FYI.

This story is over 5 years old.

News

Deine Stimme zählt im Iran nichts—nur dein Widerstand

Hesam ist Exiliraner und lebt seit seiner gefährlichen Flucht alleine ohne seine Familie in Berlin. Er beschreibt uns den inneren Kampf, den er mit sich führt, und ob und wen er bei den heutigen Wahlen wählen soll: den Pädophilen, den Konservativen...

Die Kopfschmerzen lassen mich nicht in Ruhe. Sie haben natürlich etwas mit dieser Unentschlossenheit zu tun. Soll ich morgen wählen gehen oder nicht? Es gibt ein altes persisches Lied, das meine aktuelle Gemütslage richtig betonen kann: „Ein Teil meines Herzens sagt: Gehe! Gehe! Und ein anderer Teil sagt: Gehe nicht! Gehe nicht!” Wenn ich auf den Bildschirm schaue, verstärken sich meine Kopfschmerzen.

Anzeige

Einige sind der Meinung, dass man Hassan Ruhani wählen muss, weil er den Reformisten am nächsten kommt. Andere sagen, dass Ruhani nie Präsident werden könnte, da, wie bei den Präsidentenwahl 2009, wieder gefälscht werden wird, und eine Teilnahme nur der Popularität des islamischen Regimes dienen würde. Ich frage mich also wieder, soll ich jetzt wählen oder nicht?

Das Wetter ist richtig schön und alle sind gutgelaunt, aber meine Nase beginnt zu tropfen. Eine Anti-Allergie-Tablette wäre nicht schlecht. Vielleicht beruhigt sie auch meinen inneren Konflikt, der sich gegen dieses schöne Wetter und die gute Laune durchsetzen will.

Es gibt drei fundamentalistische Kandidaten, die komisch, aber auch schrecklich aussehen! Mohammad Bagher Ghalibaf ist vermutlich der stärkste von ihnen. Und gleichzeitig der Oberbürgermeister von Teheran. Er ist ein Militärtechnokrat und behauptet, dass die Bürger Teherans die Modernisierung der Stadt allein ihm zu verdanken haben. Das Foto sagt mir etwas anderes. Sein Leibwächter beißt Menschen, um Ghalibaf vor ihnen zu schützen.

Mir drängt sich der Gedanke auf, dass Ghalibaf, wenn er Präsident werden würden, die Menschen auf der Straße auffressen würde. Außerdem ist allgemein bekannt, dass er für den Einsatz bewaffneter Truppen auf das Studentenheim der Universität Teheran im Jahr 1999 verantwortlich war.

Aufdeckt wurde das durch eine geheime Tonaufnahme, die an die Öffentlichkeit geraten ist. Bei Twitter lese ich, dass man die Zange als Symbol seiner Regierung bezeichnet, weil er einmal gesagt hat, dass man die unzufriedenen Studenten mit der Zange erziehen muss. Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass wir einen mit der Zange erziehenden, schlagenden, fressenden Militärtechnokraten als stärksten fundamentalistischen Kandidaten haben, der manchmal auch ein Pädophiler sein kann.

Anzeige

Der nächste Fundamentalist, der auf jeden Fall nicht modern rüberkommen will, ist Said Dschalili. Er gehört den jungen neuen Fundamentalisten an, die am schlimmsten sind. Alle seine Anhänger tragen Vollbart. Er ist unser Atomunterhändler und deswegen am schlimmsten, weil er von den Basidsch unterstützt wird, einer paramilitärischen Miliz im Iran. Das sind die freiwilligen Motorradfahrer, die vor vier Jahren die Demonstranten auf der Straße geschlagen haben. Das Regime weigert sich immer noch, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Genauso wie 1919 in Deutschland, als die Freikorps Rosa Luxemburg ermordet haben und die Regierung keine Verantwortung übernommen hat, weil die Freikorps den Mord in Eigeninitiative begangen haben.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Dschalili als Präsident ein islamisches Nordkorea gebären würde, in dem man wegen Internetnutzung zum Tode verurteilt werden kann. Ich frage mich jetzt, soll ich wählen gehen, um nur Dschalili nicht gewinnen zu lassen? Die Kopfschmerzen verstärken sich. Hilft bei solchen Kopfschmerzen Aspirin? Das frage ich mich auch.

Etwas kapiere ich überhaupt nicht. Warum verwandeln sich auf einmal viele der fundamentalistischen Kandidaten während des Wahlkampfs in moderne und cool aussehende Existenzen?

Das größte Fossil, Ali Akbar Velajati, der seit Beginn des islamischen Regimes an der Macht ist und als außenpolitischer Berater des Führers bezeichnet wird, macht Fotos in seiner Ärztekluft. Er weist in seinen Interviews mehrmals darauf hin, dass er sich auf Kinderheilkunde (man weiß nicht, ob er auch Pädophiler ist) an der John-Hopkins-Universität spezialisiert hat. Einerseits brüstet er sich mit seinem Zertifikat von einer Universität in den USA und andererseits beharrt er darauf, dass die USA der größte Teufel aller Zeiten sind.

Anzeige

Diese komischen Widersprüche verstärken meine Kopfschmerzen und damit den Entscheidungsdruck noch mehr. Während meiner Suche im Internet finde ich Fotos von Anhängern Velayatis.

Auf ihrer Hand steht: „Velayati“.

Ein weiteres komisches Foto finde ich bei Facebook. Ein Typ, der sich wie ein Roboter bewegt und versucht, wie Michael Jackson zu tanzen. Er steht auf der Straße vor der Propagandastation von Mohsen Rezaei herum. Einem anderen Fossil, das jedes Mal fleißig bei den Präsidentschaftswahlen dabei ist und niemals gewählt wird. Ich will weinen, wenn ich die geschmacklosen Fundamentalisten dabei beobachte, wie sie verzweifelt versuchen, cool auszusehen.

Aber die gigantischste Katastrophe ist ein Foto, das mich an Matrix Reloaded erinnert. Zwei weißgekleidete Engel posieren mit dem Foto von Ghalibaf, dem mit der Zange erziehenden Pädophilen. Ihre ernsten Gesichtsausdrücke machen mich fast high!

Der einzige Mullah unter den Kandidaten ist der, der ausgerechnet wie ein Reformist rüberkommt: Hassan Ruhani. Schon wieder ein Widerspruch. Ich sage, wie „ein Reformist wirkende Kandidat", weil er nie in seinem Leben Reformist war. Nach dem Tod aller Hoffnungen ist er aber der einzige Kandidat, der „Hoffnung und Vernunft“ als sein Motto gewählt hat. Der einzige andere Reformist war eigentlich Mohammed Resa Aref, der seine Kandidatur aber zugunsten Ruhani „zurückgezogen“ hat.

Sein Foto auf der Werbung von Pepsi sagt mir viel. Vielleicht konnte er damit eine Verbesserung der internationalen Beziehungen bewirken und die Sanktionen überwinden. Ruhani hat sich auch teilweise über die Verhandlung mit dem Westen geäußert. Natürlich würde er nicht wie Ahmadineschad über die Vernichtung von Israel sprechen.

Ich frage mich wieder, soll ich jetzt Hassan Ruhani wählen? Manche vertreten den Standpunkt, dass die Anhänger Ruhanis nur eine wohlhabende Mittelschicht stellen, die die Welt nur durch das Internet sehen kann. Sie sind der Meinung, dass andere starke Kandidaten, wie Dschalili, die Bevölkerung in kleineren Städten mit populistischen und ahmadineschadistischen Strategien schon manipuliert haben. Aber soll ich jetzt nicht wählen gehen?

Das größte Fragezeichnen zeigt sich aber auf den Wahlkästen. Werden unsere Stimmzettel überhaupt gezählt? Auf eine Mülltonne wurde ein Zitat von Chomeini geschrieben: „Der Maßstab ist die Wahl des Volkes.” Warum hat man es aber auf eine Mülltonne geschrieben, die genauso wie die Wahlkästen aussieht?

Viele Fragen tanzen auf dem Dancefloor meines Kopfes, und ich bin immer noch unentschlossen. Wenn ich aber wählen gehe, weiß ich genau, dass ich keinen von diesen Clowns wähle, sondern meine Existenz. Mein Stimmzettel hat eine Botschaft: Ich existiere immer noch, obwohl sie mich aus meinem Land rausgeschmissen haben.