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Popkultur

Zwei Unterhaltungen mit 'Mud'-Regisseur Jeff Nichols

Nichols hat einen Ruf als Autor und Regisseur starker Dramen mit Südstaaten-Flair. Wir haben mit ihm über seinen neuen Film 'Loving', die problematische Geschichte der USA und die Zusammenarbeit mit Charakterdarsteller Michael Shannon gesprochen.

Aus der They Come Out at Night Issue

Bei der Weltpremiere seines Films in Cannes diesen Frühling trug Jeff Nichols Cowboystiefel zu seinem Smoking. Er stand am Rande der Party und begrüßte Gratulanten aus einer dunklen Ecke. Die blauen Augen des hochgewachsenen Regisseurs strahlten aus seinem jugendlichen Gesicht, die Körpersprache war offen. Aufrichtigkeit und hellwache Intelligenz konnte man darin erkennen. Für einen international gefragten Filmemacher auf dem Höhepunkt seines Ruhms wirkte er unheimlich bodenständig.

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Nichols, ein Sohn des US-Staats Arkansas, stand auf dem mit Zelten übersäten Strand vor einem der teuren Hotels von Cannes, während um ihn herum herausgeputzte Branchengrößen Zigarre rauchten und Journalisten nach Kellnern mit Rosé Ausschau hielten. Man stellte mir den Loving-Regisseur kurz vor, wobei mir die Stiefel auffielen, die eindeutig mehr nach Arkansas als nach Côte d'Azur aussahen. Aus dieser Schuhwahl sprach eine gewisse Selbstsicherheit und Verspieltheit. Die eleganten Wingtip-Brogues seines Gesprächspartners, des Indie-Produzenten Jamie Patricof, lieferten einen prägnanten Kontrast dazu. Nichols und ich unterhielten uns über unsere liebsten BBQ-Restaurants in den Südstaaten, während Patricof unbeholfen versuchte mitzureden. Nichols lebt in Austin, Texas, und verriet mir, er liebe das Franklin Barbecue, das mindestens einer Soße Kaffee beimische.

Nichols ist der einzige Regisseur, dessen Filme dieses Jahr auf drei der fünf größten Filmfestspiele liefen (Berlin, Cannes, Toronto). Sein neuestes Werk, Loving, über eine "Mischehe" zur Zeit der Rassentrennung, könnte möglicherweise Nichols' erster Oscar-Anwärter werden. Sein zweiter und dritter Spielfilm, Take Shelter und Mud, wurden schon an der französischen Riviera gezeigt, womit Nichols zu der exklusiven Gruppe von Regisseuren gehört, die ihre Werke regelmäßig in Cannes vorstellen.

Loving ist der zweite Film, den Nichols dieses Jahr veröffentlicht hat, und insgesamt sein fünfter. Er erzählt von dem Paar Mildred und Richard Loving aus Virginia, deren Fall 1967 dazu führte, dass der Oberste Gerichtshof der USA endlich die Gesetze gegen Mischehen abschaffte. Bei der Vorstellung in Cannes gab es Standing Ovations. Der Australier Joel Edgerton (Der große Gatsby, The Gift) spielt in Loving Richard, die äthiopisch-irische Ruth Negga (Warcraft: The Beginning) spielt Mildred, und wie die meisten Filme aus Nichols' Feder spielt der Film in den Südstaaten.

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"[Der irische Dichter] Yeats hat sich viel damit beschäftigt. Er hat die irische Kultur und irische Mythen geliebt, aber manchmal fand er auch die Menschen sehr begriffsstutzig", sagt mir Nichols ein paar Monate nach Cannes in einem Hotelzimmer in Kanada. Es ist Herbst und gestern hat sein Film auf dem Toronto International Film Festival vor der näher rückenden Filmpreissaison noch einmal einen starken Auftritt hingelegt. "Genauso empfinde ich in Bezug auf die Südstaaten. Ich liebe sie. Ich fühle mich dort sehr wohl. Ich fühle mich sehr wohl damit, in dieser Sprache zu schreiben. Aber man ist auch mit vielen Realitäten konfrontiert …" Nichols hält inne und bemüht sich anscheinend, nicht "Sklaverei", "Rassismus", "Folter" oder "Protest" zu sagen, bevor er abschließt: "… die sich in der Geschichte unseres Landes abgespielt haben."

Nichols sagt, er identifiziere sich am stärksten mit Mildred Loving, der jungen schwarzen Frau, die mit ihrem weißen Mann in Washington, D.C., im Exil lebte und sich in die Südstaaten zurücksehnte. Mildred, die 2008 verstarb, wuchs in Central Point in Virginia auf, wo zu Zeiten der Rassentrennung ein relativ freier Umgang zwischen Menschen verschiedener Hautfarben möglich war und weniger Spannungen herrschten als anderswo. Nur das Heiraten war ihnen dort trotzdem verboten. Mildred bestand immer darauf, in ihre Heimat zurückzukehren. "Dieser ganz spezielle Ort ist ihr sehr, sehr wichtig. Und das kann ich nachvollziehen", sagt Nichols und fügt hinzu, der Film gehe ihm dank seiner Südstaatenwurzeln besonders nahe. "Wo man herkommt, das ist mehr als nur ein Fleck auf der Karte. Es bestimmt einen so großen Teil unserer Identität. Ich weiß, dass das bei Mildred so war, und bei mir ist es auch der Fall."

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Director of Photography Adam Stone, der schon seit Jahren mit Nichols zusammenarbeitet, ist bei Loving mit großer Bedacht vorgegangen. Der Film ist nicht protzig. Kinematografisch und darstellerisch übt er sich in Zurückhaltung. Es gibt kaum große Monologe. Als der Fall vor den Obersten Gerichtshof geht, sind die Lovings nicht anwesend. Edgerton und Negga verkörpern die Lovings als Menschen, denen es nicht ums Prinzip geht. "Das ist selten", sagt Nichols. "Meist haben die Leute eine Agenda, sind unzufrieden, oder sie wollen eine gewisse Ideologie verbreiten. Die beiden hatten so etwas nicht." Es scheint dem Filmemacher wichtig zu sein, genau diese Geschichte zu erzählen, vor allem in dieser Zeit des Aufruhrs und des aggressiven Populismus. Die beherrschte Art der Hauptfiguren wirkt fast wie das Gegenstück zur aktuellen Stimmung in den USA.

"Vielleicht gehe ich daran zugrunde. Aber ich will wenigstens einen Film drehen, der Teil des Zeitgeists wird."

Nichols hat sich schnell einen Ruf als Regisseur ungewöhnlicher amerikanischer Dramen gemacht, die ein unverkennbares, regionales Flair bieten. Sein erster Film, Shotgun Stories (2007), spielt im ländlichen Arkansas und war ein Kritikerliebling mit kleinem Budget. Schon hier begann seine Zusammenarbeit mit Michael Shannon, der in seinen ersten beiden Filmen die Hauptrolle spielt und in den restlichen wichtige Nebenrollen bekleidet. "Auf mich wirkte er einfach extrem lebensecht, und er brachte einen sehr natürlichen Südstaatenakzent zustande, was nur wenige können", sagt Nichols über Shannon, der aus Lexington in Kentucky stammt. Tatsächlich schrieb Nichols mit 23 seine Shotgun Stories—die er erst Jahre später verfilmen konnte—Shannon auf den Leib. "Das hat eine Verbindung fürs Leben zwischen uns geschaffen. Ich bin ihm was schuldig und, äh, er schuldet mir nicht so viel. Woran er mich auch gern öfter erinnert. Aber inzwischen hat es sich gewandelt. Jetzt sind wir wie Brüder."

Als die beiden 2011 wieder zusammenarbeiteten, hatte Shannon schon für Zeiten des Aufruhrs (2008) eine Oscar-Nominierung bekommen. In Nichols' Film Take Shelter (eine von Shannons Glanzleistungen) spielt er einen jungen Ehemann und Vater im ländlichen Ohio, den apokalyptische Visionen eines drohenden Sturms plagen. Die psychische Krankheit hängt als Schatten über der Handlung, und Shannons intensive Szenen hysterischer Manie bilden einen bemerkenswerten Kontrast zu der greifbaren emotionalen Intimität zwischen ihm und seiner Frau, von Jessica Chastain gespielt. Solche Darbietungen verlangen den Mitwirkenden viel ab. "Mit Mike zu arbeiten ist nicht mühelos", sagt Nichols über seinen künstlerischen Partner. "Es gibt Dinge, die wir austüfteln und klarkriegen müssen. Aber dieser Prozess hat eigentlich immer eine sehr positive Wirkung."

Trotz Shannons herausragenden Schauspielleistungen und den positiven Kritiken, die Nichols Filme ernteten, ist Mud bisher der einzige kommerziell erfolgreiche Kinohit des Regisseurs. Nichols hofft offensichtlich, dass Loving, ein stilles Drama, das genau recht zur Filmpreissaison kommt und von nicht allzu prominenten Leuten handelt, daran etwas ändern kann. Zwar weiß er noch nicht, was als Nächstes kommt, doch er verrät mir, er würde gern auf einer größeren Leinwand arbeiten—ohne seine eigenen Vorstellungen aufzugeben. "Ich möchte einen großen, kommerziellen Film drehen", sagt er, als sich unser Treffen dem Ende zuneigt. "Vielleicht gehe ich daran zugrunde. Aber ich will wenigstens einen Film drehen, der Teil des Zeitgeists wird."

Gerade als unser Gespräch sich in hochgeistige Gefilde aufschwingt, taucht Michael Shannon im Hotelzimmer auf, in fast kniehohen blauen Strümpfen, Turnschuhen und Bermudashorts. "Für wen ist das Filmemachen schwieriger, für den Hinterwäldler oder das Landei?", bellt er Nichols zu, was das Interview zu einem abrupten Ende bringt. Eine Publizistin taucht hinter ihm auf, um mich wissen zu lassen, dass meine Zeit um ist, doch Shannon hat das schon erledigt. Er hat selbst vor, ein Interview zu machen. Nichols lacht und die beiden fangen an herumzualbern. Shannons erste Frage bleibt unbeantwortet, doch das scheint ihn nicht zu stören.

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