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Der implizite Autor

Welche Bücher sind es, die wir besitzen müssen? Solche, die wir lesen und dann nie wieder lesen, können wir weitergeben, sie können neue Besitzer finden, oder den Müll, denn wir haben sie einverleibt.

Welche Bücher sind es, die wir besitzen müssen? Solche, die wir lesen und dann nie wieder lesen, können wir weitergeben, sie können neue Besitzer finden, oder den Müll, denn wir haben sie einverleibt. Diese Bücher sind, sozusagen, gegessen.

Andere Bücher, aber, sind unübersichtliche Landschaften, und es braucht viele Anläufe sie abzugehen.

Und dann gibt es jene Bücher, die uns nichts zu verstehen geben, bei denen wir alles erahnen müssen. Dies sind Labyrinthe. Auf unterschiedlichen Wegen, die sich in ihrer Fremdartigkeit ähneln, folgen wir der Verheissung eines unbekannten Ziels. In der Mitte des Labyrinths finden wir Schlüssellöcher, oder Wurmlöcher, in abgelegene oder verlassene Gebiete unseres Geistes. Dort finden wir natürlich nichts undenkbares, aber etwas seltenes. Solche Bücher gibt es nicht viele, und man gibt diese auch nicht wieder her. Denn in ihnen lebt das Andere von uns.

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Eines dieser Bücher ist der Codex Seraphinianus des italienischen Künstlers Luigi Serafini. Es handelt sich um eine reich illustrierte Enzyklopädie einer Fantasiewelt, in der Radieschen Streichhölzer beherbergen und Bäume zu einer gewissen Jahreszeit aus dem Boden steigen um sich ins Meer zu werfen und davon zu schwimmen. Das Werk behandelt in elf Kapiteln unterschiedliche Aspekte jener fremden Welt, von ihrer Flora und Fauna, über Lebewesen, zusammengesetzt aus Tier und Mensch und Maschine bis hin zu ihren Essgewohnheiten und ihrer Architektur.

Auch die Schrift ist von Serafini erfunden und bietet Linguisten seit dreissig Jahren ein fortlaufendes, scheinbar unlösbares Rätsel. Bisher wurde einzig das Nummerierungssystem der Seiten geknackt. Obwohl nicht klar ist, ob sich hinter den Schriftzeichen tatsächlich eine funktionierende Sprache verbirgt, scheint sie dem “Leser” den Eindruck von Intelligenz zu vermitteln.

Das Buch erschien 1981 im Verlag des italienischen Aristokraten Franco Maria Ricci, der zehn Jahre zuvor schon eine andere, weltlichere Enzyklopädie herausgegeben hatte, und zwar jene berühmte von Diderot, dem grossen französischen Aufklärer, als aufwendige Faksimile-Ausgabe. Franco Maria Ricci hat seither Kunstbücher herausgegeben, die dieser Bezeichnung auf konsequente und unbändig opulente Art und Weise gerecht werden; sie gehören zu den schönsten und teuersten zeitgenössischen Büchern über Kunst. Vor zwei Jahren liess Franco Maria Ricci das Verlagsgeschäft hinter sich, um auf Anregung des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges, ein Labyrinth zu bauen - dies entsteht zur Zeit bei Fontanellato, Parma, und es soll das grösste der Welt werden.

Obwohl er in bibliophilen Kreisen ein ständiges Thema ist, wird über den Codex Seraphinianus nicht viel gesprochen. Wenn, dann gemunkelt, aber vor allem geträumt. Da es sich dem traditionellen Interpretationszwang entzieht, besitzt dieses Buch gegenüber anderen ähnlich phantasievollen, eine beneidenswerte Position. Die übliche Enzyklopädie unterliegt dem Verstand und der Bildung des Betrachters. Der übliche Roman unterliegt der an kulturelle Normen gebundene subjektive Ästhetik des Betrachters. Der Codex Seraphinianus, hingegen, setzt an die Stelle des Romans die Enzyklopädie und appelliert, so fantastisch ihre Inhalte auch sind, dennoch an die Vernunft und die Objektivität des Betrachters. Wir würden den Codex schon verstehen, denken wir uns, wenn wir nur die Schrift lesen könnten. Was wünschten sich wohl Autoren wie Jonathan Littell ihren erfundenen Texten ein so aufnahmefähiges Publikum. Wozu Serafini, der kein Schriftsteller ist, fähig war, fühlen sich Schriftsteller kaum befugt: die Kreation einer neuen Sprache, unter dem Risiko nicht verstanden oder als eitel angesehen zu werden. Die Literatur hängt eben sehr am gängigen Alphabet. Der Codex ist aber kein dadaistisches Werk, er ist eher im Surrealismus zu Hause - ein Ort, der für unsere gebildete Literatur ist, wie eine Heimat für den von ihr in die Flucht getriebenen. So könnte der Codex Seraphinianus als ein Art Anleitung, oder als Ideal gesehen werden, für die Funktionen von Literatur.

Eine gut erhaltene Originalausgabe ist auf eBay momentan für 2.650 Dollar zu haben, eine ramponierte für etwa ein Viertel davon. Der Preis neuerer Editionen bewegt sich zwischen 135 und 800 Euro.

Der Unterschied dazwischen, ob man dieses Buch besitzt, oder nicht, ist nicht riesig, aber er ist sehr genau abzumessen, er erstreckt sich nämlich durchgehend von einem Deckel zum Anderen, und das ist mehr, als man über die meisten Bücher sagen kann, bei denen sich dieser Unterschied recht übergangslos in den gewohnten Buchstaben- und Bildraum einfügt, und verschwindet.