Warum Menschen am Land immer noch einen zweiten Nachnamen haben
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Warum Menschen am Land immer noch einen zweiten Nachnamen haben

Wo es Bauernhöfe gibt, sind normale Namen zweitrangig. Bauernfamilien haben sogenannte "Vulgonamen"—und sie tragen sie mit Stolz.

Wir alle haben unsere Spitznamen. Da gibt es das klassische i-Suffix—Michi, Steffi, Luki, Kati. Oder die abkürzende Variante—Manu, Flo, Alex, Chris. Da gibt es jene, deren Spitznamen originell klingen und irgendwie an ein (hoffentlich peinliches) Ereignis gebunden sind aber rein gar nichts mit ihren tatsächlichen Vornamen zu tun haben—so wie der Typ, den alle Curry nennen. Dann gibt es die, die sich selbst irgendwann McLovin getauft haben und das stur durchziehen.

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Und dann gibt es da noch etwas, das nur wir Bauernkinder haben und von dem ihr anderen vermutlich noch nicht mal gehört habt: Vulgonamen.

Am Land, da ist dein Vorname nicht weiter von Bedeutung. Nicht nur, weil es wahrscheinlich seit vier Generationen derselbe ist, sondern auch, weil ihn—abgesehen von deiner Familie und ein paar Freunden—absolut niemand jemals verwendet oder auch nur kennt. Dasselbe gilt eigentlich auch für deinen Nachnamen.

Am Land bist du nämlich weder du selbst noch deine Familie; du bist das Kind eines bestimmten Bauernhofs. Da bist du dann nicht mehr Josef, Anna oder Brigitte—da bist du der junge Focknbauer, das Schmiedn-Dirndl oder die Unterfercherin.

Wichtig ist dabei die korrekte Benennung der jeweiligen Generation. Gibt es etwa drei—und meistens gibt es drei—, so wird der Großvater vom Staudacher-Hof "Alter Staudacher" oder "Staudacher-Vater" genannt. Sein Sohn, also der amtierende Bauer, ist schlichtweg der "Staudacher", während dessen Sohn wiederum als "junger Staudacher" oder "Staudacher-Bua" zu betiteln ist.

Dasselbe Prinzip gilt auch für Frauen. Heiratet die junge Staudacherin aber den Anzengruber Sepp, so macht sie das zwar offiziell zur Anzengruberin, doch bleibt sie für immer eine Staudacher-Tochter. Generell kann der Vulgoname je nach Belieben zum Vornamen-Präfix degradiert werden, was zu besonders griffigen und individuellen Abwandlungen wie "Weber Mitzi", "Egger Tone" oder "Kletzmayr Willi" führen kann.

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Vulgonamen—auch Haus-, Hof- oder Genanntnamen—sind Namen für Bauernhöfe, die noch aus einer Zeit übrig sind, in der es keine Hausnummern gab. Im mitteleuropäischen Raum gibt es sie bereits seit dem Mittelalter, sogar länger als "Schreibnamen" (also Nachnamen) überhaupt verwendet wurden. Letztere ähneln sich am Land ohnehin öfter mal (Grüß euch, ihr Grubers, Winklers und Eggers!). Ein Vulgoname hilft da beim Unterscheiden.

In Österreich und Süddeutschland sind sie bis heute so weit verbreitet und anerkannt, dass sogar Telefonbücher, Briefköpfe und Grabsteine nicht ohne ein "vlg." auskommen. In der Stadt hingegen herrscht Verwirrung, wenn ich versuche, zu erklären, dass man mich in meinem Heimatdorf weder bei meinem Vor-, noch bei meinem Nachnamen nennt. Zuhause bin ich einfach der Hof, auf dem ich aufgewachsen bin.

Noisey sagt dir, wie du am Land von der Disco heimkommst.

Und der heißt "Schiachl". Demnach ist mein Vater der "Schiachl Franze", meine Mutter wurde durch die Heirat automatisch zur "Schiachlin" und mein Bruder und ich wurden kollektiv "Schiachl-Buam" gerufen. Als Kinder hat uns das oft zum Weinen gebracht, weil wir lange Zeit dachten, diese Frauen, die einen beim sonntäglichen Kirchgang immer die Köpfe tätscheln, würden uns "schirche Buben" schimpfen. Kinder sind dumm.

In der Regel gehen Vulgonamen—ähnlich wie ja auch reguläre Nachnamen—auf die Lage des Hofs, einstige Besitzer oder anderweitige Merkmale zurück. So wird etwa beim Eckschmied aller Wahrscheinlichkeit nach mal ein Schmied gehaust haben, während der Schattleitner, der alte Haudegen, wohl eine eher schattige Wiese für sich beansprucht hat. Über die Jahre hinweg werden die Namen durch die meist mündliche Überlieferung dann aber sprachlich so geschliffen und verformt, dass die ursprüngliche Bedeutung oft verwischt.

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Wie das traditionell so ist mit Traditionen, sind auch Vulgonamen eher im Gehen als im Kommen. Wird ein Bauernhof nicht weitergeführt, verschwindet damit auch der mit ihm verbundene Vulgoname. Sprachwissenschafter und Namenforscher Heinz-Dieter Pohl glaubt jedoch vor allem unter Jugendlichen am Land einen neuen Aufwärtstrend zu erkennen—demnach sei die Verwendung von Vulgonamen wieder "in".

Generell blickt er der Zukunft der Hofnamen entspannt entgegen: "Mit dem Rückgang des Bauerntums kommt es auch zum Rückgang der Vulgonamen. Viele zu Zweitwohnsitzen umfunktionierte Bauernhäuser und kleine Höfe setzen die Namen fort, aber bei weitem nicht alle. Ein Aussterben ist eher unwahrscheinlich." Auf die Frage, worauf denn nun mein eigener Vulgoname "Schiachl" zurückzuführen sei, weckt Pohl schließlich auch noch ein Kindheitstrauma in mir: "Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein sogenannter Übername eines wenig vorteilhaft aussehenden Menschen." Ich weine. Es war alles wahr. Kinder sind so schlau.

Die Kleine Zeitung befasste sich Anfang des Jahres bereits intensiv mit Vulgonamen, woraus eine interaktive Karte Österreichs mit von Lesern eingesandten Namen und den dazugehörigen Hintergründen hervorging. Das Wichtigste, das wir von Vulgonamen lernen können, ist aber wahrscheinlich, dass der Stoascheißer Koarl vielleicht besser einen Arzt aufsuchen sollte; zumindest in dritter Generation.

Aber ernsthaft: Ein Vulgoname ist mehr als nur eine austauschbare Bezeichnung auf einem Ausweis. Ein Vulgoname ist nichts, das man einfach hat. Nichts, das man einfach so ändern oder abwandeln kann. Ein Vulgoname ist das, was man ist—ob man nun will oder nicht. Ein Vulgoname ist Familie; die Geschichte einer Bauern-Dynastie, von der wir abstammen. Ungefähr so wie individuelle Adelstitel, über die man sich am Land definiert. Und wir tragen sie mit Stolz, auch wenn sie vielleicht nicht immer so lässig klingen wie McLovin oder Curry.

Der junge Schiachl auf Twitter: @FranzLicht