AC Mailand—ein Schatten seiner selbst

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mamma mia milan

AC Mailand—ein Schatten seiner selbst

Der einst so stolze AC Mailand kriecht nur noch im Mittelmaß herum. Selbst Silvio Berlusconi will den Verein verkaufen. Wir waren in der Casa Milan und haben uns einen eigenen Einblick darüber verschafft, was bei den Milanisti alles falsch läuft.

Weißer Kies, die Sonne scheint. Vögel zwitschern.

„Genau so haben wir es für sie bestellt", erklärt der Mitarbeiter des AC Mailand und bittet ins Allerheiligste des großen italienischen Klubs: das Trainingszentrum Milanello. Etwas nördlich vor den Toren der Stadt liegt diese Mischung aus zu groß geratenem Jagdsitz und moderner Festung. Hohe Zäune, überall Kameras und viele fleißige Mitarbeiter, die die Gäste zwar stets höflich, aber doch sehr bestimmt durch das Herz des AC Milan dirigieren.

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Draußen auf dem Parkplatz stehen die dicken Karossen von Trainer Filippo Inzaghi und einigen Spielern. Auch wenn keine Übungseinheit ansteht—das Milanello ist mehr als nur Traingszentrum—es ist auch ein Stück Zuhause. Doch nach der erbärmlichen Vorstellung im San Siro am Vorabend und der 1:3-Pleite gegen den FC Genua hängt der Haussegen gehörig schief. Vielmehr, die Schieflage nähert sich katastrophalen Ausmaßen.

Ex-Stürmer und Milan-Ikone Inzaghi steht als Trainer zur Debatte, die Mannschaft rebelliert gegen den Coach und wird angesichts Tabellenplatz zehn von der Presse zerrissen. Und noch viel schlimmer: Die Fans haben keinen Bock mehr auf ihr Team.

La Familia Rossoneri steckt in der Krise. Was den Klub einst ausmachte—das Verschworene, das Pflegen der alten Seilschaften und stets ein Platz für verdiente Spieler im Klub—wird zum Boomerang. In den letzten gut 25 Jahren trugen sieben der zwölf Mailänder Trainer auch das Trikot des AC und verinnerlichten das Sieger-Image des Vereins. 18 Mal reckte Milan den Scudetto in die Höhe, fünf Pokalsiege, sieben Triumphe im Europapokal der Landesmeister bzw. der UEFA Champions League vereint der 1899 gegründete Klub auf sich.

Der AC Milan—einst klang das wie Musik in den Ohren von Fußball-Puristen. Unter den großen italienischen Vereinen haben die Rossoneri weltweit die meisten Fans angezogen. Der AC Mailand strahlte immer eine Erhabenheit im italienischen Fußballzirkus aus. Während Inter unter Angelo Moratti zum identitätslosen Millionengrab verkam und Juventus immer eine sehr italienische Angelegenheit blieb und einen hässlichen Wettskandal samt Zwangsabstieg in den Annalen mitschleppt, schien der AC von Skandalen und gröberen Fehltritten verschont.

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Doch die glorreichen Zeiten liegen mittlerweile weit zurück. Den letzten Meistertitel gab es 2011 zu feiern, die Champions League gewannen die Rossoneri unter Trainer Carlo Ancelotti—einst ebenfalls AC-Spieler—zuletzt 2007 in Athen. Im aktuellen Aufgebot kann niemand von dieser Nacht der Helden, von Milan im siebten Himmel, berichten. Verteidiger Daniele Bonera stand nicht im Kader, Torhüter Christian Abbiati war an den FC Turin ausgeliehen. Alle Helden von damals sind weg, außer Pippo Inzaghi. Der Doppeltorschütze von Athen, der den AC nach dem irren Finale-K.o. zwei Jahre zuvor—ebenfalls gegen Liverpool—rächte.

Vorbei die Zeiten der alten Recken Paolo Maldini, Franco Baresi oder Alessandro Costacurta, die bis weit ins hohe Alter für ihren Klub, für ihre Familie, die Schuhe schnürten. Vorbei die Zeiten, als Ex-Präsident und Noch-Eigentümer Silvio Berlusconi die Vorstellung der Mannschaft mit einem Hubschrauber inszenierte und Geschäftsführer Adriano Galliani Sätze prägte wie: „Il Milan ai Milanisti"—Milan den Mailändern.

Vorbei auch die Zeiten, als das San-Siro-Stadion ein Hexenkessel mit verrückten Tifosi war, die gegen jeden Gegner Gift und Galle spuckten und den Feind ganz allein verjagen wollten und konnten. Gegen Genua verlieren sich nicht mal 26.000 Zuschauer im ehemaligen Tempel der Rossoneri, ein erbärmlicher Anblick in einem Stadion mit 80.000 Plätzen. Die Milanisti, die trotzdem gekommen sind, senden aus der Curva Sud eine klare Botschaft: BASTA! Schluss! Genug! Ein letzter empörter Appell, geformt durch die Zuschauer auf der Tribüne.

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Der AC Milan hat sich zu dem entwickelt, was Blumentopf und Günther Sigl im Song Rosi besingen: „Sie ist ein abgefucktes, altes Wrack, doch in den 80ern, da trug sie Edelpumps und teuren Nagellack… Sie war Sünde pur, sie war Rock 'n' Roll, sie war die Königin der Nacht. Rosi, was hat die Zeit aus dir gemacht?"

Und genau wie keiner mehr Bock auf Rosi und ihren Atem „Marke Untote" hat, so hat auch Berlusconi keine Lust mehr auf sein einstiges Prestigeobjekt. Fast gleichzeitig mit der Verkündung des riesigen Haushaltsdefizits von über 90 Millionen Euro im abgelaufenen Geschäftsjahr wurde bekannt, dass Berlusconi seine Anteile am Verein verkaufen will.

Gut 500 Millionen würde das in die Kassen des Familienkonzerns Fininvest spülen, die Interessenten stehen Schlange. Eine Einigung soll bereits gefallen sein. Der thailändische Bankier Bee Taechaubol wird wohl den Zuschlag bekommen und verkündete am vergangenen Wochenende: „Ich freue mich darauf, ein Teil der Geschichte des AC Milan zu werden. Das ist ein legendärer Verein mit vielen Anhängern weltweit, auch in meinem Heimatland. Sobald der Deal endgültig unter Dach und Fach ist, werden wir die Ärmel hochkrempeln und uns an die Arbeit machen."

Bis die Ära Berlusconi nach 29 Jahren und 28 Trophäen endgültig vorbei ist, versuchen sich die Milanisti derweil selber aus dem Morast zu ziehen. Während das sportlich gehörig misslingt—die internationalen Plätze werden auch 2014/15 klar verpasst—wurden zumindest die neue Geschäftsstelle Casa Milan und das dazugehörige Vereinsmuseum eingeweiht. Es soll das moderne, das neue und transparente Milan repräsentieren. Viel Glas, mehr Offenheit und keine Geschäftsstelle mehr im dritten Stock eines Wohnhauses ohne Schild an der Eingangstür.

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In all das Chaos hinein präsentiert Milan dann auch noch die Pläne für ein neues Stadion.

Kleiner, schicker, ein echtes Schmuckkästchen. Fast so wie in—oh Gott, es schmerzt so sehr es zu sagen, aber es geht nicht anders—ja, fast so wie in Turin. Denn auch der große Rivale Juventus musste sich neu erfinden und hat den schmerzhaften Cut mit kleinerem Stadion hinter sich.

Die „alte Dame" Juve hat sich in dieser Saison den Scudetto schon vorzeitig gesichert und steht kurz vor dem Einzug ins Champions League-Finale. Und das ausgerechnet mit zwei Ex-Milanisti. Trainer ist Massimiliano Allegri, verantwortlich für den letzten Meistertitel des AC 2011, und im Mittelfeld zieht Oldie Andrea Pirlo nach wie vor genial die Fäden. Gerade beim Namen Pirlo zucken sie in Mailand immer noch zusammen, denn rückblickend ärgern sie sich rot und schwarz, dass sie diesen Ausnahmespieler ganz entgegen ihrer Gewohnheiten 2011 vom Hof gejagt haben.

Ein neues Stadion also, ein eigenes soll es sein. Direkt neben der Casa Milan. Doch so ganz sind die Anwohner damit noch nicht einverstanden und der Widerstand formiert sich. Bis die neue Hütte steht, werden aber noch einige Meistertitel vergeben und so müssen wohl Mister Bee und sein Gefolge vorerst im schrammeligen San Siro die Ärmel hochkrempeln. Zusammen mit Superpippo, denn noch darf der Coach weitermachen, obwohl er weder auf die Unterstützung von den Fans noch von seinen eigenen Spielern bauen kann.

Und mit Verteidiger Mattia de Sciglio, einem Milanista durch und durch, von dem sie in Italien sagen, dass er einer wie Paolo Maldini werden kann. Milan den Mailändern, also doch. Zumindest ein bisschen, der guten alten Zeiten willen.