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Der implizite Autor

Wie jeden Sonntag unsere Literaturkolumne von Pippin Wigglesworth.

Wie jeden Sonntag unsere Literaturkolumne von Pippin Wigglesworth.

Ich war ziemlich beleidigt als Reger, der verurteilende Kunstkritiker und Protagonist aus Thomas Bernhard's Alte Meister sagte: "Wer alles liest, hat nichts begriffen". Man müsse, sagte Reger weiter, nicht den ganzen Goethe lesen; ein paar Seiten Werther, ein paar Seiten Wahlverwandtschaften und man wisse am Ende mehr, als wenn man die Werke von vorne bis hinten gelesen hätte. Der lesende Mensch, so Reger, sei "auf die widerwärtigste Weise gefrässig" und verderbe sich "wie der fleischfressende den Magen und die gesamte Gesundheit, den Kopf und die ganze geistige Existenz".

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Was Reger aber nicht ahnte und wohl auch nicht wissen will: dass ich es mir eingeprägt habe, angefangene Bücher ohne Ausnahme zu Ende zu lesen, der letzten Seiten, oder der letzen Worte wegen, die allem was sinnlos schien, Sinn geben und grosse Qualen wiedergutmachen können. Also aus einer Art weicher Menschlichkeit heraus, die Reger offenbar fehlt. Ich mag diesen Reger nicht und doch hat seine Rede mich darauf gebracht, es beim Lesen mit Konzentration zu versuchen. Ich begann, indem ich übertrieb: Lesen mit grösster punktueller Konzentration, aber von Anfang bis Ende. Eine Aufgabe, der nicht zu beizukommen war, denn das Lesen fand gar nicht mehr statt, es wurde zu einem harten Anschauen der Worte, und zum ins Gericht gehen mit jeder Wahrnehmung, dabei verloren die Gedichte von Ernst Jandl, mit denen ich dies versuchte, ihren ganzen Witz. Nein, ich mag diesen Reger wirklich nicht, und was er mir in den Kopf setzte, war wohl nicht mehr, als ihm zu widersprechen.

Zum Glück bin ich aber nicht allein auf Reger angewiesen, da ist nämlich auch noch Irrsigler, eine weitere Figur aus Alte Meister, ein Museumswärter, als Dummkopf, so Reger, geboren, aber von ihm, also von Reger, der seit Jahren Tag für Tag ins Museum geht, zu einem Menschen erzogen, wenn auch dessen Bildung nur eine von Reger kopierte und nachgeplapperte Bildung ist. Irrsigler ist aber nicht ohne Eigenschaften. Jene, die er hat, verwendet er, um Reger nachzukommen. So verhält sich auch der Leser mit dem Text, während er liest.

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Zunächst lässt er seine Vorstellungskraft ein bisschen spinnen, oder eben plappern, erst dann tritt, nach und nach, das der Lektüre in Erscheinung, das zu begreifen wäre. Die Augen tasten Worte ab, die Erinnerung ruft dazu Bilder auf, während die äussere Umgebung verblasst; der Geist öffnet sich und die Bilder beginnen sich zu bewegen um den Text mit epischem Stil zu versehen. So wie Irrsigler Reger nachplappert, plappert die Fantasie des Lesers dem Text nach, und zwar gerade so gut, wie sie ihn, der ja wie Reger ohne Alternative ist, zu interpretieren vermag. Der Leser liest durch seinen inneren Irrsigler, durch seine "widerwärtige Gefrässigkeit", er lässt sich gehen, unterwirft seine Vorstellung ganz der Handlung - so sehr, dass wenn der Text vorbei ist, auch die Vorstellung vorbei ist. Was dann nachhallt ist ein Schmerz, der nicht mit dem Text, sondern mit dem Schmerzhaften im Leben des Leser zu tun hat, das leider viel zu schnell zurückkehrt. Nach dem Lesen sitzt der Leser da wie Reger, der arme, auf seiner Bank im Museum, wo er die alten Meister verachtet und seiner verschiedenen Frau nachtrauert.

Es wird aber noch besser, denn Thomas Bernhard hat uns auch Atzbacher gegeben, der sowohl Reger als auch Irrsigler beobachtet, und aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird. Atzbacher nun, oder der innere Atzbacher, ist unentbehrlich für jeden Leser der nicht nur wie Irrsigler plappern, sondern so wie Reger, den man doch ein bisschen bewundern muss, auch etwas begreifen will. Früher wurden Astronauten für viele verzwickte Situationen im All trainiert. Dafür wurden sie in rüttelnde, rotierende und in verschiedene Richtungen beschleunigende Sessel gesetzt, wobei sie beweisen sollten, dass sie trotzdem Probleme lösen, also "nachdenken" und "begreifen" können. Die Astronauten lösten ihre Probleme relativ einfach durch wahnsinnige Konzentration, und indem sie die chaotischen Umstände so gut es ging ignorierten. Dies könnte übersetzt bedeuten, dass Nachdenken nur stattfinden kann, wenn die Lektüre ignoriert wird, oder anders herum, dass Lesen nur stattfindet, wenn nicht nachgedacht wird. Gäbe es nur Reger und Irrsigler wäre dies tatsächlich so: Nachdenken und Lesen würden sich ausschliessen. Aber es gibt Atzbacher, und er hat Zeit nachzudenken. Während der Leser bei jeder Lektüre an einen Reger herantritt, der ihn durch seinem Vortrag mitreisst, lässt er dem seinen innerer Irrsigler nachgehen, während er seinen innerer Atzbacher im Hintergrund selbständig nachdenken und ihm ab und zu den Kopf heben, den irrsiglerschen Speichel abwischen, und zu einer Einsicht kommen lässt.

Da Reger kein Leser ist, sondern Text, kann er sagen was er will, er kann soviel oder so wenig Goethe lesen wie er möchte, wichtig ist nur, wenn wir alte Meister lesen, dass das sowohl Reger, als auch Irrsigler und unbedingt auch Atzbacher, anwesend sind, und, dass der unvermeidliche Hass auf Reger, also auf das den inneren Irrsigler Beleidigende jeder gründlichen Lektüre, schliesslich zu einer Verliebtheit führt, in Thomas Bernhard, oder überhaupt, in die Literatur.

Alte Meister, Thomas Bernhard, Suhrkamp

Gedichte über Gedichte, Ernst Jandl, Reclam