​Drogensüchtige Eltern, misshandelte Kinder und der Papst

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​Drogensüchtige Eltern, misshandelte Kinder und der Papst

Warum bekommt ein Kind drogensüchtige Pflegeeltern und wer ist verantwortlich, wenn Kinder sterben? Wir haben eine Expertin gefragt.

Die elfjährige Chantal starb, nachdem sie eine Methadontablette ihrer Pflegeeltern eingenommen hatte. Die Pflegeeltern wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt, wogegen von den Angeklagten als auch der Staatsanwaltschaft Revisison eingelegt werden soll. Wenige Tage zuvor wurde in Freiburg ein dreijähriger Junge von seinem Vater erschlagen. Der Junge war vorher bereits mehrmals im Krankenhaus gewesen und die Ärzte waren sich sicher, dass er misshandelt wurde. Offensichtlich gibt es Löcher im System, durch die zwar nur wenige Kinder fallen, aber trotzdem ist jedes tote Kind eins zuviel.

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Dr. Saskia Etzold ist Rechtsmedizinerin und hat die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité mitinitiiert. Letztes Jahr hat sie zusammen mit Professor Michale Tsokos das Buch Deutschland misshandelt seine Kinder veröffentlicht, in dem es um ebendiese Probleme geht, wegen derer immer wieder, leider auch manchmal tödliche endende, Probleme entstehen. Wir haben mit ihr über Chantal, misshandelte Kinder und drogensüchtige Eltern gesprochen.

VICE: Was sagen Sie zum Fall Chantal?
Dr. Saskia Etzold: Es ist natürlich unheimlich schwierig, wenn ein Pflegekind verstirbt, weil es Drogen zu sich nimmt. Es ist eine alte Diskussion, inwieweit Eltern, die offensichtlich dieses Problem und offensichtlich so etwas auch im Haus haben, sich um Kinder kümmern können und wie kann man sichergehen, dass die Kinder auf keinen Fall Zugang dazu haben. Eine Vergiftung mit Methadon ist ja nichts, was zum ersten Mal oder seitdem nicht mehr passiert ist. Es gab ja zwischenzeitlich auch ein paar andere Fälle, wo Kinder was gefunden haben. Man muss sich klar darüber sein, dass Kinder, die etwas finden, was süßlich riecht und süßlich schmeckt, auch ran gehen. Medikamente haben deshalb in der Regel einen Sicherheitsverschluss, um Kinder davor zu schützen.

Warum gibt man ein Pflegekind in eine Familie, in der die Eltern drogenabhängig sind?
In der Suchttherapie werden ja häufig die Abhängigkeiten differenziert. Man unterscheidet zwischen jemandem, der immer noch an der Nadel hängt, und jemandem, der seit Jahren in einem Entzugsprogramm ist. Kinder werden in der Regel nicht aus den Familien rausgenommen, wenn ihre Eltern chronisch Drogen konsumieren. Ich bin der Meinung, dass ein Kind während einer Drogenersatztherapie nichts in einem Haushalt zu suchen hat. Oder sie müssen diese Therapie so gestalten, dass sie jeden Tag zu ihrem Arzt gehen und die Substitutionsmedikamente vor Ort nehmen. In einem Haushalt, in dem Kinder sind, haben solche Medikamente nichts zu suchen. Es ist für die Kinder eine Gefahr.

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Müssen Pflegeeltern nicht eigentlich einem bestimmten Standard entsprechen?
Soweit ich weiß, müssen Sie keine Drogentests machen, wenn Sie sich als Pflegeeltern bewerben. In Deutschland gibt es einen großen Unterschied zwischen den Ansprüchen, die wir an leibliche Eltern stellen, und denen an Pflege- oder Adoptiveltern. Das ist nahezu grotesk, dass wir einen Unterschied machen, was wir leiblichen Kindern zugestehen, und Kindern, die irgendwo anders hinkommen. Kinder, die bei ihrer Familie wohnen, müssen oft sehr viel mehr ertragen als Kinder, die zu Pflegeeltern kommen. Sie können nicht sagen: „Du kriegst kein Pflegekind." Wenn es aber dein leibliches ist, darfst du es behalten. Pflegekinder haben genauso ein Anrecht auf cleane Eltern wie leibliche Kinder!

Es scheint einen Zwiespalt zu geben zwischen der Resozialisierung der Eltern und dem Wohl der Kinder, oder?
Beides muss getrennt ablaufen. Natürlich geben Sie den Eltern eine Chance, sich zu resozialisieren und ihr Leben in den Griff zu bekommen, aber Sie können in der Zeit nicht das Kind in der Familie lassen und warten, bis etwas passiert. Sie müssen das Kind schützen und den Eltern parallel eine Chance geben und wenn sie genutzt wird, können Sie versuchen, dass das Kind zur Familie zurück kann. Aber Sie können das nicht gleichzeitig in der Familie machen. Wir wollen in unserer Gesellschaft nicht intolerant sein. Aber ist ein chronischer Alkoholiker in der Lage, ein Kind adäquat zu erziehen? Ist der, wenn er seinen Rausch ausschläft oder betrunken ist, in der Lage, ein Kind zu beaufsichtigen?

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Wie kann man das lösen?
Die Familien von jedem Kind, das unter der Obhut des Staates oder der des Wächteramtes steht, müssen ganz genau überprüft werden. Die Familien müssen engmaschig begleitet werden. Pflegeeltern auszusuchen, dort das Kind abgeben und sich dann zurückziehen, funktioniert natürlich nicht.

Und das passiert gerade?
Das große Problem ist ja, dass die Jugendämter gar keine Möglichkeit haben, Familienhilfe zu stellen. Sie sind verpflichtet, sich an freie Träger zu wenden, die das als Dienstleistung anbieten. Die Ämter sehen über Jahre nichts anderes, als die Berichte der Familienhilfe. Die sehen die Familie nicht, die sehen den Alltag nicht, die sehen die Kinder nicht.

Und irgendwann sind die Kinder dann bei Ihnen?
Ich habe es schon mehrmals gesehen, dass Kinder in einem ganz schlechten Zustand oder schwer misshandelt waren, obwohl es Familienhilfe in der Familie gab. Und wenn wir das kritisiert und gesagt haben, dass das nicht angehen kann, sind Jugendamtsmitarbeiter aus allen Wolken gefallen. Die sagen: „Ich lese hier seit Jahren positive Berichte und jetzt kommen Sie und erzählen mir was ganz anderes."

Aber ist das nicht irgendwie kriminell?
Es ist ja immer die Frage, ob die Familienhelfer den Bericht fälschen oder ob sie das so wahrnehmen. Ich hatte auch schon Situationen, in denen ich ein schwer vernachlässigtes Kind gesehen habe, und dann die Helferin, die die Mutter begleitet hat, darauf angesprochen habe. „Sie sind doch die Familienhilfe, wie kann das Kind denn in so einem Zustand sein?" Dann bekam ich zur Antwort: „Ich bin die Einzelfallhilfe der Mutter." Oder wenn ich nach Geschwisterkindern frage: „Für das Kind bin ich nicht zuständig." Es ist natürlich die Frage, wie sie etwas wahrnehmen, ob sie wahrnehmen, dass Sie mit den Eltern gut arbeiten können und die gute Schritte machen, oder ob sie sich primär auf das Kind konzentrieren und schauen, wie es dem Kind geht. Zusätzlich ist es schwierig, wenn Sie das als Dienstleistung anbieten und darauf angewiesen sind, weitere Aufträge zu bekommen. Die Frage ist, ob das Jugendamt nicht unabhängiger entscheiden würde, weil es so oder so kein Geld damit verdient, egal ob das Kind in der Familie bleibt oder nicht.

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In vielen dieser Fälle wird das Kind ja nicht plötzlich umgebracht und alle sind überrascht, sondern oft gab es ja da schon so einige Auffälligkeiten. Wie kann man das erklären?
Bei fast allen Kindern, die wir hier haben, ist es so, dass sie schon häufiger im Krankenhaus waren, bei Ärzten und es auch Berichte darüber gibt. Wenn Sie sich den aktuellen Fall in Freiburg anschauen, da gab es Arztberichte, in denen ganz klar stand: „Das Kind ist misshandelt worden." Und trotz allem ist das Kind zurückgegangen. Oder schauen Sie sich Yagmur an, in Hamburg. Der Chef der Rechtsmedizin hat eine Anzeige gegen Unbekannt gestellt, weil das Kind so schwer verletzt war, dass eine Misshandlung eindeutig war. Obwohl dort dieses Strafverfahren noch lief, ist die Kleine zu ihren Eltern zurückgekommen. Und das Ergebnis ist bekannt.

Also ist das ganze System fehlerhaft?
Das Jugendamt kann ja immer nur das Familiengericht anrufen und hat sehr viele Informationen, die im Strafverfahren auftauchen, überhaupt nicht zur Verfügung. Die Strafverfahren dauern teilweise jahrelang, während beim Jugendamt jetzt Entscheidungen getroffen werden müssen. Der Jugendamtsmitarbeiter geht allein zum Familiengericht. In Deutschland ist es nicht üblich, dass Jugendamtsmitarbeiter einen Anwalt mitbringen dürfen. In England ist es so, dass Anwälte in den Jugendämtern arbeiten und dann mit vor Gericht gehen. Es gibt also in Deutschland keine Chancengleichheit. Familienrichter müssen zwei Jahre als Richter gearbeitet haben, darüber hinaus hinaus haben viele junge Richter keine Erfahrung mit dem Thema Misshandlung. Das sind teilweise junge Menschen mit wenig Lebenserfahrung und die sind dann mit Eltern konfrontiert, die teilweise hochmanipulativ sind und schon seit Jahren in Kontakt mit Ämtern und Gerichten sind und dann noch abgeschirmt vom Anwalt.

Gibt es eine Lösung?
Wir müssen versuchen, vom reaktiven Kinderschutz zum präventiven Kinderschutz übergehen. Wir brauchen mehr frühzeitig ansetzende Projekte. Darüber hinaus müssen alle Beteiligten intensiv rechtsmedizinisch geschult werden. Alle Jugendamtsmitarbeiter, alle Familienhelfer, die Familienrichter, die Kinderärzte.

Denken Sie, dass Gesetze verschärft werden müssen?
Nein, man muss den Gesetzesspielraum, den wir haben, ausnutzen. Das Elternrecht steht im Grundgesetz, das Kinderrecht nicht. Das könnte man explizit mit aufnehmen. Aber weiter oben steht im Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Und dass jeder das „Recht auf körperliche Unversehrtheit" hat. Und zwar ohne die Fußnote „Gilt erst ab dem 18.Lebensjahr in Deutschland". Wir müssen jegliche Form von Gewalt ächten.

Ist das ein gesellschaftliches Problem?
Wenn der Papst sagt, es ist OK, wenn Eltern ihre Kinder schlagen, solange sie das mit Würde tun, frage ich mich, ob der Papst auch denkt, dass es OK ist, Priester zu schlagen, solange es mit Würde geschieht. Gewalt ist, egal wie sie ausgeübt wird, nicht adäquat. Ich bin die Letzte, die sagt, Kinder müssen nicht erzogen werden, aber Sie müssen ein Kind nicht schlagen. Sie können Grenzen auch anders definieren.

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