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Gefängnis

Dieser deutsche DJ hat zwei Jahre in einem russischen Arbeitslager verbracht

Nik Lisak wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt – mit prügelnden Aufpassern und organisierten Gangstern. Am Ende hat er dennoch darum gebettelt, dass seine Strafe nicht verkürzt wird.
Die Fotos hat Nik Lisak während seiner Zeit im Arbeitslager gemacht und zur Verfügung gestellt

Nik konnte es erst gar nicht fassen: das erste Mal Freigang. In Berlin, im Sommer. Nach drei Jahren Knast in Russland, zwei davon in einem Arbeitslager. Nach drei Jahren Demütigungen, Prügel, Kälte und verrottetem Essen für den 44-Jährigen. "Das unglaublich befreiende Gefühl, jetzt hier in Berlin jeden Tag draußen leben und arbeiten zu können, nur noch drinnen zu übernachten – das ist noch sehr surreal", sagt Nik. Im Vergleich sei der Aufenthalt hier "keine Bestrafung, sondern ein bezahlter Sanatoriumsaufenthalt!".

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Vor dem Knast bestand Niks Leben aus Partys. Auf dem sagenumwobenen Electro-Festival KaZantip in der Ukraine hostete er etwa eine eigene Bühne. Als Kind kroatischer Eltern wuchs er in Offenbach auf, später arbeitete er lange als DJ in München. In Spanien half er beim Booking für das Electrosplash Festival, dessen Ableger Toursplash er 2007 in Berlin veranstaltete. 2011 wurde er von einer Veranstaltergruppe nach Russland abgeworben: Er sollte in Moskau einen Club aufbauen.

Und hier endet seine Erfolgsgeschichte, denn statt in Backstage und VIP-Lounge landet er in Haft.


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Nik vermutet, dass er "irgendwem, irgendwie auf die Füße gestiegen" sei. So erklärt er sich, was im Januar 2013 geschah: Nach einer Partynacht stürmte ein Sondereinsatzkommando seine Wohnung und durchsuchte sie. 16 Gramm Kokain und 90 Gramm MDMA wollen die Beamten gefunden haben. Nik wurde verhaftet, und mit ihm eine Bekannte, die sich ebenfalls in der Wohnung befand.

"Das war schon an der Grenze zum Wahnsinn. Ich glaube, ich hätte egal was unterschrieben."

"Ich wurde 16 Stunden lang verhört", erzählt Nik. "Ziel dieses Verhörs war ein Geständnis – damit später nicht noch ein Ermittlungsverfahren mit Beweismitteln eingeleitet werden muss. Ich wurde extrem unter Druck gesetzt, von fünf verschiedenen Beamten in vielen verschieden Räumen." Man habe ihm Videos von Frauenlagern gezeigt und gedroht, seine Bekannte würde für Jahre dort verschwinden. "Das war schon an der Grenze zum Wahnsinn. Irgendwann wurde ich weich und unterschrieb, ich glaube, ich hätte egal was unterschrieben."

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Es habe damals 16 Stunden gebraucht, um ihn zu brechen, sagt Nik. "Ich hatte einfach zu viel Angst. Angst vor der Misshandlung, die wie ein Damoklesschwert die ganze Zeit über mir schwebte."

Niks Mitgefangene

Wegen versuchten – aber nicht zu Ende geführten – Verkaufs von Betäubungsmitteln wurde Nik zu Haft unter verschärften Bedingungen verurteilt: zehn Jahren im strengen Regime einer Arbeitskolonie. "Ich bin damit noch verhältnismäßig lasch weggekommen", sagt er. Drogendelikte werden in Russland mit drakonischen Strafen geahndet. Schon der Besitz einer geringen Menge Betäubungsmittel kann Jahre im Arbeitslager nach sich ziehen. Sogar Substitutionstherapie ist verboten. Laut der Anti-Drogen-Behörde FSKN sind dennoch zwischen acht und neun Millionen Russen drogenabhängig, die harte Hand Putins hat das Drogenproblem nicht lösen können. Die FKSN machte vor allem mit Korruptionsvorwürfen Schlagzeilen; 2002 gegründet wurde sie 2016 wieder aufgelöst.

Nik ist sich sicher: "Ich wurde klassisch aus dem Weg geräumt."

Nik Lisak sieht sich als Korruptionsopfer. Im Gespräch mit VICE bestreitet er, überhaupt Drogen besessen zu haben. Er ist sich sicher: "Ich wurde klassisch aus dem Weg geräumt." Nach seiner Verurteilung und einem Jahr Untersuchungshaft verbrachte Nik zwei Jahre im Straflager LIU-19 in der russischen Teilrepublik Mordwinien, 500 Kilometer östlich von Moskau.

Der Schlafraum im Arbeitslager

In russischen Gefangenenlagern leben die Insassen unter Bedingungen, die in Deutschland kaum vorstellbar sind: Wer das Arbeitssoll nicht erfüllt oder die Arbeit verweigert, wird verprügelt oder muss stundenlang strammstehen. Unliebsame Häftlinge werden in Bunkerhaft isoliert und dort permanent mit lauter Musik beschallt. Wer kein Schutzgeld zahlt, wird auch grundlos verprügelt. Aufgrund dieser Bedingungen kommt es in Russland regelmäßig zu Gefängnisaufständen. Viele Häftlinge halten die Zustände nicht aus, sie begehen Selbstmord.

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Aktuell gibt es in Russland über 600.000 Gefangene. Unter den entwickelten Industrieländern hat Russland damit nach den USA die meisten Strafgefangenen. Auf 100.000 Einwohner kommen über 400 Inhaftierte. In Deutschland sind es 76.

Das System Knast hat die russische Gesellschaft geprägt: Die "Diebe im Gesetz" etwa sind eine Organisation verurteilter Straftäter, die in den zahlreichen Lagern entstanden ist – um weiterhin der organisierten Kriminalität nachzugehen. Dabei besitzen sie eine eigene Subkultur mit speziellen Verhaltensvorschriften. So dürfen sie in keinem Fall mit den Behörden zusammenarbeiten, eine Familie gründen oder einer regulären Arbeit nachgehen. Ein wichtiges Merkmal der Diebe im Gesetz sind ihre auffälligen Tätowierungen. Diese geben Auskunft über Status, Verurteilungen und Gefängnisaufenthalte eines Mitgliedes.

Das Klo im Arbeitslager

In Mordwinien hat Nik diese komplexe Welt der Diebe im Gesetz kennen und verstehen gelernt. Er konnte sich anpassen und hat das Lager dadurch relativ schadlos überstanden. Auch, weil er innerhalb eines halben Jahres lernte, Russisch zu sprechen. "Die Mitgefangenen haben mich ausnahmslos von Anfang bis Ende mit Respekt behandelt", sagt Nik. Anders die Justizbeamten: Die hätten ihn zweimal verprügelt, um Schutzgeld zu erpressen.

"Ich habe mir quasi die zehn Jahre in Deutschland erbettelt – Hauptsache raus da."

Seit April 2016 sitzt Nik seine restliche Strafe in Berlin ab – erst in der JVA Moabit, aktuell im Offenen Vollzug in Zehlendorf. Möglich wurde dies durch ein europäisches Übereinkommen von 1983. Eigentlich ist Deutschland an die Art und Dauer der Strafe gebunden, die von Russland festgelegt wurde. Da zehn Jahre Lager für den Besitz der Nik zur Last gelegten Menge Drogen in Deutschland undenkbar sind, wollte die Berliner Justiz die Sanktion anpassen. Das Übereinkommen erlaubt dies auch, doch Nik hat über seinen Anwalt alles versucht, damit er auch in Deutschland die volle Strafe kriegt – mit Erfolg.

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Die Strafe anzupassen "hätte mit ziemlicher Sicherheit dazu geführt, dass die Russen mich erst zu einem viel späteren Zeitpunkt überstellt hätten". Das wollte Nik mit allen Mitteln verhindern. "Jeder Tag im Lager war eine Bedrohung für Körper und Geist", sagt er. "Daher habe ich mir quasi die zehn Jahre in Deutschland erbettelt – Hauptsache raus da." Anwälte der Kanzlei Derra, Meyer & Partner in Berlin haben Nik unterstützt. Wie Rechtsanwalt Alexander Shmagin gegenüber VICE erklärt, wurden zwischen Deutschland und Russland bislang zwölf derartige Verfahren eingeleitet. Vier davon hat die Kanzlei begleitet. Zwischen eineinhalb und zwei Jahren dauerte es im Schnitt, bis Häftlinge nach Deutschland überstellt wurden.

"In Russland habe ich auf jeden Fall meine rosa Brille abgelegt."

Bei guter Führung hat Nik die Chance, auf Bewährung rauszukommen – wenn er die Hälfte der verhängten Strafe abgesessen hat. Das wäre im Frühjahr 2018. Bis dahin wird Nik, der auf ein Gnadengesuch bei der Staatsanwaltschaft bislang verzichtete, seine Nächte in der JVA verbringen. Tagsüber arbeitet er in einem vegetarisch-veganen Öko-Restaurant in Kreuzberg als Koch – die deutsche Variante des russischen Arbeitslagers. Nebenbei macht er eine Ausbildung zum Ernährungsberater.

"Das ist die logische Konsequenz meiner Entwicklung, seitdem ich in Moskau verhaftet wurde", sagt er. Im Lager bekam er jeden Tag Suppe, Haferschleim und Tee vorgesetzt. "Frisches Gemüse oder Obst gibt es dort nicht. Fleisch war grundsätzlich verrottet und roch faulig." Die Hungerphase im Lager, die ständige Knappheit an Proteinen und Ballaststoffen hätten ihn dazu gebracht, sich mit gesunder Ernährung zu beschäftigen. Er sehe die Welt nun mit anderen Augen, nicht nur was Ernährung betrifft: "In Russland habe ich auf jeden Fall meine rosa Brille abgelegt."

In dieser Schreinerei arbeitete Nik im russischen Lager

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