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Wie Fundamentalismus und Rassismus sich gegenseitig aufbauen

Die extreme Rechte und der islamische Fundamentalismus spielen einander in Europa perfekt in die Hände. Wir sagen euch, warum das so ist.
Foto von VICE Media

Lest hier alles rund um den Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris: #JeSuisCharlie

Nach den Anschlägen in Paris werden mit Sicherheit zumindest vier Dinge geschehen: 1. Die extreme Rechte wird die Anschläge benützen, um ihre Hetze gegen alle Menschen aus dem islamischen Kulturkreis zu intensivieren. 2. Die Staatsapparate werden die Anschläge als Vorwand nehmen, um ihre Aufrüstung weiter voranzutreiben. 3. Der Großteil der muslimischen Menschen wird genauso geschockt sein wie alle anderen, gleichzeitig zunehmend entnervt von der permanenten Forderung nach einer Distanzierung von etwas, mit dem sie nichts zu tun haben. Und 4. wird der Zulauf von muslimischen Jugendlichen zu fundamentalistischen Kräften zunehmen, nicht zuletzt als Reaktion auf die immer stärker ablehnende Haltung der Mehrheits-Gesellschaft ihnen gegenüber. Somit schließt sich der Kreis: denn Rechtsextreme und FundamentalistInnen spielen einander perfekt in die Hände.

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Auf einer Gedenkkundgebung zum Charlie Hebdo-Anschlag in Wien. Foto: VICE Media

Faschismus und Fundamentalismus sind auf vielen Ebenen (gar nicht so) ungleiche Geschwister. Beide zielen auf eine Diktatur ab, wo gesellschaftliche Eliten ohne demokratische Störungen ihren Geschäften nachgehen können. Beide wenden sich gegen religiöse und/oder ethnische Minderheiten und verwenden diese als Sündenbock. Und beide sind erklärte Feinde der Egalität, der Aufklärung sowie der Linken. Auch historisch betrachtet waren sowohl Faschismus wie Fundamentalismus oftmals reaktionäre Rammböcke gegen fortschrittliche Ideen. So zerschlugen in Deutschland, Österreich oder Spanien in den 1930ern die FaschistInnen die ArbeiterInnenbewegung und ermordeten ihre AktivistInnen. Im Iran ab 1979 oder in Afghanistan in den 1980ern übernahmen die FundamentalistInnen genau den gleichen Job.

Doch besonders der Rechtsextremismus und der Fundamentalismus bedingen einander heute im gesellschaftlichen Diskurs in Europa. Der Rechtsextremismus benutzt fundamentalistische Anschläge, um seine Hetze gegen alle Muslime fortzusetzen. Der Fundamentalismus verwendet diese rassistische Hetze dann als willkommenes Argument, um zumeist völlig desillusionierten Jugendlichen eine neue Perspektive aufzuzeigen. Der aktuelle Anschlag in Paris wird genau diesem Muster folgen. Die französische extreme Rechte des Front National mit ihrer Führerin Marine Le Pen wie auch die FPÖ in Österreich werden nun den öffentlichen Diskurs gegen Muslime nochmals vorantreiben, unterstützt von Regierung und Boulevard. Gleichzeitig werden militante FaschistInnen muslimische Einrichtungen attackieren. In Frankreich gab es am Tag nach dem Anschlag bereits Schüsse auf Moscheen, in Wien wurden muslimische Gebets-Räume mit rassistischen Kommentaren besprüht.

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Foto mit freundlicher Genehmigung von: Tuna-Moschee

Genau das wiederum ist Wasser auf die Mühlen der FundamentalistInnen, die mit solchen Anschlägen gut argumentieren können, dass sich der Hass der Gesellschaft ohnehin gegen alle Muslime richten würde und so neue Rekruten gewinnen.

Der Jugendarbeiter Michael Egnur (Name von der Redaktion geändert) sagt dazu: „In einem bestimmten Alter probieren Jugendliche Identitäten und Rollenbilder. Jugendliche aus dem muslimischen Kulturkreis, die gesellschaftlich enorm benachteiligt sind, haben dabei nicht sehr viele Rollenbilder, die sie erfüllen können, erfahren aber gleichzeitig permanent Diskriminierung. Jeder Anschlag auf eine Moschee wird so zu einer Steilvorlage für die Fundamentalisten." Er erzählt weiter: „Die Jugendlichen sind oft keineswegs gefestigt, da werden oft gleichzeitig auf Facebook Postings des Islamischen Staats geliket und die Simpsons. Für die Jugendlichen geht sich das gut aus, denn es gibt keine stringente Ideologie. Doch je mehr Diskriminierung auf die Jugendlichen wegen ihrer Herkunft ausgeübt wird, desto mehr verfallen sie in einen durchaus nachvollziehbaren Trotz und dann in eine Rechtfertigung von fundamentalistischen Positionen."

Es geht dabei keineswegs nur um den offenen Rassismus, sondern auch um sogenannte „islamkritische" Bewegungen, die breite gesellschaftliche Akzeptanz erfahren. Die FPÖ oder Pegida sind dabei nur die Spitze eines Eisbergs, der „Islam" sagt, aber meistens „Migration" denkt. Immer wieder werden MigrantInnen, gerade aus dem islamischen Kulturkreis, als Sündenböcke benutzt. Als sich etwa Flüchtlinge in Österreich 2012 selbst organisierten, behauptete ÖVP-Innenministerin Mikl-Leitner prompt, dass es sich dabei um Schlepper handeln würde und trat kurz vor der Nationalratswahl eine Asyl-Debatte los, um die Flüchtlinge zu diskriminieren. Die Vorwürfe brachen beim Prozess im Herbst 2014 weitgehend in sich zusammen, doch die Botschaft war angekommen.

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Dieses diskriminierende Klima führt dann zu Absurditäten wie einem Berufschuldirektor in Wien, der SchülerInnen mit einem muslimischen Kulturhintergrund den Besuch des Stephansdoms verbietet.

Jeder Mensch, der ein wenig nachdenkt, kann sich denken, was solche Aktionen bei betroffenen Jugendlichen auslösen können. (Im Konkreten ging die Sache übrigens sehr positiv aus, alle Jugendlichen der Klasse haben gemeinsam einen Protest-Brief gegen diese Diskriminierung verfasst.)

Ja, manche Menschen haben tatsächlich Angst, etwa vor Anschlägen. Und diese Angst ist auch wahr- und ernstzunehmen. Gleichzeitig muss aber auch gesagt werden, dass etwa in Österreich jedes Jahr viele tausend Menschen durch Nikotin, Alkohol, Feinstaub oder Autos ums Leben kommen, einige auch durch rassistische Morde, aber niemand durch fundamentalistische Anschläge. Es geht also nicht immer um tatsächliche Gefahren, es geht auch darum, wie Gefahren jeweils auch medial und politisch dargestellt werden.

Es sollte allen klar sein: Diejenigen, die in Europa Anschläge verüben, sind meistens hier geboren oder haben einen Großteil ihres Lebens hier verbracht. Es sind keine MarokkanerInnen, AlgerierInnen oder TschetschenInnen, sondern SpanierInnen, FranzösInnen oder ÖsterreicherInnen. Und gleichzeitig leben sie in einer Gesellschaft, wo sie offenbar so wenige Perspektive sehen, dass für manche sogar das Leben im Bürgerkrieg in Syrien attraktiver erscheint als das Weiterleben in Europa. Das macht die Taten dieser Menschen nicht besser und ist auch keine Rechtfertigung. Doch es sollte zu denken geben und es ist wesentlich, sich mit Hintergründen und Ursachen auseinanderzusetzen. Und diese liegen zu einem guten Teil in einer gesellschaftlichen Situation, wo Menschen mit bestimmten Namen oder einer dunkleren Hautfarbe bei der Job-Suche, bei der Wohnung-Suche oder im Alltag permanent Diskriminierungen erfahren.

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Die Anschläge in Paris wendeten sich gegen ein Satire-Magazin. Und, ja, Satire darf vieles. Gleichzeitig existiert auch Satire nicht in einem neutralen Raum und manchmal ist die Gratwanderung zwischen Satire und einem schlicht in humorige Form gebrachten Rassismus schmal (auch die FPÖ könnte sonst behaupten, dass ihre rassistischen Comics, die sie bei Wahlkämpfen unter Jugendlichen verteilt, einfach satirisch sind). Eine bestimmte Sensibilität in diesem Punkt ist besonders dann relevant, wenn die Satire von gesellschaftlich privilegierten Gruppen ausgeht und sich gegen weniger privilegierte Gruppen wendet. Im Oktober 2014 etwa titelte Charlie Hebdo: „Die Sexsklavinnen von Boko Haram in Wut: Greift unsere Beihilfen nicht an."

Die Frage, ob das Satire ist oder schlicht plumper Rassismus, darf gestellt werden. Und es darf die weiterführende Frage gestellt werden, welche Gefühle es gerade bei nicht-fundamentalistischen MuslimInnen in Frankreich auslösen wird, wenn die weiblichen Opfer der islamischen Fundamentalisten von Boko Haram in Nigeria mit rassistischen Zeichnungen bezichtigt werden, sich nach Vergewaltigungen vor allem um ihre Familienbeihilfe zu sorgen. Aber das rechtfertigt in keiner Weise und in keinem Wort die Anschläge von Paris. Es zeigt schlicht exemplarisch die Problematik eines medialen Diskurses auf, in dem die bürgerliche Mitte Bilder übernimmt, die auch der extremen Rechten zugeordnet werden könnten und gleichzeitig der Fundamentalismus genau in Abgrenzung zu diesen Bildern argumentieren, rekrutieren und aufbauen kann.

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Der islamische Fundamentalismus argumentiert religiös—und ähnelt damit interessanterweise seinem Gegenstück. Ein Heinz-Christian Strache, der mit einem Kreuz wedelt, ist noch gut in Erinnerung und auch Pegida argumentiert mit dem christlichen Abendland. Tatsächlich ist den meisten Religionen gemeinsam, dass sie einen Missions-Auftrag und einen Alleinvertretungs-Anspruch haben. Das gilt genauso für das Christentum wie für den Islam. Sogar in Europa oft gehypte fernöstliche Religionen wie etwa der Buddhismus sind hier keineswegs besser. So kam es etwa in Myanmar und Sri Lanka in den vergangenen Jahren immer wieder zu Ausschreitungen von buddhistischen Mönchen gegen die muslimischen Minderheit. In Myanmar tötete der buddhistische Mob dabei allein im März 2013 zumindest 40 Menschen.

Der Bezug auf religiöse Schriften ist dabei allerdings immer sehr beliebig. Genauso wie mit der Bibel lässt sich auch mit dem Koran sehr vieles be- und widerlegen. FundamentalistInnen und Rechtsextreme zitieren oft jene Suren, die besonders kriegerisch klingen, doch finden sich im Koran genauso Passagen, die das genaue Gegenteil sagen und sich etwa explizit gegen die Tötung von Menschen aussprechen. In der Bibel finden wir sowohl die Jesus-liebt-Dich-Botschaft wie den Massenmord, den der christlich-jüdische Gott in Sodom und Gomorra angerichtet haben soll. Letztlich sind all diese Bücher Produkte einer historischen Zeitspanne, die jeweils dazu benutzt wurden, das zu unterstützen, was gerade passend und wünschenswert erschien. Und in Wirklichkeit sind all diese Schriften auch für die Rekrutierung kaum relevant. Junge Muslime in Europa etwa politisieren sich kaum über ihre Koran-Lektüre, sondern weit mehr über ihre alltäglichen Erfahrungen und Erlebnisse. Und wie VICE on HBO zeigte, sind junge Selbstmordattentäter nicht selten Analphabeten, die von reaktionären Predigern beeinflusst werden und mit den Glaubensinhalten des Koran überhaupt nicht vertraut sind.

Die Wiener Publizistin Tyma Kraitt, die selbst in Bagdad geboren ist und sich viel mit der Situation von Jugendlichen aus der zweiten und dritten Generation auseinandergesetzt hat, sagt dazu: „Es gibt ein enormes Ausmaß von Verunsicherung bei Menschen aus dem islamischen Kulturkreis. Die Fundamentalisten stoßen hier in ein politisches Vakuum und lenken die Verunsicherung hin zu Themen wie Identität und Religion. Die soziale Frage und die wirtschaftliche Krise werden nicht behandelt. Hier schließt sich dann auch der Bogen vom Rechtsextremismus, etwa einer Pegida, zum Fundamentalismus." Kraitt betont, dass die Anschläge auch Menschen aus dem islamischen Kulturkreis enorm schaden. Durch solche Attentate wird ihre Situation in Europa noch schwieriger. Sie sagt, dass die Fundamentalisten das ganz bewusst in Kauf nehmen, um unter anderem besser rekrutieren zu können.

Aber wie können und sollen wir nun mit dem fundamentalistischen Terror und der extremen Rechten umgehen? Entscheidend ist das Verständnis, wie sehr diese beiden Strömungen einander in vielem gleichen. Gleichzeitig ist die extreme Rechte Ausdruck eines Wohlstands-Chauvinismus der Mehrheit, während der islamische Fundamentalismus in weiten Bereichen Europas eine reaktionäre Antwort von nicht ganz so gutgestellten Minderheiten darstellt. Das macht ihn nicht besser, doch daraus ergeben sich Ansatzpunkte für den Umgang mit dieser Bewegung und ihre Attraktivität für junge Menschen. Wer also heute tatsächlich den Fundamentalismus bekämpfen will, der kann das nur tun, indem er oder sie ein klares Bekenntnis gegen Rassismus und Diskriminierung abgibt.

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