sache, mit den Dinka und Nuer“, sagt er, als ein Soldat im Hintergrund Dutzende Namen zum Appell aufruft, während Rekruten in nicht zusammenpassenden Uniformen vor ihm stehen. Simon weist mich darauf hin, dass viele Mitglieder der White Army frühere oder sogar aktuelle Mitglieder der SPLA sind, die einfach nur ihre Uniformen abgelegt haben, um ein bisschen Plündern zu gehen.

Riek Machar muss nur noch drei Bezirke im Norden einnehmen, bevor er das Öl kontrolliert. Obwohl ihm Malakal im Grunde bereits die Kontrolle über den Nil gibt, müssen Machar und seine Männer erst noch das Herz der Öl produzierenden Gebiete in Paloch erreichen, die Quelle von Salva Kiirs Geld.

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Unser geplünderter Toyota taucht auf und wir quetschen uns rein. Der General, der gerade dabei war, die Rebellen zu belehren, rutscht auf den Vordersitz. Er will das ziellose Umherschwirren der Truppen tadeln und sie dazu bewegen, nach Norden zu ziehen. Aber die White Army ist zu beschäftigt damit, ihre Beute zu begutachten, Knarren in die Luft zu feuern oder ihre Familien aus dem Camp zu holen.

Während Gatkuoth uns herumführt, hält er immer wieder kurz an, um mit verschiedenen Grüppchen von White-Army-Mitgliedern zu sprechen, die sich in kleinen Camps versammelt haben. In vielen dieser Lager wehen Stammesflaggen. Der General sagt den Kämpfern sie sollen aufhören herumzusitzen und die Front weiter nach Norden verschieben. Die Männer sind widerwillig und verlangen nach Essen, Munition und Wasser. Andere wollen wissen, ob wir Ärzte mitgebracht haben, weil es eine Menge Verletzter und keine medizinische Hilfe gibt.

Frauen tragen Wasser aus einem der wenigen funktionierenden Bohrlöcher. Der Nil ist verseucht durch Leichen.

„Warum seid ihr noch hier?“, fragt Gatkuoth. „Wir müssen [Kiirs] Truppen vertreiben, damit unsere Kinder in Sicherheit leben können.“

Jede Gruppe, die wir besuchen verfügt über ein beachtliches Lager von wahrscheinlich geplünderten Gütern. Die Kostbarkeiten beinhalten unterschiedliche Generatoren, Motorräder und Haushaltsvorräte. Das Satellitentelefon des Generals klingelt unaufhörlich, aber er kann die Gespräche nicht wirklich annehmen. Schlechter Empfang. Er drückt das Telefon barsch einer Hilfskraft in die Hand. Das Meet-and-Greet wird zunehmend aufgeladener und der General sagt schließlich dem Fahrer, er soll uns in die Stadt bringen.

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Die rauchenden Ruinen von Malakal beweisen, dass Langeweile und Vergeltung anstelle von strategischer Planung getreten sind. Obwohl die Verwundeten anderorts einen Arzt brauchen, fackelt die Gruppe eine Klinik ab.

Überall um uns herum befinden sich Anzeichen für unrechtmäßige Morde an Zivilisten und andere schreckliche Kriegsverbrechen. Dinkas, die in ihren Krankenhausbetten ermordet wurden. Junge Mädchen, die vergewaltigt und wie Müll weggeworfen wurden. Alte Menschen, die niedergeschossen wurden. Eine alte Frau, deren Hirn aus dem Kopf geschossen wurde. Ein älterer Mann, mit einem Bund Mais, der kopfüber im Dreck liegt. Rebellen laufen vorbei und nehmen keine Notiz von dem Blutbad, gierig darauf, für Siegerfotos zu posen.

Eine traumatisierte Schilluk-Frau sitzt katatonisch inmitten einer Kulisse aus Rauch und Feuer. Ich gebe ihr etwas zu trinken und ein bisschen Geld. Sie sitzt einfach da und starrt weiter. Der General ist unzufrieden und seine Bodyguards schütteln die Köpfe. Ich kann sie nicht retten.

Einer unserer Tourbegleiter, ein nachdenklicher Mann mit einer tiefen, melodischen Stimme, der sagt, er ist ein Informationsoffizier der White Army, hat für jede meiner Fragen eine vorgefertigte Antwort: „Ich habe momentan nicht genug Informationen, um diese Frage zu beantworten.“ Er sagt, er hat bis vor zwei Jahren in Kanada Theologie studiert. Er lebte in Calgary, Toronto, und vielen weiteren Städten im Land. Er mochte Kanada nicht, also kam er zurück nach Hause und arbeitete in Nasir für NGOs. Er ist nicht stolz auf das, was er sieht, oder zumindest auf das, was wir sehen. „Das ist ein echter Krieg“, sagt er. Ich frage ihn nach Truppenstärken und anderen Dingen. Er entschuldigt sich und sagt: „Wir haben Schwierigkeiten damit, Informationen von ihrer Seite zu bekommen. So professionell sind wir noch nicht.“

Als wir umhergehen, beginne ich, die toten Zivilisten zu zählen. Ich stoppe, als ich innerhalb weniger Minuten bei sieben ankomme, und merke, wie sinnlos es ist. Keiner wird jemals zugeben, dass er sie umgebracht hat. Keiner wird nachzählen. Es wird keine Gräber geben. Die Soldaten behaupten kleinlaut, sie hätten im „Kreuzfeuer“ gestanden. Die meisten Opfer sind zerknautscht und liegen Kopfüber da, die wenigen Besitztümer, mit denen sie flüchten wollten, sind auf der Straße verstreut, bis auf das, was bereits eingesackt wurde. Ein Mann liegt mit dem Kopf nach unten da, sein Hintern ragt in die Luft. Gewalt wie diese führt zu noch mehr Gewalt, wenn die Menschen herausfinden, wie ihre Angehörigen ermordet wurden. Wenn irgendwann die Medien mit den NGOs einfliegen, wird die Welt Geschichten lesen über Geier und den Gestank von verdorbenem Fleisch und es werden einfach schnell Augenzeugenberichte notiert werden. Wir sind hier in Echtzeit. Wie ein Kind, das auf frischer Tat ertappt wurde, hat die White Army nichts zu bieten außer lahmen Ausreden.

Die Leichen der Soldaten, die wir sehen, sind etwa einen Tag alt und befinden sich in einem weiter fortgeschrittenen Stadium der Verwesung—nicht aufgebläht, aber steif und ausgedörrt. Sie sind vielleicht einen Tag länger da als die Leichen der Zivilisten. Die Einheimischen wurden umgedreht und in unnatürlichen Posen der Leichenstarre überlassen, mit heruntergezogener Unterwäsche, mit freiem Blick auf riesige Schnittwunden aus der Zeit, als sie noch lebten und um Gnade bettelten—Verstümmelungen verursacht von Speeren und Bayonetten russischer Bauart. Einige der Körper liegen am Fluss, einem ragt ein abgebrochener Speer aus der Seite. Ein anderer scheint eingefroren, als ob er seine Peiniger noch immer anflehen würde aufzuhören. Ein Soldat liegt bis zur Unkenntlichkeit verkohlt da. Andere liegen halb versenkt im Fluss. Nur die Krokodile wissen, wie viele dort gestorben sind.