Der Ökotourismus rettet Tansanias Tiere und gefährdet seine Menschen

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the Earth Died Screaming Issue

Der Ökotourismus rettet Tansanias Tiere und gefährdet seine Menschen

Seit mehr als einem Jahrhundert werden die Massai in immer kleinere Gebiete gepfercht, um Umwelt und Tiere zu schützen. Und um Platz zu schaffen für Luxus-Suiten und immer mehr Touristen.

Bevor er am 9. Juli 2014 angeschossen wurde, hatte Olunjai Timan eine Kuh geschlachtet. Um sich den Eintopf seiner Frau nicht entgehen zu lassen, schickte der drahtige Massai-Hirte zwei seiner Söhne alleine zum Weiden der Rinder. Doch bevor Timan aufessen konnte, kamen die Söhne zurück. Sie hatten versehentlich das 50 Quadratkilometer große Grundstück des Bostoner Ökotourismus-Anbieters Thomson Safaris betreten.

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Die Jungs wussten, dass die Firma während der Hauptsaison das Weiden auf dem Grundstück verbot. Thomson-Wachen waren auf sie zu gestürmt und hatten dabei die Herde auseinandergetrieben. Der siebenfache Vater ließ sein Essen stehen, griff sich seinen Speer und machte sich auf die Suche. Nach einer Stunde fand er die Herde, noch immer auf der anderen Seite der unsichtbaren Grenze zwischen dem Grundstück der Firma und seinem Dorf im Bezirk Loliondo im Nordwesten Tansanias. Als er die Tiere nach Hause führte, tauchte ein Fahrzeug mit zwei Thomson-Wachen und zwei örtlichen Polizisten auf. Thomson-Wachen sind generell unbewaffnet und rufen deshalb schnell die Polizei. Timan berichtete, die Männer seien aus dem Geländewagen gestiegen. Dann habe er gehört, wie jemand „Schieß! Schieß!" rief. Einer der Männer feuerte seine Waffe und traf den Hirten mit einem Durchschuss im rechten Oberschenkel.

Er wollte weglaufen, doch er konnte nur mühsam gehen. Bewohner der örtlichen Bomas (Kleinsiedlung) sagten später, sie hätten seine Schreie gehört. Die Nachbarn warnten einander per Handy, eine der wenigen modernen Erfindungen, die örtliche Massai verwenden. Bald erschienen andere Polizisten und brachten Timan zu einem Krankenwagen.

Während Timan versorgt wurde, versammelten sich mehrere Hundert junge Massai-Männer, in den Händen Speere und Benzinkanister. „Sie wollten das Thomson-Lager niederbrennen", erinnerte sich Joshua Makko, der Vorsitzende von Timans Dorf Mondorosi. Safari-Touristen zahlen als Teil eines Pauschalangebots 535 Dollar pro Übernachtung im Luxus-Basislager der Firma. Der Vorfall war der zweite mutmaßliche Schuss gegen einen Dorfbewohner, den von Thomson Safaris verständigte Polizisten gefeuert hatten, doch Einwohner von Mondorosi und benachbarter Dörfer behaupten, Thomson-Wachen und Polizisten, die in ihrem Namen handeln, hätten im Laufe der letzten neun Jahre regelmäßig Massai-Hirten auf ihrem Grundstück belästigt. Thomson Safaris streitet dies ab. In der Massai-Kultur ist Land das höchste Gut, und Rinder bedeuten Wohlstand, Macht und Respekt.

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Das umstrittene Land ist ein braungrünes Plateau in einem Tal, das auf allen Seiten von Massai-Dörfern umgeben ist. Das Gebiet ist mit seinen offenen Weiden, saisonal trockenen Flussbecken und seinem hohen Grundwasserpegel für die Hirten der Region seit Jahrzehnten wichtiges Weideland. Doch 2006 pachteten die Inhaber von Thomson Safaris, ein US-amerikanisches Paar namens Rick Thomson und Judi Wineland, das Land im Namen ihrer in Tansania registrierten Firma Tanzania Conservation Ltd. für 1,5 Millionen Dollar. Sie pachteten es deshalb, weil Tansania, offiziell ein sozialistisches Land, Ausländern keinen Grundbesitz erlaubt. Dieselben Eigenschaften, die das Gebiet zu ausgezeichnetem Weideland machten, garantierten auch touristische Eignung. Es lag direkt am Serengeti-Nationalpark, und das Vordringen der Menschen hatte die vielfältige Fauna, darunter Giraffen, Gnus und Großkatzen, vertrieben. In der Herausforderung, die Tiere zurückzuholen, sahen Thomson und Wineland ihre große Chance.

Der erste Schritt war es, „zum Schutz der Umwelt das Weiden einzuschränken und Überweidung zu vermeiden", sagte mir Daniel Yamat, ein Massai, der als Projektmanager der Firma auf dem Land arbeitet. Die Firma hat dem Thomson-Safaris-Reservat in der Ost-Serengeti den Spitznamen „Enashiva" gegeben, ein Massai-Wort für Glück.

Manche Anwohner beugten sich, doch viele wehrten sich. „Hier geht es um unser Überleben", sagte Makko. Seine Vorfahren zogen durch die heutige Serengeti, doch die Generation seiner Eltern war gezwungen, sich in Loliondo niederzulassen, als nach seiner Gründung in den 1950ern alle Menschen aus dem Nationalpark verbannt wurden. Laut Makko ließen die touristische Erschließung sowie die durch den Klimawandel verstärkten Trockenperioden den Hirten in den umliegenden Dörfern nur wenige Optionen. Das Thomson-Land war die einzig Vernünftige davon.

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Der bewusste Landfriedensbruch der Dorfbewohner blieb nicht ohne Folgen: Einheimische haben ausgesagt, Thomson-Wachen hätten oft Herden verstreut oder vorübergehend konfisziert sowie Massai geschlagen, festgenommen, im örtlichen Gefängnis inhaftiert und bisher zwei Mal beschossen. Anwohner, die sich gegen Thomson Safaris äußerten, wurden regelmäßig zu polizeilichen Vernehmungen geladen. Journalisten und Entwicklungshelfer, die in Loliondo ermitteln wollten, wurden von den Lokalbehörden verbannt. Der UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung forderte 2009 und noch einmal 2011 die tansanische Regierung auf, Menschenrechtsverletzung in dem Gebiet zu untersuchen, doch man unternahm nichts. Gerüchte über eine Verschwörung zwischen Thomson Safaris und der tansanischen Regierung gingen um. Ein neuseeländischer Journalist wurde 2008 unter verdächtigen Umständen ermordet, kurz nachdem er die Aktivitäten der Firma in Loliondo untersucht hatte.

Zur selben Zeit stieg das weltweite Ansehen der Firma Thomson Safaris rasant. Die Schwesterfirma des Hauptunternehmens des Paares, Thomson Family Adventures, erhielt fast ein Dutzend Ehrungen, darunter eine Erwähnung in der National Geographic-Liste der weltbesten Abenteuerreisenanbieter. Judi Wineland, Direktorin von Thomson Safaris, wurde von der Adventure Travel Trade Association für ihr Lebenswerk geehrt.

Auf der Website der Firma gibt es ein Werbevideo für Enashiva, das sich nur schwer mit den Erzählungen vor Ort in Einklang bringen lässt. Lachende Massai tanzen, singen und bedanken sich für die von der Firma ermöglichten Projekte. Die seltenen öffentlichen Aussagen der Firma zu den Anschuldigungen bezeichnen den Konflikt als frei erfunden. Die Firma, so behaupten sie, sei hier das Opfer.

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Wie die fünfmonatige Recherche von VICE zeigt, ist der anhaltende Konflikt repräsentativ für eine Situation, der sich indigene Bevölkerungen in aller Welt gegenübersehen: Seit mehr als einem Jahrhundert werden die Massai in immer kleiner werdende Gebiete gepfercht, um die Umwelt und wertvolle Tiere zu schützen—und Platz zu schaffen für Luxus-Suiten und Touristenscharen. Die Industrienationen haben diese Aktivitäten hauptsächlich befürwortet.

Doch die Massai von Loliondo sind nicht alleine mit ihrem Widerspruch gegen diesen angeblichen Segen. Weltweit haben Regierungen und Naturschutzorganisationen etwa 20,7 Millionen Quadratkilometer—eine Fläche fast so groß wie Afrika—zu Schutzgebieten erklärt. Die meisten Bewohner dieser Gebiete wurden verdrängt. Es gibt keine offiziellen Zahlen dazu, wie viele Menschen das sind, doch Daten der UN und der Weltnaturschutzunion zu Parkflächen und Bevölkerungsdichten deuten darauf hin, dass es knapp 20 Millionen sein könnten.

Es gibt sie, die Naturschutzflüchtlinge—von der Dominikanischen Republik bis Kenia, von Bolivien bis Brasilien. Die Batwa aus Uganda wurden aus ihren Wäldern vertrieben, weil man sie fälschlich beschuldigte, Silberrückengorillas zu töten. Viele leben nun als illegale Siedler ohne Zugang zu Wasser in den Randgebieten der Parks, die die Menschenaffen schützen. Die Hmong aus Nordthailand wurden in die Hungersnot getrieben, als die Regierung auf Drängen der Globalen Umweltfazilität hin ein Nationalparksystem einrichtete.

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Die Mächte, die den Naturschutzflüchtlingen gegenüberstehen, sind scheinbar die Guten: Umwelt-NGOs und Ökofirmen, die nach einer besseren, grüneren Welt streben. Doch für indigene Bevölkerungen können die Gefahren dieser Vorstöße teilweise bereits mit denen der industriellen Landwirtschaft und Bodenschatzsuche mithalten. Bei einem UN-Treffen des Internationalen Forums für Indigene Karten 2004 unterschrieben alle 200 Delegierten eine Erklärung, in der es hieß: „Aktivitäten von Naturschutzorganisationen stellen heute die größte Bedrohung der Unversehrtheit indigener Gebiete dar."

Tulito Olemguriem Lemgume, ein Mann mit grauem Haar und milchigen Augen, gehört zu den Dorfältesten von Loliondo. Er erinnert sich an den Tag, als ihm aufging, welche Bedeutung sein Stamm für die Elite-Umweltschützer hatte. Als Thomson Safaris 2006 das Land pachtete, lag seine Boma innerhalb der Grenze. Laut Lemgume sagten die Behörden ihm und einigen Nachbarn, dass „das Land nun einem ausländischen Investor gehöre und wir dort nicht mehr leben könnten.

Wir antworteten, wir hätten sonst keinen Ort zum Leben. Wir sagten: ‚Dieser Ort gehört uns. Das hier ist unser Zuhause.'" Also sei die Polizei mit Benzin gekommen und die Bomas brannten ab, sagte er. Dann „schoss [die Polizei] auf uns", erinnerte sich Lemgume. „Als seien wir die wilden Tiere und sie würden uns verjagen."

Die Wurzeln des aktuellen Konflikts lassen sich in eine Zeit zurückverfolgen, als die Massai selbst noch die Verdränger waren. Der Stamm migrierte im 15. Jahrhundert aus dem Niltal und vertrieb dabei die indigenen Völker, die ihm im Weg standen. Zum Ende des 17. Jahrhunderts dominierten sie weite Teile des heutigen Kenia und Tansania. Sie jagten selten, und trotz jahrhundertelangem Ackerbau blieb ihr landwirtschaftlicher Fußabdruck minimal. Ihr Desinteresse an den meisten materiellen Gütern und an dauerhaften Behausungen bewahrte ihren natürlichen Lebensraum. Jahrhundertelang lebten die Massai in Ostafrika, ohne die dortige Umwelt sehr zu strapazieren.

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Doch sie nahmen viel Platz in Anspruch. Für Hirtenvölker gibt es kein wichtigeres Bedürfnis als das Land zur Versorgung ihrer Tiere, Überlebensgrundlage und Basis ihrer sozialen Hierarchie (grob gesagt bedeuten mehr Rinder mehr Macht). Die Massai wurden vor die Wahl gestellt: Sie konnten in ein weit entferntes, von der Regierung finanziertes Reservat am Ngorongoro-Krater ziehen oder wohnen, wo auch immer sie wollten—nur nicht in den Parks. Die damals dünn besiedelte Region Loliondo an der kenianischen Grenze war die einfachste Option. Schon bald war Loliondo ein Meer aus roten Shukas, den traditionellen Massai-Gewändern. Heute leben dort über 60.000 Massai, von denen 90 Prozent von der Viehzucht abhängig sind.

Als die Massai in immer kleiner werdende Gebiete gezwungen wurden, veränderten sich mit der Nähe zur modernen Welt der Krankenhäuser und Schulen die Lebensbedingungen des Volks. Innerhalb weniger Jahrzehnte erhöhte sich die Lebenserwartung der Massai um mehrere Jahre, während sich die Mütter- und Kindersterblichkeit drastisch reduzierte. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist ihre Anzahl von 40.000 in Kenia und Tansania auf 700.000 allein in Tansania gestiegen.

Woran es all diesen Menschen nun zunehmend fehlte, war ausreichend Land, um das Überleben ihrer Rinder zu sichern. Die Massai mussten sich anpassen. Die alten Traditionen des Stamms, früher als natürlich-symbiotisch gepriesen, galten nun als „Überweidung". Schulen in Massai-Gebieten erweiterten ihren Lehrplan um das Thema Nachhaltigkeit. Sensibilisierungskampagnen betonten, dass die Herden kleiner werden müssten. NGOs führten neue Rinderrassen ein, die pro Kopf mehr Fleisch ergaben.

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Der Tourismus wurde als die beste Art dargestellt, wie die Massai wirtschaftlich vom Land profitieren konnten, ohne ihm weiter zu „schaden". Sie konnten Handwerkskunst verkaufen und gegen Bezahlung Besuchern ihre Dörfer oder ihre traditionellen Tänze zeigen. In den 1990ern kamen Safari-Firmen nach Loliondo, die Zebras, Nashörner und Löwen in die Gebiete zurücklocken wollten, in denen einst die Viehhirten gelebt hatten. Die Region war attraktiv für Investoren, weil ein Standort direkt außerhalb der Serengeti Zugang zu Wildtieren garantierte, aber die hohen Gebühren und bürokratischen Hürden umging. Der Ortello Business Corporation (OBC), einer Firma aus Dubai, die arabische Adlige einfliegt, um Großkatzen zum Spaß zu jagen und zu töten, wurden riesige Jagdgebiete zugestanden.

Ein wenig später lasen Wineland und Thomson eine Verkaufsannonce für ein Stück Land. Sie waren begeistert, nicht nur wegen der Aussicht auf eine Neubesiedelung des Gebiets mit Wildtieren, sondern auch aufgrund der Nähe zu den Massai selbst. Als Pioniere der globalen Abenteuerurlaubsbranche hatte sich das Paar bereits seit Jahrzehnten in Dutzenden Ländern auf „gemeindebasierten Tourismus" spezialisiert. Anstatt Kunden mit exotischen Tieren zu locken, sagte Wineland, hätten sie immer „Fotos von Menschen auf der Titelseite [unserer] Broschüren".

Eine der obersten Prioritäten von Wineland und Thomson war, dass die Massai von ihrem Geschäft profitierten. „Wir glauben an symbiotische Beziehungen", sagte Wineland einst. „Tourismus muss uns, unseren Gästen, den Wildtieren und den Gemeinden nutzen."

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Im Dezember reiste ich nach Loliondo, um dahinterzukommen, was schiefgelaufen war. Wie waren wohlmeinende Geschäftsleute in die Situation geraten, dass ihnen Belästigung indigener Stämme, Schießereien, Regierungsverschwörungen und Mord zur Last gelegt wurden? Vor meiner Reise hatten mich viele Leute gewarnt—andere Journalisten, internationale Aktivisten und Forscher, die allesamt des Landes verwiesen worden waren, weil sie ihre Nasen in diese Angelegenheit gesteckt hatten. Es gab nicht nur den Fall Thomson. OBC, der größte Safarianbieter der Region, steht seit Jahren wegen gewaltsamer Landnahme und politischer Korruption in der Kritik. Durch den Widerstand der Massai und internationale Aufmerksamkeit wurde ein Gesetz abgewehrt, das über 100.000 Quadratkilometer Massai-Land in einen geschützten Wildtierkorridor verwandelt und der Firma zur Pacht überlassen hätte. Doch kurz vor meiner Ankunft versuchte das tansanische Parlament das Gesetz ein weiteres Mal durchzusetzen und die Spannungen in der Region hatten zugenommen. Man riet mir, mich vom höchsten Regionalbeamten, dem District Commissioner, fernzuhalten, weil er keine Mühen scheuen würde, um seinen Bezirk attraktiv für Investoren zu machen.

Trotz alledem hatte ich nicht erwartet, an meinem ersten Morgen in Loliondo, zehn Stunden von der nächsten richtigen Stadt entfernt, mein erstes Interview in einem Graben zu führen. Mein Interviewpartner, ein panischer Priester aus dem Dorf Sukenya namens Olushipa Rogey, führte unser Auto weitab von der Straße und brachte mich zu Fuß an die Stelle, wo der sandige Boden einen Graben bildete. Selbst ein vorbeiziehender Hirte würde uns nicht sehen, ohne selbst hineinzufallen.

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Rogey trug einen verblichenen Nadelstreifenanzug, der älter aussah als der Mann selbst. Er fuhr mit dem Finger eine tiefe Narbe nach, die von seiner Nase über seine Lippen verlief. „Das habe ich wegen den Dingen, die ich über Thomson gesagt habe", erklärte er mir. Sukenya ist ein größerer Landstrich trockener Erde mit Kakteendickichten, der direkt an Thomson Safaris' Land angrenzt. Rogey war einer der ersten Dorfbewohner, die das Weideverbot der Firma kritisierten. Er fing an, geheime Treffen zu organisieren, um eine Verteidigungsstrategie zu erarbeiten. Daraufhin, sagte er, habe der Geschäftsführer der Firma ihn öffentlich bedroht. Bald darauf sei er auf dem Weg von seiner Kirche nach Hause angegriffen worden, sagte er. Diese Art gewalttätiger Übergriff ist in ländlichen Gegenden selten, weswegen er und andere zu der Überzeugung gelangten, dass es sich um eine Warnung von der Firma handeln musste. Thomson Safaris wurde nie offiziell mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht.

Obwohl Rogey aufrichtig schien, war ich skeptisch. Die Polizei nahm den Vorfall als Raubüberfall auf (sein Geldbeutel war gestohlen worden). Das Dezernat pflegt ein gutes Verhältnis zu der Firma; laut Thomson Safaris werden Beamte manchmal im Basislager stationiert, um Touristen vor Wildtieren zu schützen, und werden bei Sicherheitsfragen immer als Verstärkung hinzugezogen, doch ich hatte keine Hinweise auf geheime Absprachen. Verhielt es sich bei all den anderen mutmaßlichen Misshandlungen genauso? Ich verstand weder seine Nervosität noch das Versteckspiel, doch einige Tage später sollte ich es verstehen. Er sagte lediglich, seit Thomson mehr für wohltätige Zwecke spende, seien viele Anwohner auf ihrer Seite und würden ihn ächten, deswegen wolle er nicht mit mir gesehen werden. Bevor wir uns trennten warnte er mich mehrmals, vorsichtig zu sein, denn die Regierung und die Firma hätten überall Informanten.

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Als Nächstes unterhielt ich mich in der Siedlung mit Shangwa Ndekerei, einem charismatischen Mann mit, so sagte er mir, 100 Kühen, zwei Ehefrauen und elf Kindern, die er mir an den Fingern vorzählte.

Seine Boma liegt auf einer Anhöhe in Sukenya. Hinterm Haus hat man eine atemberaubende Aussicht auf eine weite Wiese und einen Wald, die ihm allerdings keine Freude bereitet. „Das ist das Thomson-Land", sagte er, als wir nebeneinander saßen. (Das Basislager war nicht zu sehen, doch es steht noch; Dorfälteste beschwichtigten den Mob, nachdem Timan im Juli angeschossen wurde.) Er erklärte mir, das Land sei kollektives Eigentum der Dorfbewohner gewesen, bis die staatliche Brauerei, Tanzania Breweries Ltd. oder TBL, die Rechte an dem Gebiet bekam. Hierzu bedurfte es der Erlaubnis der umliegenden Dörfer, doch Einheimische sagen, die Regierung und die Firma hätten gelogen und schlicht behauptet, sie hätten die Erlaubnis bekommen. Anwohner waren außer sich und reichten sogar Klage ein, doch der Fall wurde aufgrund einer Formalität abgewiesen.

Der Verkauf erwies sich in jeder Hinsicht als schlechte Idee. Das Land war nicht sonderlich fruchtbar und Tiere, sowohl wild als auch domestiziert, fraßen das bisschen Hopfen und Gerste, das dort wuchs. Die Firma bewirtschaftete einige Jahre lang etwa 280 Hektar, bevor sie das Unterfangen komplett aufgab. Allerdings wurde nie ein Weideverbot ausgesprochen und die meisten Einheimischen vergaßen völlig, dass das Land verkauft worden war.

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Das änderte sich 2006, als die inzwischen privatisierte TBL ihre Pachtrechte zum Verkauf anbot. Ndekerei sagte, es hätte Gerüchte über einen Safari-Anbieter als Käufer gegeben und man habe angenommen, die Dorfbewohner würden in die Entscheidung mit einbezogen werden, wie es Tradition und Gesetz vorschreiben. Doch keiner der Inhaber von Thomson Safaris besuchte die Gegend, um vor dem Kauf mit den Anwohnern zu sprechen. Der Vertrag wurde unterschrieben und die Probleme nahmen ihren Lauf.

Nderekeis Söhne wurden vor einigen Jahren festgenommen, als sie Tiere auf Thomson Safaris' Land weiden ließen. Laut Polizeiberichten und Aussagen von Anwohnern hat es mehr als 60 solcher Zwischenfälle gegeben und Gerüchten zufolge ließ man mehrere Dorfbewohner nach der Festnahme tagelang hungern. Ich entdeckte nach meiner Reise die zehnseitigen „Weiderichtlinien" der Firma, die erklären, wo und wann das Weiden erlaubt ist. Dies ist von zahlreichen verwirrenden Faktoren abhängig, doch das interne Dokument wird ohnehin nicht an die Einheimischen verteilt. Ndekerei erzählte mir, man habe seine Herde oft auseinandergejagt oder „festgenommen", also eine Zeit lang in einem Pferch festgehalten. Im Laufe der nächsten Tage hörte ich Dutzende ähnlicher Geschichten. Später würden mir Anwälte der Massai eine Liste mit mehr als 80 Festnahmen und physischen Übergriffen durch Wachen oder Polizisten zeigen. Zu vielen gibt es Beweisdokumente wie Krankenhausberichte. Die Anwälte sagten, da die Opfer nicht wüssten, dass sie nach Dokumenten fragen können, und da die Massai keine amtlichen Dokumente aufbewahrten, sei die Dunkelziffer viel höher.

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Nderekei betonte mir gegenüber, dass er nichts gegen Veränderung habe. Wenn die Massai überleben wollten, sagte er mir, dann müssten sie aus ihrer neugewonnenen Nähe zur modernen Welt das Positive schöpfen, und beiseite lassen, was sie nicht gebrauchen könnten. All seinen Kinder sei ein Schneidezahn entfernt worden, damit sie durch einen Schlauch ernährt werden könnten, wenn sie jemals vor Hunger zusammenbrechen sollten. Seine Söhne gehen zur Schule und Ndekerei bringt sie ins Krankenhaus, wenn sie krank sind.

„Das Problem ist nicht der Tourismus", sagte mir Ndekerei. „Der kann in Ordnung sein. Lasst Frauen Schmuck an Ausländer verkaufen. Baut eine Schule. Das Problem ist, wenn andere über unsere Köpfe hinweg entscheiden. Wenn jemand in dein Land kommt und ein Grundstück nicht so erwirbt, wie es sich gehört, dann kann dieser Käufer sich nicht in deine Gesellschaft integrieren. Es ist nicht in Ordnung, dass sie für alle anderen entscheiden."

Später traf ich einen Teenager namens Tajewu Nayoi, der mit seiner Familie gerade die Schafe und Ziegen aus ihrem Pferch führte. Zum Schutz vor der kühlen Hochlandluft in einen gelben Fleecepulli gehüllt, erzählte er mir, was ihm im Mai 2011 widerfahren war. Er und sein Cousin Tobiko, damals 11 und 13, hätten gewusst, dass sie das Thomson-Land nicht betreten sollten. Doch „die Kühe führten uns dorthin. Es gefällt ihnen dort." Es war einfacher, sich von der Herde führen zu lassen, also betraten sie das verbotene Gebiet.

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Nach einer Weile habe sich ein Fahrzeug des Sicherheitsdienstes von Thomson Safaris genähert, sagte er. Sie hätten versucht wegzulaufen, doch das Auto habe sie eingeholt. Ein Mann sei auf Nayoi zugekommen und habe angefangen, ihn mit einem stumpfen Gegenstand zu schlagen, sagte er. Die anderen Männer hätten die Kühe verscheucht. Er erinnerte sich, dass einer der Wachen etwas rief wie: „Ihr dürft eure Kühe hier nicht weiden lassen! Das Land gehört Investoren und wir bewachen es!"

Nach ein paar Schlägen sei es ihnen gelungen, wegzulaufen und sich im Wald zu verstecken, erzählten die Jungen. Nayois Arm war angeschwollen und pulsierte. Tobiko blutete.

Nayois Sätze bestanden jeweils nur aus ein paar Wörtern. Wir packten unsere Filmkamera schnell wieder weg, als wir sahen, wie sie ihn erstarren ließ. Dennoch blieb er unruhig und sah auf den Boden. Gelegentlich fasste er sich an den Arm, der, wie er sagte, ab und zu noch schmerze, wenn er schwer hebe. Sein großer Bruder Robert erklärte mir, er sei seit dem Vorfall schweigsam und ständig nervös. Auch unsere Ankunft habe ihn erschreckt. Aus der Ferne betrachtet waren wir weiße Gesichter in einem weißen Geländewagen. Er hatte uns für „Thomson-Leute" gehalten, die gekommen waren, um ihn zu holen.

„Wir sind Opfer unseres eigenen Naturschutzes", sagte mir Maanda Ngoitiko an einem anderen Tag. Ngoitiko ist die Gründerin des Pastoral Women's Council (PWC), einer Organisation von Massai-Frauen, die Stipendien für Mädchen ermöglicht und landesweit Frauenrechtsgruppen organisiert. Das Erscheinen der Touranbieter hat sie jedoch in den Konflikt um das Land hineingezogen. PWC war die treibende Kraft hinter dem Sieg gegen die OBC-Expansion voriges Jahr und Ngoitiko ist eine Schlüsselfigur des Widerstands gegen Thomson Safaris. Vertreter der Firma geben ihr im Gegenzug aber die eigentliche Schuld am Konflikt: Sie behaupten, Ngoitiko würde nur von gewaltsamer Landnahme und Landraub sprechen, um den Bekanntheitsgrad von PWC zu steigern und so Gelder von liberalen weißen Spendern zu sichern.

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„Thomson Safaris und die Regierung haben mich wiederholt und nachdrücklich beschuldigt, den Konflikt anzufachen", sagte sie mir. „Ehrlich, das hier ist meine Heimat. Hier liegt mein Vater begraben. Das hier ist mein Leben. Es ist auch meine Pflicht, für dieses Land und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Thomson Safaris kann Milliarden [Dollar] in die Region investieren, wir wollen einfach nur unser Land zurück. Das haben wir ihnen schon oft gesagt, doch sie wollen es einfach nicht verstehen."

Als sich die Beschwerden von Massai-Hirten häuften, tat sich Ngoitiko mit den anderen Dorfbewohnern zusammen, um eine Strategie zu entwickeln: eine neue Klage gegen die Rechtsübertragung auf Thomson Safaris. Drei an das Enashiva-Land angrenzende Dörfer reichten 2010 mit dieser Begründung Klage ein. Der Prozess hat Ende letzten Jahres im Obergericht von Tansania begonnen und wurde am 11. Mai fortgesetzt.

Angesichts der Feindseligkeit gegenüber Journalisten, von der man mir berichtet hatte, machte ich mir keine großen Hoffnungen darauf, Zugang zum Grundstück von Thomson Safaris zu erhalten. Doch der Geschäftsführer der Firma in Arusha arrangierte auf meine Bitte hin kurzfristig einen Termin. Wenig später versank ich in einem der Kunstledersessel im Foyer des Enashiva Nature Refuge und blickte auf eine schwarzweiße Nahaufnahme eines Löwenpaares, das aneinander geschmiegt in die Ferne blickte. Eine Yogamatte schaute unter einem Sofa hervor.

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Mir gegenüber lehnte sich Daniel Yamat, seit vielen Jahren Projektmanager bei Enashiva, auf einem rotschwarzkarierten Sofa zurück. „Wir [Menschen] sind egoistisch", begann er. „Wir glauben, der Lebensraum gehört uns. Aber was ist mit den Tieren?" Als Thomson Safaris die Rechte an dem Land bekam, „kriegte man kaum eine Gazelle oder ein Zebra zu Gesicht", sagte er. Innerhalb von drei Jahren sei eine Familie von 36 Giraffen zu Stammgästen geworden, und heute, nach fast einem Jahrzehnt, könnten Besucher regelmäßig Gnus, Giraffen, Zebras und Wildhunde erspähen. Selbst Leoparden und Geparden würden sich manchmal blicken lassen. Yamat sagte, die Gäste könnten sich an den Tieren erfreuen, ohne sich mit dem großen Andrang im Serengeti-Nationalpark he­rumzuschlagen, und sogar zu Fuß auf Safari gehen statt nur mit dem Auto. Bei Enashiva ginge es darum, „durch die Kunst der Koexistenz eine Welt zu schaffen, in der wir Tiere schützen und der Mensch sie nicht gefährdet".

Außerdem kämen Gäste nach Enashiva, um eine „au­thentische Massai-Erfahrung" zu machen. In anderen Teilen des Landes besuchen Touristen zwar Bomas, doch „vieles davon ist gestellt. Hier bekommt man einen echten Eindruck", sagte er.

Yamat pries die wohltätige Arbeit der Firma in der Region an und sagte mir, Thomson Safaris strebe danach, ein guter Nachbar und ein regionales Unternehmen zu sein. Die Mitarbeiter seien fast ausschließlich Massai und die Firma setze ihre Fahrzeuge als Krankenwagen ein, wenn Dorfbewohner ins Krankenhaus müssten. Er erwähnte mehrmals, dass in der Region während der Dürre 2009 viel mehr Rinder gestorben wären, wenn Thomson Safaris damals nicht die uneingeschränkte Nutzung als Weideland genehmigt hätte.

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Er sagte auch, es sei Teil der Vision seiner Firma, „sie in die Lage zu versetzen, sich zu bessern"—er sprach durchgehend in der dritten Person von seiner eigenen Volksgruppe. Er erklärte, eine Familie brauche nur noch 7,5 Kühe pro Person, um versorgt zu sein, während es vor wenigen Jahren noch 15 waren. „Schulbildung und medizinische Versorgung sind der Weg in die Zukunft", sagte er, und außerdem müsste mit der von Tourismusanbietern ermöglichten Entwicklung und Infrastruktur die Lebensqualität auch in anderen Aspekten verbessert werden. Die Anwohner davon zu überzeugen sei eine Herausforderung. „Was der Bauer nicht kennt …", sagte er.

Im Hinblick aufs Weiden sagte Yamat, es seien täglich Hirten auf dem Land und die meiste Zeit ließe man sie einfach gewähren, vor allem da die acht Späher der Firma unmöglich die gesamten 50 Quadratkilometer überwachen könnten. Wenn man Hirten finde, dann würden sie „höflich gebeten", ihre Kühe vom Grundstück zu entfernen, wo­raufhin die meisten Hirten sich laut Yamat fügten. Was die „Rinderfestnahmen" anginge, von denen ich gehört hatte, so handle es sich dabei um gelegentliche Fälle, in denen die Späher eine hirtenlose Herde anträfen und sie zur Sicherheit „verwahrten", bis der Besitzer sie abhole.

Die Festnahmen von Hirten und Vorwürfe der Polizeigewalt schob er auf Massai, die aggressiv auf die Diplomatie der Späher reagieren würden. Yamat zeigte mir Bilder einer blutenden und bandagierten Thomson-Wache, die bei einem Zwischenfall mit einem Hirten im Juni 2014 verletzt worden war. „Wenn jemand von der Polizei festgenommen wurde, dann nicht wegen Weideaktivität", sagte er, „sondern weil sie herkommen, um uns anzugreifen."

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Die Behauptung, Anwohner seien manchmal die Aggressoren, wurde später von anderen bestätigt. „Sie kamen, um uns wehzutun", sagte ein junger Mann, den ich Leroy nennen werde und dem ich in Arusha begegnete. Er hatte fast ein Jahrzehnt lang in Enashiva und auf anderen tansanischen Thomson-Safaris-Ländereien gearbeitet und kurz vor unserer Begegnung gekündigt. Die einzigen Vorfälle, die er erlebt habe, seien Fälle gewesen, in denen die Dorfbewohner Streit gesucht hätten, wie etwa, als eine Gruppe im Februar 2014 „mit Pfeil und Bogen bewaffnet" im Basislager erschienen sei und Thomson-Angestellte bedroht hätte (es gab zu der Zeit keine Gäste). Die Wachen hätten die Polizei gerufen und die Gruppe habe sich zerstreut, als die Beamten Schüsse in die Luft feuerten, sagte Leroy.

Yamat hatte zwei Begründungen dafür, warum seine Firma das Opfer einer kleinen Gruppe Einheimischer geworden sei. Zum einen seien das alte Klanrivalitäten, die sich Außenstehenden nur schwer erschlössen. Weil Thomson Safaris mit neuen Arbeitsplätzen und ihrer wohltätigen Arbeit für alle örtlichen Klans die alten Strukturen aufgebrochen habe, hätten die ehemals mächtigsten Gruppen aus Rache Lügen über die Firma verbreitet.

Der zweite Grund sei Maanda Ngoitiko, die Frauenrechtlerin, die für Thomson Safaris und seine Unterstützer zu einer Obsession geworden ist. „Sehen Sie sich das nur mal an", sagte Yamat und reichte mir einen Ausdruck von der PWC-Website, auf dem die Spendengeber für 2011 und 2012 aufgeführt waren. Er erklärte, bei genauerem Nachforschen würde ich erkennen, dass Ngoitiko den Konflikt mit Thomson Safaris nur erfinde, um sich zu bereichern und ihren internationalen Bekanntheitsgrad zu steigern. Außerdem nehme sie Geld von einem konkurrierenden Touranbieter, um Thomson Safaris von dem Land zu verdrängen. Er versicherte mir, das von Thomson Safaris geplante Tagesprogramm würde mir helfen, die Wahrheit über diesen ganzen fingierten Konflikt zu erkennen.

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„Wir handeln stets mit den besten Absichten", sagte Yamat. „Aber wir bekommen trotzdem unerwünschte Ergebnisse."

Als ich Yamats Auto in meinem eigenen folgte und wir Enashiva verließen, hatte ich ein gutes Gefühl. Ich war noch nicht verhaftet worden wie die anderen Journalisten und ich war dabei, Thomson Safaris' Seite der Geschichte zu hören. Yamats Auto hielt auf halbem Weg zurück nach Sukenya unerwartet auf einem leeren Feld. Dutzende Massai erschienen am Horizont und näherten sich uns. Die Firma hatte ohne mein Wissen eine riesige Versammlung organisiert, damit ich die Meinungen der Einheimischen aus erster Hand hören konnte. Yamat blieb nicht—„damit Sie sehen, dass das hier neutral ist"—und übergab uns stattdessen an einen Dorfvorsitzenden namens William Alias, der sicherstellen wollte, dass es uns an nichts mangelte.

Im spärlichen Schatten kahler Bäume stand ich zwischen einer riesigen Gruppe Männer auf der einen Seite und einer genau so großen Anzahl Frauen auf der anderen. Ich stellte mich selbst, meinen Fotografen und meinen Dolmetscher vor und trat dann zurück, damit sie ihre Meinungen zu Thomson Safaris, Tourismus, Entwicklung und dem Leben als Massai im 21. Jahrhundert mitteilen konnten. Ich bat darum, dass Männer und Frauen sich beim Sprechen abwechselten.

Der Erste, der aufstand, war ein Mann namens Gabriel Olikilie. „NGOs sind ein Krebsgeschwür an unserer Gesellschaft!", sagte er in Bezug auf PWC und andere lokale Organisationen, die die Kampagne gegen Thomson Safaris unterstützen. Dann hielt er eine zehnminütige Tirade in perfektem Englisch. „Ständig auf Facebook schreiben, bla, bla, bla, und Investoren terrorisieren, damit sie den Armen nicht länger helfen. Wir brauchen sie! Amerika, wir brauchen Investoren! Europa, wir brauchen Investoren!", wetterte er. „Wir müssen unser eigenes Land zu unserem Vorteil nutzen. Wir können nicht für immer in Unwissenheit und Armut leben. Die NGOs halten uns davon ab, uns weiterzuentwickeln." Als er geendet hatte, wollte er sich schon setzen, doch ich erinnerte ihn daran, alles noch einmal auf Massai zu sagen, sodass alle ihn verstehen konnten. Widerwillig kam er der Bitte nach.

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Ein Mann stand auf, um zu widersprechen. Er nannte die Versammlung eine Farce. Nur bestimmte Leute, nämlich jene, die sich positiv über die Firma äußern würden, seien über das Treffen informiert worden, sagte er. Dennoch hörte ich mir fast drei Stunden lang Aussagen darüber an, wie viel Gutes Thomson Safaris für die Region getan habe. „Sie bringen uns mit ihren Fahrzeugen ins Krankenhaus",sagte ein Mann, nachdem der erboste Kritiker sich gesetzt hatte. „Sie haben uns Schulen gebaut und wollen uns ein besseres Leben ermöglichen", fügte eine Frau hinzu. Mehrere Frauen sagten, sie seien dankbar für das zusätzliche Einkommen, das sie mit dem Verkauf von Perlenstickereien an Touristen verdienen.

Nach dem Treffen ging ich mit meinem Dolmetscher auf mehrere Leute zu und bat um Einzelinterviews für den Folgetag. Direkt im Anschluss war ich zu erschöpft. Zu diesem Zeitpunkt war ich im fünften Monat schwanger. Ich sagte Alias, dem Dorfältesten, der das Treffen organisiert hatte, dass wir unsere geplanten Besuche bei von Thomson finanzierten Projekten auf den folgenden Tag verschieben müssten. Er schien der Meinung zu sein, dass ich verpflichtet sei, ihn zu interviewen; ich versicherte ihm, dass ich das tun würde, doch erst am Ende des Tages, nachdem ich mit den anderen gesprochen hätte. Er bestand darauf, auf dem Weg wenigstens eine Schule zu besuchen, und ich willigte ein. Wir folgten seinem Auto, doch als wir sahen, dass er uns in die entgegengesetzte Richtung unserer Pension führte, sagten wir ihm, wir würden umkehren. Er war nicht erfreut.

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Am folgenden Morgen führte ich ein Interview in unserer Pension. Ich war gerade fertig, als Noah, mein Fotograf (der auch mein Bruder ist), auf mich zukam und sagte: „Wir haben ein Problem."

Noah brachte mich zu einem dürren, schmallippigen Mann mit angespanntem Kiefer, der im Speiseraum unserer Pension wartete. Er trug einen teuren Anzug und einen feindseligen Ausdruck. Er sagte, wir sollten uns hinsetzen, und stellte sich als Elias Wawa Lali, District Commissioner des Bezirks Loliondo, vor. Er verlangte, unsere Pässe und Visa zu sehen. Ein paar Minuten darauf saß ich mit dem Sicherheitschef von Loliondo zusammen. „Was passiert in Ihrem Land, wenn jemand gegen das Gesetz verstößt?", fragte er, während er meinen Reisepass durchblätterte. „Lässt man ihn einfach laufen?"

Es folgte ein dreistündiges Verhör. Die Regionalbeamten, die uns befragten, fingen mit dem Vorwurf an, wir hätten ohne elterliche Erlaubnis Fotos von Kinder gemacht. Das war seltsam, wenn man bedenkt, wie viele Ausländer täglich in Tansania Fotos von Massai-Kindern machen. Dann behaupteten sie, unsere Visa seien nicht ordnungsgemäß, doch diesen Vorwurf mussten sie fallen lassen, nachdem ihr eigener Einwanderungsbeamter eintraf und ihn bestritt. Sie waren auch wütend, dass wir angebliche Vorschriften miss­achtet hätten: Bei unserer Ankunft hätten wir uns beim District Commissioner als Journalisten vorstellen und um seine persönliche Erlaubnis bitten sollen (das haben wir wirklich nicht getan, da wir lieber diese Story schreiben wollten statt wie andere Journalisten sofort des Landes verwiesen zu werden).

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Doch der Fokus verlagerte sich sehr bald von unseren angeblichen Regelverstößen auf unsere Motivation. Sie wollten wissen, wer uns „nach Loliondo geschickt" hätte, und waren nicht zufrieden, als wir erklärten, wir seien aus eigenem Antrieb gekommen. Sie nahmen Noahs Kameras und durchsuchten die Fotos nach Gründen, uns festzunehmen. Als klar war, dass wir unsere Quellen nicht verraten würden, bearbeiteten sie eine Stunde lang unseren Dolmetscher, wobei sie drohten, ihn „im Gefängnis verrotten" zu lassen, wenn er nicht mit der Sprache herausrückte. (Trotz großer Nervosität hielt er stand.)

Ich stand abseits und rief panisch bei Anwälten an, als das Baby in meinem Bauch anfing, wie wild zu treten. Noah und ich kommunizierten per SMS, bis man uns verbot, unsere Handys zu benutzen. Als ich darauf bestand, dass sie unserem Dolmetscher die Gelegenheit gaben, uns zu übersetzen, was sie zu ihm sagten, befahl ihm der District Commissioner, kein Wort zu übertragen, und herrschte mich an: „Sie halten den Mund!"

Ich war zwar erschüttert, aber nicht überrascht. Uns war klar, wer den District Commissioner zu uns geschickt hatte. Noah hatte gesehen, wie er mit Alias, Thomson Safaris' Mann vor Ort, den ich am Tag zuvor wütend gemacht hatte, angekommene war. Noah konfrontierte ihn und fragte, ob er derjenige gewesen sei, der uns den örtlichen Behörden überliefert hatte. „Ja", sagte Alias, „das war ich."

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Also spielten wir das letzte Ass in unserem Ärmel. Nach stundenlangem Hin und Her und nicht besonders subtilen Haftandrohungen, und als es absehbar schien, dass man uns des Landes verweisen würde (oder Schlimmeres), erklärten wir, dass wir vorgehabt hätten, unseren letzten Tag damit zu verbringen, Thomson-Safaris-Projekte zu besuchen, mit ihren Unterstützern zu sprechen und wie versprochen Alias zu interviewen—und das war nicht einmal gelogen. Plötzlich gab man uns eine 24-stündige Gnadenfrist, unter der Bedingung, dass wir unserem geplanten Programm folgen und am nächsten Tag um 7:30 Uhr abreisen würden. Alias und seine Männer bestanden darauf, uns bis zum Auto zu begleiten; einer von ihnen erklärte später, der Commissioner hätte ihnen befohlen, uns nicht aus den Augen zu lassen.

Die Besichtigung der wohltätigen Firmenprojekte dauerte mehrere Stunden. Wir sahen einen von OBC finanzierten Brunnen, von Thomson Safaris gebaute Behausungen für Lehrkräfte sowie eine von der Firma mitfinanzierte Schule. „Sehen Sie", sagte einer der Männer zu mir, „es sind die Investoren, die sich wirklich um die Massai kümmern."

Mein letztes Interview führte ich mit einem Mann aus Sukenya namens Olegelumo Olaise. „Die Thomsons sind gute Menschen, denn sie versuchen, uns zu helfen", sagte er eingangs. Doch als wir uns länger unterhalten hatten, sagte er, sein Herz habe „sich mit Schmerz gefüllt", als Thomson Safaris das Land übernahm, denn seine Familie sei auf das Weideland angewiesen. Er gab zu, trotz des Verbots noch immer dorthin zu gehen; seine Herde sei mehrmals von den Wachen der Firma „festgenommen" worden. Er sagte mir, er laufe weg, wenn sich Thomson-Fahrzeuge näherten, denn er habe Angst, „erschossen, bestraft oder verhaftet" zu werden.

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Ich wusste, dass ich nach meiner Abreise aus Tansania mit Judi Wineland und Rick Thomson persönlich sprechen musste. Leichter gesagt als getan. Sie lehnen oft Interviews ab und haben sogar schon einen anonymen Blogger verklagt, der über die hier erwähnten Vorwürfe geschrieben hatte. (Der Fall wurde vor Kurzem geschlossen; die Seite wurde aus dem Netz genommen.) Wir schrieben mehrere E-Mails hin und her, bis sie sich zu einem mündlichen Interview bereit erklärten. Wie schon der District Commissioner fragten auch sie, ob Ngoitikos Gruppe oder eine andere NGO mit einem persönlichen Interesse an dem Konflikt mich angeheuert habe. „Ich habe große Bedenken mit Ihnen zu sprechen", schrieb mir Wineland in einer ihrer ersten E-Mails. „Haben Sie schon einmal in Erwägung gezogen, dass die Geschichte, die man Ihnen erzählt hat, komplett erfunden sein könnte? […] Hier stimmt etwas nicht, Jean."

Doch sie gaben nach und wir sprachen über Skype: ich zu Hause in Vietnam und sie „an einem windigen Ort", wie sie sagten. „Wenn wir verreisen, dann sagen wir niemandem, wohin."

Unsere Unterhaltung dauerte über zwei Stunden. Sie fingen ganz am Anfang an, mit Winelands Leidenschaft für Reisen und kulturellen Austausch. Die Beziehung des Paars zu Tansania begann in den frühen 1980ern in der Nähe des Natronsees, einem Massai-Gebiet unweit von Loliondo, wo es noch immer eine Plakette gibt, die Wineland und eine Gruppe von Frauen als Gründerinnen der ersten Schule der Region ehrt. Sie sprach von ihren „sehr guten Massai-Freunden" und erinnerte sich an „tagelange Unterhaltungen mit Dorfältesten" über Bildung, das Patriarchat und die Zukunft der Massai. „Sie hatten keine Zweifel, dass der Tourismus gut für sie sein würde", sagte sie.

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Die Zeitungsannonce 2006 für das Land in Loliondo sei daher „genau die richtige Gelegenheit" gewesen, „um die Arbeit und die Leidenschaft fortzusetzen, die am Natronsee ihren Anfang nahm". Sie hatten bereits drei andere Firmen in Tansania, aber keine so nah an ländlichen Massai-Dörfern, wo die Einheimischen ihrer Überzeugung nach von der ­wohltätigen Arbeit profitieren konnten, die das Paar er­möglichen wollte.

Ich fragte Wineland, ob sie die Geschichte des Landes und der Region vor dem Kauf recherchiert habe. „Wussten wir, dass es einen Konflikt gab? Nein, das wussten wir nicht", sagte sie mir. Sie hätten vor dem Kauf nicht mit den Einheimischen gesprochen. Als Wineland schließlich hörte, dass manche der Ansicht seien, das Land gehöre den Einheimischen und hätte nicht verkauft werden dürfen, zeigte sie sich ungerührt. „Es gibt da draußen Millionen Geschichten", sagte Wineland. Sie betonte die Transparenz des Kaufs und bezog sich auf eine Untersuchung der tansanischen Regierung, der zufolge die Firma das Land legal erworben hat.

Auf die Misshandlungsvorwürfe angesprochen, bestanden sie darauf, dass ihre Späher „wirklich nett zu den Leuten" seien und wüssten, dass ihnen die Kündigung drohe, wenn sie einem Hirten ein Haar krümmen sollten. Die Polizei werde nur dann eingeschaltet, wenn die Sicherheit der Mitarbeiter oder Gäste bedroht sei, sagten sie. In Bezug auf die mutmaßlichen Gewalttaten und Schießereien, forderten sie mich heraus, einen Fall zu finden, der unwiderlegbar „wahr" sei. Ich sagte, sie hätten recht, Krankenhausdokumente würden schließlich nur Verletzungen zeigen, und nicht, dass ihre Wachen sie verursacht hätten. Wer könnte schon sagen, ob die Leute, die wegen Landfriedensbruchs verhaftet wurden, nicht drauf und dran gewesen waren, Speere auf Gäste oder Mitarbeiter zu werfen? Es gab keine Dokumente, die bewiesen, dass ein hochrangiger Vertreter der Firma Polizisten 2006 befohlen hatte, Timans Boma niederzubrennen. Ich hatte gesucht und gesucht, und es gab keine greifbaren Beweise, die Timans Schussverletzung mit einem von Thomson Safaris beauftragten Polizeibeamten in Verbindung brachten. In jedem Fall steht das Wort des Opfers gegen das der Firma. Es könnte alles nur eine weitreichende Verschwörung sein.

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Doch auf die Frage, warum jemand so weit gehen sollte, um Thomson Safaris in Verruf zu bringen, hatten die Firmengründer keine Antwort. Sie erwähnten mehrmals rivalisierende Klans und verdeckte Provokateure als mögliche Erklärungen.

Zu diesem Zeitpunkt fiel es mir bereits schwer, das zu glauben. In Loliondo hatte man mir gesagt, Thomson Safaris nutze historische Stammesfehden zu seinem Vorteil, und nicht umgekehrt. Für die Behauptung, die örtlichen Aktivisten hätten finanzielle Motive dafür, den Besitz der Firma anzufechten, hatte ich bereits bei meiner Überprüfung von Yamats Aussagen keine Belege gefunden. Ngoitikos NGO gab VICE Zugang zu all ihren Finanzdokumenten, und ich unterhielt mich mit Spendern. Ich fand nichts, das darauf hingedeutet hätte, dass sie den Streit nutzte, um sich zu bereichern. Auch war Ngoitiko noch nie bei einer Konkurrenzfirma angestellt gewesen, wie Yamat behauptet hatte. Yamat hatte mir viele weitere „Anhaltspunkte" gegeben, die allesamt Sackgassen waren, wie etwa die Theorie, dass Timans Wunde nicht von einer Kugel stammen könnte—was ein forensischer Pathologe, den ich in den USA zur Rate zog, widerlegte 1.

Ich erwähnte Wineland und Thomson gegenüber, dass ich in Arusha mit einem Experten für Grundeigentum gesprochen hatte, der anonym bleiben wollte. „Es steht außer Frage, dass die Regierung auf Thomson Safaris' Seite ist", hatte er gesagt. „[Die Regierung] zollt Investoren Respekt, so lange sie Steuern zahlen und touristische Einnahmen ins Land bringen. Der Bevölkerung gegenüber behauptet die Regierung, die Umwelt sei ihre höchste Priorität. Investoren können sogar Menschenrechtsverletzungen begehen und die Regierung sieht einfach weg."

„Wenn [an unserer Arbeit] etwas illegal wäre", antwortete Thomson hierauf, „hätte man dem schon lange ein Ende gesetzt und uns des Landes verwiesen."

Wineland sagte, die Firma habe schon immer mehr tun wollen, als nur Schulen zu bauen. Sie wolle „die Zügel aus der Hand geben" und den Einheimischen auf lange Sicht die Kontrolle geben, doch dieser Schritt liege noch in weiter Ferne. „Wir müssen ihnen beibringen, wie sie das alles selbst machen können", sagte sie. Ihr erster Schritt war es, eine Gruppe tansanischer Massai nach Kenia zu bringen, um dort alternative Modelle des „Community-Tourismus", bei dem die Dörfer ein Mitspracherecht haben, kennenzulernen. Eine weitere Idee sei es, Einheimische in Wildtiermanagement auszubilden, bevor Thomson Safaris ihnen die Kontrolle gibt. In Loliondo erwähnte mir gegenüber niemand diese langfristige Zukunftsvision. Wineland sagte, der Konflikt in der Gemeinde habe alle ihre Bemühungen blockiert. „Seit neun Jahren kämpfen wir bereits darum, diesen Schritt möglich zu machen", sagte Thomson.

Bevor wir unser Gespräch beendeten,versuchte ich eine mögliche Erklärung dafür, wie sich nach fast einem Jahrzehnt die Wahrnehmungen der beiden Seiten so extrem voneinander unterscheiden konnten. In Loliondo hatten mir mehrere Personen gesagt, sie hätten Wineland und Thomson kennengelernt und sie für wahrhaft gute Menschen befunden. Vielleicht, so sagten mir Einwohner von Loliondo, war alles schiefgelaufen, weil Angestellte vor Ort bei der Durchsetzung der Pläne übereifrig seien. Vielleicht wussten Wineland und Thomson einfach nicht davon.

Das Paar bestritt dies allerdings ohne Umschweife. Sie sagten, sie würden Enashiva mehrmals im Jahr besuchen und dabei immer Yamat und ihre Späher—denen sie voll vertrauten—um detaillierte Berichte bitten.

„Aber haben Sie in all den Jahren noch nie versucht, direkt mit den Individuen zu sprechen [die diese Anschuldigungen machen]?", fragte ich.

„Manche von ihnen sind nicht einmal auffindbar!", warf Thomson ein und murmelte etwas darüber, dass die Polizei behauptet habe, manche Festnahmeberichte seien mit erfundenen Namen ausgefüllt worden.

„Aber manche findet man", sagte ich. „Ich habe mit ihnen gesprochen."

Es war kurz still, dann sagte Wineland: „Persönlich? Nein."


1 Die Polizei von Arusha wollte keine der Vorwürfe in diesem Artikel kommentieren, und ein Beamter sagte lediglich, er habe „keine Zeit, mit Journalisten über Verbrechen zu reden", vor allem, da Journalisten ohnehin nichts täten, als Leute hinters Licht zu führen. Der District Commissioner Elias Wawa Lali ist diesen Februar in den Ruhestand getreten. Auf meine Bitte um Kommentar sagte er: „Ich bin pensioniert und alt. Ich kann keine Störungen mehr gebrauchen."

Makko, der Vorsitzende des Dorfs Mondorosi, stand an einem kühlen Dezembermorgen vor dem einstöckigen Gebäude des Obergerichts in Arusha mit Ndekerei und mehreren anderen Einwohnern von Loliondo zusammen. Ngoitiko war ebenfalls auf dem Weg. Kurz vor 9 Uhr gingen die Männer in ihren Shukas und Secondhand-Sakkos den schmalen Korridor entlang, gefolgt von Anwälten in langen schwarzen Roben. Vor der Tür des Gerichtssaals hatte jemand einen alten Rasenmäher stehen lassen.

Ich wohnte den ersten Tagen des Prozesses der drei Loliondo-Dörfer gegen Thomson Safaris bei. „Dieser Fall basiert auf einem rechtlichen Umstand namens ‚ungerechtfertigter Besitz'", sagte mir Rashid S. Rashid, einer der Anwälte der Massai-Kläger. „Wenn der Eigentümer eines Grundstücks den Zutritt nicht verbietet und eine gewisse Zeit lang nichts dagegen unternimmt, dass andere das Land nutzen—in Tansania sind es zwölf Jahre—dann geht das Grundstück wieder in den Besitz dieser Nutzer über. Es ist wie Hausbesetzerrecht, nur viel stärker." Rashid führt für die Massai das Argument ins Feld, dass die Brauerei, die das Land an die Inhaber von Thomson Safaris verkaufte, bereits 16 Jahre zuvor die Ländereien verlassen hatte. Der Verkauf sei deswegen nicht rechtens gewesen und die Rechte an dem Land sollten wieder auf die rechtmäßigen Eigentümer, die Dörfer, übergehen. Wineland und Thomson lehnten es ab, einen Kommentar zum Prozess abzugeben, und erteilten ihren tansanischen Anwälten keine Erlaubnis zu einem Interview.

Ganz gleich, wie der Prozess ausgeht, die Bedeutung dieses Rechtsstreits geht weit über das Schicksal einer Fläche von 50 Quadratkilometern hinaus. „Dies ist keine Geschichte von ungewöhnlich schädlichem Naturschutz", sagte Ben Gardner, Anthropologe und Vorsitzender des Lehrstuhls für Afrikanistik der University of Washington. Das Einzigartige an diesem Fall sei die Tatsache, dass die Kläger den kontroversesten Standpunkt vertreten würden, den es im Naturschutz gibt: das Land seinen ursprünglichen Besitzern zurückzugeben. „Wenn etwas zum Verkauf stand, wie kann ich dann als Käufer ein Unrecht begangen haben? Investoren wird ein moralischer Heiligenschein aufgesetzt. Sie müssen weder für die Enteignungen und den Kolonialismus der Vergangenheit noch für die Folgen des Naturschutzes Rechenschaft ablegen."

Oft werden indigene Gruppen wie die Massai vertrieben und dann dazu aufgefordert, sich anzupassen. „Wir neigen dazu, den Opfern die Schuld zu geben, und wir merken es nicht einmal", sagte Charles Geisler, Professor für Entwicklungssoziologie an der Cornell University und Experte für Umweltschutzflüchtlinge. „Es ist immer an den Umweltschutzflüchtlingen, sich anzupassen. Wir erlegen ihnen geringere Weidequoten auf und schränken ihre Wasserrechte ein … Bis ihnen irgendwann keine Wahl mehr bleibt, als das Ökosystem überzustrapazieren. Oder sie migrieren doch noch und verlieren mit ihrer Heimat schlußendlich auch ihre Identität."

Die Massai versuchen, ein Gleichgewicht zwischen den Optionen zu finden, die man ihnen gelassen hat. Dabei kommen nicht alle zu denselben Überzeugungen. Nach meiner Reise dachte ich immer wieder an die Gemeindeversammlung, die Thomson Safaris für uns organisiert hatte. Der Stamm mag einen kriegerischen Ruf haben, doch alle waren extrem höflich. Es waren die Mimik, die subtilen Geräusche und die stillen Proteste (beispielsweise die Gruppe Frauen, die während der Rede eines Mannes aufstand und ging), die mich verstehen ließen, warum der Priester aus Sukenya am ersten Tag in einem Graben sitzen wollte. Dies war eine Gemeinschaft, die davor stand, auseinandergerissen zu werden.

Es ist nicht immer so schwierig. Es gibt Modelle für gemeinschaftsbasierten Tourismus in Tansania und anderen Ländern, bei denen Einheimische die Rechte am Land behalten und über die Dinge verhandeln können, die ihnen am wichtigsten sind, ob Weideerlaubnisse, Anbauflächen oder Fischereirechte. Zum Beispiel pachtet die Firma &Beyond unweit von Sukenya Land von einer örtlichen Gemeinde, um dort Touren anzubieten. Die Mitglieder der Gemeinde schränken ihre Weideaktivität ein und überwachen die Einhaltung dieser Vorgaben selbst. Die Situation sei nicht perfekt, sagten uns sowohl die Firma als auch die Dorfbewohner, doch beide Seiten profitieren von einem friedlichen Zusammenleben.

Doch in Loliondo ist es möglicherweise zu spät für einen Kompromiss. Inzwischen gibt es zwei wahrscheinliche Szenarien. Die Gerichte könnten im aktuellen Prozess eine faire Lösung finden. Wineland und Thomson sagten mir, sie würden auf jeden Fall Berufung einlegen, falls die Dörfer gewinnen sollten, doch wenn sie in der zweiten Instanz scheitern sollten, würden sie das Urteil respektieren und Enashiva verlassen.

Sollten die Dörfer den Fall verlieren, ist eine glimpfliche Lösung wohl so gut wie ausgeschlossen. Mehrere Bewohner von Loliondo sagten mir, sie seien zwar stolz darauf, Klage eingereicht zu haben, doch sie würden dem berüchtigten tansanischen Rechtssystem nicht vertrauen, da es sogar noch korrupter sei als die Politiker des Landes. Wenn die Seite mit mehr Macht und Geld gewinnen sollte, ist es zweifelhaft, ob jemand die Massai ein weiteres Mal beschwichtigen kann. „Wir werden nicht länger gejagt", sagte der Dorfälteste Lemgume zu mir, als wir uns kennenlernten. „Jetzt jagen wir. Das hier ist schließlich unser Boden und wir werden ihn zurücknehmen."


Fotos von Noah Friedman-Rudovsky