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The Holding Court Issue

Schwimmen mit Warlords

Nach zwölf Jahren Krieg und kurz vor dem Abzug der internationalen Truppen ist Kevin Sites nochmal durch Afghanistan gereist, um herauszufinden, wie es weitergehen kann.

Warlord Nabi Gechi geht mit dem Autor und seinen Begleitern im schlammigen Kunduz schwimmen.

Im Schutz einer mondlosen Nacht Mitte Oktober 2001 verlud ich am Nordufer des Amudarja tonnenweise Kameraausrüstung und Vorräte auf ein riesiges Pontonboot. Die Pontons dienten normalerweise dazu, die Soldaten der Nordallianz, die auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses die Taliban bekämpften, mit Waffen zu versorgen. Angesichts all der Ausrüstung und der Kollegen schien mir auf dem Floss kaum noch Platz für Sinnbildliches zu sein, doch ich weiß noch, dass ich mich wie eine der verdammten Seelen aus Dantes Göttlicher Komödie fühlte, kurz davor, über den Acheron in die Hölle verschifft zu werden. Die Amerikaner hatten mit ihren Luftangriffen begonnen, und ich war auf dem Weg nach Afghanistan.

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Ich war im Auftrag der NBC News dorthin unterwegs, nur eine Woche nachdem Osama bin Ladens Al-Qaida-Terrornetzwerk die USA mit Flugzeugabstürzen auf das Pentagon und in die Zwillingstürme des World Trade Centers angegriffen hatte. Ich traf im Oktober in Afghanistan ein, um Zeuge des gerechten Zorns und der Vergeltung Amerikas zu werden. Sie wurde schnell und erbarmungslos vollzogen. Während meines ersten Monats vor Ort beobachtete ich, wie die USA al-Qaidas Stützpunkte zerstörten und die Talibanregierung, die ihr Zuflucht geboten hatte, mithilfe der Nordallianz—eines Bündnisses aus größtenteils ethnischen Tadschiken, Usbeken und Hazara-Afghanen—stürzte. Doch damit war der Krieg, wie wir alle wissen, noch lange nicht vorbei. Im Juni, am Vorabend des von Amerika für 2014 geplanten Rückzugs, kehrte ich zum fünften Mal nach Afghanistan zurück, um herauszufinden, was mit dem Land in den zwölf Jahren geschehen war, seit ich es das erste Mal bereist hatte und was dieses Mal nach meiner Abreise passieren würde. Ich reiste auf genau demselben Weg ein wie beim ersten Mal: von Südtadschikistan über den Amudarja nach Nordafghanistan. Der einst stark frequentierte Grenzübergang Kokol-Ai Khanoum, ein Durchlass für Waffen, Spione, US-Spezialkräfte und Journalisten wie mich, war nur noch ein staubiger Abglanz seines ehemaligen Selbst—ein entlegener, heruntergekommener Außenposten im Schatten solider Brücken, die die Amerikaner in der Nähe größerer und belebterer Siedlungszentren erbaut oder repariert hatten, um den Strom von Handelsgütern und Kriegsausrüstung aus und nach Afghanistan zu erleichtern.

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Am Grenzübergang befanden sich am Ufer befestigt noch dieselben Pontons, allerdings unbenutzt, da hier heutzutage kaum noch Ladung hin- und hertransportiert wird. Ich stieg in ein uraltes, rostiges Motorboot, welches nur noch von Schweißnähten zusammengehalten wurde, und überstand die dreiminütige Überfahrt ein zweites Mal ohne zu sinken. Allerdings war ich mir genauso unsicher wie 2001, was oder wer mir auf der anderen Seite begegnen würde.

Auf der ersten Reise nach Afghanistan fühlte ich mich wie die Personifikation des furchtlosen Auslandskorrespondenten: Meine Kollegen und ich näherten uns hoch zu Ross einer Reihe Schützengräben wie aus dem ersten Weltkrieg, in denen wir auf Nordallianz-Kämpfer trafen, die sich mit ihren Taliban-Gegnern über Handfunkgeräte unterhielten, scherzten und Witze rissen, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig umbrachten.

Ende Juni 2013, also zwölf Jahre später, mein Haar und mein Bart wurden langsam grau, waren einige der damaligen Kollegen bereits tot, die Pferde gab es nicht mehr, die Schützengräben waren leer, und ich saß als Beifahrer in einem blauen Toyota Corolla, auf dessen Motorhaube und Seiten in roten Lettern das Wort „Bahmani“—persisch für „Lawine“—auf weißem Untergrund prangte. Ich hatte meinen afghanischen Kollegen und Dolmetscher Matin Sarfraz gebeten, uns ein Auto zu besorgen, das unbemerkt bliebe und nicht die Aufmerksamkeit der Einheimischen oder anderer auf sich ziehen würde, die sich vielleicht neugierig fragten, warum wir kreuz und quer durch Afghanistan rasten. Das Ergebnis war das Bahmani-Mobil, dessen Eigentümer und Fahrer Matins Cousin Dost Mohammad war.

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Ich hatte von meinen Kontakten erfahren, dass Warlords ihren Einfluss unabhängig von der Regierung ausübten. Also bat ich Matin, mich zu einem Warlord namens Nabi Gechi zu bringen, der in einem Distrikt außerhalb der Provinz Kunduz in Nordafghanistan residierte. Nabi Gechis Männer wirkten auf mich wie Piraten. Nicht spindeldürre somalische Piraten, sondern solche, wie sie in den Illustrationen eines Howard Pyle zu finden sind oder auf einem Schiff aus der Mitte des 17. Jahrhunderts: dunkle Turbane, kalter Stahl und stechende Blicke. Ihre Gesichter glichen einem Mikrokosmos der afghanischen Gesellschaft—Turkmenen, Hazara, Usbeken, Tadschiken. Männer, die seit Jahren für Nabi kämpfen, sogar einige, die zuvor zeitweise gegen ihn gekämpft hatten. Aber alles Männer, die ihren Lebensunterhalt mit Blutvergießen verdienten. Um Killer wie diese anzuführen, musst du selbst der beste aller Killer sein. Und sie müssen glauben, dass du nur schwer zu töten bist, wenn überhaupt. Täten sie das nicht, hätte zumindest einer von ihnen schon versucht, das Kopfgeld auf Nabi zu kassieren.

„Auf Nabis Tod sind 500.000 Dollar ausgesetzt“, sagte Mullah Dschilani, ein ehemaliger Taliban-Kämpfer, der jetzt Milizenleutnant ist. „Die Taliban fürchten ihn sehr.“ Vor zwei Jahren, als Dschilani noch zu den Taliban gehörte, wollte auch er Nabi töten. Und zwar sei er, erzählte Dschilani, kurz nachdem Nabi von den Dorfältesten angeheuert worden war, um in seinem Heimatdistrikt Qalay-i-Zal in der Provinz Kunduz für Sicherheit zu sorgen, mit mehr als 200 Taliban-Kameraden ausgerückt, um ihn auf seinem eigenen Terrain zu ermorden. Stattdessen vernichtete Nabi sie. Laut Dschilani führte Nabi ein Flankenmanöver nach allen Regeln der Kunst des Krieges von Sun Tzu aus. Schließlich trieb er den Großteil seiner Taliban-Verfolger auf dem örtlichen Markt zusammen. Dann griff er zu seiner Lieblingswaffe—einem russischen 40mm-Unterlauf-Granatwerfer—und tötete den Kommandanten der Truppe.

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„Danach“, sagte Dschilani, „bliesen wir den Angriff ab und verließen das Dorf.“

Als Nabi später einem zweiten Mordversuch der Taliban entkam, arrangierte Dschilani ein Treffen mit dem gefürchteten Warlord. „Ich erklärte ihm: ‚Ich will dich nicht mehr bekämpfen—das bringt uns beiden nichts ‘“, erzählte Dschilani. Kurz darauf wechselte er die Fronten und begann unter Nabis Kommando gegen die Taliban zu kämpfen.

Nabis Milizen warten auf Befehle.

Seitdem hat Nabis Ruf als unerbittlichster aller Taliban-Killer des Nordens fast legendäre Ausmaße angenommen. Anfang Juli leitete er einen Angriff gegen ein Haus voller Taliban. Nachdem seine Männer es umstellt hatten, entfesselte Nabi wieder höchstpersönlich mit seinem geliebten Granatwerfer einen Höllensturm, der selbst für das kriegszerrissene Afghanistan extrem war. Nabi feuerte nicht nur ein Dutzend, sondern 50 oder sogar 75 seiner hochexplosiven Granaten auf das Gebäude. (Sie sind eigentlich dazu vorgesehen, in einem hohen Bogen auf Ziele in Hunderten Metern Entfernung abgefeuert zu werden.) Hadschi Mohammed, Nabis Schwiegersohn und Bodyguard, sagte, er habe den Kommandanten 123 Granaten wie Gewehrkugeln abfeuern sehen—direkt auf sein Ziel.

Ich kam also in den Distrikt Qalay-i-Zal, um diesen gefürchtetsten und angesehensten aller Warlords zu treffen, der bis vor Kurzem noch auf der Gehaltsliste des US-Militärs stand. Nabi hatte sich seinen Namen nicht durch Gerede gemacht, sondern durch seinen Aufstieg zu einem der Hauptanbieter von Afghanistans gefragtester Ressource: Kriegsführung.

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Daher war es erstaunlich, dass Nabi 2009 das Kämpfen aufgab und erfolgreich ein Fisch- und Kebab-Restaurant in Mazar-i-Scharif eröffnete. Doch zwei Jahre später baten ihn die Ältesten zurückzukehren, um in Qalay-i-Zal, das wieder von Taliban überrannt worden war, für Sicherheit zu sorgen. Die Stadt stand außerdem vor einem großen Drogenproblem. Die Hälfte der 30.000 Drogensüchtigen in der Provinz stammen aus Qalay-i-Zal, eine Gruppe von Haschisch- und Opiumkonsumenten, zu der auch viele Kinder gehören.

Nabi rekrutierte und gruppierte seine loyalen Gefolgsleute zu einer 300 Mann starken stehenden Miliz um, errichtete 18 Kommando-Checkpoints und beendete jegliche Taliban-Operationen im Distrikt. Malika Gharebyr, Leiterin der Abteilung für Frauenangelegenheiten des Distrikts, berichtete mir, dass sie beim Verlassen ihres Hauses jedes Mal von Taliban belästigt worden sei. „Nabi sorgt hier für Sicherheit“, meinte sie, als ich sie, einen Tag nachdem ich Nabis Quartier verlassen hatte, zu Hause besuchte. „Jetzt ist es viel besser.“

Da man ihn auch gebeten hatte, Qalay-i-Zals Drogenprobleme zu lösen, sorgte Nabi dafür, dass Regierungstruppen unter seinem Schutz einrücken und die Mohnfelder in der Gegend vernichten konnten.

„Ohne Nabi hätten wir die Felder nicht zerstören können“, sagte Abdul Bashir Morshid, Leiter der Abteilung für Drogenbekämpfung in Kunduz. Laut des Regionalkommandos Nord der NATO unterstützte das amerikanische Militär Nabis Einsatz anfangs stark durch Soldaten der Spezialkräfte, die seine Männer ausbildeten, bewaffneten und im Rahmen eines kontroversen Programms namens Critical Infrastructure Police (CIP) bezahlten. Seine Männer bildeten eine der Dutzenden, größtenteils in Nordafghanistan aufgestellten irregulären Einheiten. Es handelte sich dabei um die Fortführung einer schon im Irak genutzten amerikanischen Taktik der „Counterinsurgency“ (Aufstandsbekämpfung): Finde einen Weg, eine bestimmte Sorte von Milizangehörigen (vorzugsweise ideologiefrei) mit einem Abzeichen zu versehen, bewaffne sie, bezahle sie, bilde sie aus und hoffe, dass sie das nächste Mal in die andere Richtung feuern. Dieser Plan schien in Fällen wie dem Sons-of-Iraq-Programm in der Provinz Anbar ganz gut aufzugehen, solange genügend Geld floss.

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In Afghanistan erhielten die CIP gelbe Armbänder (aber keine Uniformen) und wurden zumindest zeitweise hinzugezogen, um gegen die Taliban zu kämpfen. Doch viele dieser CIP-Einheiten missbrauchten die durch ihre neuen Positionen erlangten Gewehre und Abzeichen zu eigenen Zwecken und begannen Nebenbeschäftigungen nachzugehen, die ihre Mission unterminierten. Sie bedrohten lokale Gemeinden und erpressten Nahrungsmittel, Treibstoff und alles, was sie sonst noch wollten. Bald richteten sich ähnliche Vorwürfe auch gegen Nabis Milizen—sie wurden beschuldigt, die Einheimischen für die Sicherheit zu „besteuern“ und sich mit säckeweise Weizen und Hühnern zum Verzehr oder zum Verkauf auf den lokalen Märkten bezahlen zu lassen, obwohl jedes Mitglied der Miliz monatlich etwa 200 Dollar aus einem frei verfügbaren NATO-Fond erhielt.

Das CIP-Programm wurde von den Amerikanern mithilfe der NATO eingeführt—angeblich ohne das Wissen bzw. die Einverständnis von Präsidenten Hamid Karzai, der vor über einem Jahr angeordnet hatte, es abzuschaffen, da er befürchtete, dass irreguläre Kräfte ohne offizielle oder finanzielle Bindung an die Regierung des Landes diese eines Tages bedrohen könnten. Schließlich versiegten die amerikanischen Mittel, und das CIP-Programm blieb damit auf der Strecke—Nabis Miliz allerdings nicht. Da sie hauptsächlich auf der Grundlage einer Sicherheitssteuer aus Nahrungsmitteln operierte, die regelmäßig an seine Stützpunkte und die verschiedenen Checkpoints im Distrikt geliefert wurden, gelang es der Miliz, im Geschäft zu bleiben.

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Zwar hat er sich im Kampf gegen die Taliban als Trumpf bewährt, doch hat Nabi sich auch zu dem entwickelt, was Präsident Karzai am stärksten befürchtet hatte: einem kriegserfahrenen Warlord, jenseits von Recht und Gesetz, ohne jegliche offizielle Bindung an die afghanische Regierung—eine unabhängige und unkontrollierbare Wildcard. Das US-Militär hat also versehentlich bei dem Versuch, ein Problem heimlich zu lösen, gegen den Willen der Regierung das ohnehin schon populärste aller afghanischen Geschäftsmodelle noch weiter gefördert: die Herrschaft der Warlords, mit der Aussicht auf eine ziemlich hoffnungslose Zukunft, in der derjenige mit den meisten Waffen gewinnt.

Qalay-i-Zals Älteste waren zuhauf anwesend, um mich bei meiner Ankunft in Nabis Quartier zu empfangen und mir zu erklären, dass sie den Schutz Nabis und seiner Männer dringend benötigten. Sie meinten, Präsident Karzai solle die örtliche Miliz als staatliche Vollzeitpolizeikräfte einsetzen oder eigene schicken. Bis dahin, sagten sie, habe die Gemeinde keine andere Wahl, als die Sicherheit, für die Nabis Miliz sorge, zu akzeptieren, auch wenn sie dafür bezahlen müssten. Sie räumten jedoch ein, dass nicht alle in der Gemeinde glücklich über die Steuern seien.

„Die Leute haben mich gebeten, hierherzukommen und für Sicherheit zu sorgen“, sagte Nabi mir. „Ich freue mich, ihnen zu dienen, und falls ich etwas Falsches getan habe, sollte ich vor Gericht stehen, und sie sollten mich wegen meiner Verbrechen anklagen.“

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Der Autor in einer heiklen Situation beim Ringen mit dem nordafghanischen Warlord Nabi. Foto von Matin Sarfraz

Nach dem Treffen mit den Ältesten zeigte Nabi mir einige seiner Verteidigungsanlagen—hoch ummauerte Komplexe mit Wachtürmen, auf denen seine Posten ständig nach ­herannahenden Taliban Ausschau hielten. Bei dem Treffen mit den Ältesten gab Nabi den stillen, demütigen Diener, der andere für sich sprechen ließ. Wenn er einmal das Wort ergriff, dann mit so leiser Stimme, dass man sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Und obwohl seine Mine nichts davon verriet, spürte ich dennoch—oder projizierte es vielleicht nur auf ihn—eine leise, unter der Oberfläche lauernde Böswilligkeit, die er jederzeit abrufen konnte.

Zum Teil rührte das wohl daher, dass ich so viele Geschichten über seine Grausamkeit im Kampf gehört hatte—doch später spürte ich diese Spannung am breiten, schlammigen Kunduz erneut, wohin er uns zu einem Bad in der Dämmerung mitgenommen hatte. Nabi und ich stürzten uns wie Kinder in den Sommerferien in die kaffeebraune Brühe. Die Strömung war so stark, dass wir mit aller Kraft dagegen anschwimmen mussten, um nicht kilometerweit flussabwärts mitgerissen zu werden.

Als wir wieder ans Ufer kletterten, klatschten Nabis Hände hart meine Schultern, und er versuchte, mir ein Bein zu stellen. Seine Aggressivität überraschte mich, und ich fragte mich, ob ich ihn verärgert hatte oder ob er sich nur einen Spaß erlaubte.

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Ich schaute zu Nabis Männern hinüber. Grölendes Gelächter. Ich bin kein schlechter Ringer, aber mir fiel zunächst kein Ausweg aus dieser Situation ein. Wenn ich wirklich kämpfen würde, und er dabei, wenn auch nur versehentlich, das Gesicht vor seinen Männern verlöre, gäbe es ein Problem, vor allem, weil ich vorhatte, in Nabis Quartier zu übernachten. Brächte er mich andererseits aus eigener Kraft zu Boden oder gäbe ich nach, würde er wahrscheinlich einiges an Respekt mir gegenüber verlieren, und die Antworten auf die vielen Fragen, die ich ihm noch stellen wollte, hingen vom Ausgang unseres spontanen Wettkampfes ab. Mein Instinkt riet mir schnell zu einem Patt. Für eine Weile hielt ich ihn auf Distanz, lächelte, versuchte, uns im Gleichgewicht zu halten und alles zu tun, um ihn nicht weiter zu provozieren. Einige Minuten später wurde es ihm langweilig, und er löste den Griff. Ich atmete erleichtert auf.

Zurück im Quartier servierte er uns an dem Abend als vollendeter Gastgeber Vorspeisen wie frische Wassermelonen, Nüsse, Rosinen und Tee und ließ uns zu Ehren ein umfangreiches Abendessen aus Pilaw (ein afghanisches Reisgericht mit Fleisch), dicken Laiben Fladenbrot, Joghurt und Limonade auftragen. Abgesehen von seinen beiden Leutnants waren Matin, Dost und ich seine einzigen Gäste, und zwischen den Telefonaten, die er stundenlang eines nach dem anderen entgegennahm, unterhielt Nabi sich offen und ehrlich mit uns. Etwas später schloss Nabis Teejunge im selben Raum einen Camcorder an den Fernseher an. Er schaltete ihn ein, und wir schauten uns das Nachspiel eines der jüngsten Siege seiner Crew über die Taliban an.

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Ihre Leichen waren schwarz, mit Granatsplittern gespickt und schon in Totenstarre. Nahaufnahmen zeigten die Einschuss- und Austrittslöcher der Wunden sowie durch Nabis Granaten von ihren früheren Besitzern abgetrennte Körperteile. Gegen Ende des Videos wurden sie wie Holzplanken auf die Ladefläche eines Pick-ups gestapelt und der Afghanischen Nationalpolizei (ANP) als Geschenk vor ihr Hauptquartier in Kabul geliefert. Nabis Männer dokumentierten auch die anschließende Pressekonferenz, auf der der Polizeichef Nabi zum Helden erklärte. Ich schaute zu Nabi hinüber, um zu sehen, wie er auf seine gefeierten Erfolge reagierte. Er war aber schon eingeschlafen und lag, ausgestreckt wie ein Bärenfell, schnarchend auf dem Boden. Am nächsten Morgen standen wir bei Tagesanbruch auf. Nabi sagte uns, er wolle uns noch etwas zeigen, bevor wir das Quartier verließen. Er führte uns eine Treppe hinab in einen dunklen Raum unter seinem Haus.

Der enge Raum hallte vom Geräusch fließenden Wassers, sirrender Motoren und sich drehender Antriebselemente wider. An einer Außenmauer seines Quartiers angebracht befand sich ein großes Wasserrad, das sich im Strom eines selbst gegrabenen, vom Kunduz hergeleiteten Zuflusses drehte. Nabi sagte, er habe dieses kleine Wasserkraftwerk konstruiert, um eine kontinuierliche Stromversorgung für sich selbst und viele nahegelegene Läden und Unternehmen sicherzustellen. Dieser berüchtigte und unerschütterliche Killer mit dem Granatwerfer hatte etwas mechanisch Wunderschönes, unendlich Praktisches und potenziell höchst Profitables geschaffen. Er meinte, wenn er das in größerem Umfang tun könnte und die Regierung ihm erlauben würde, mehr Wasser aus dem Kunduz abzuzweigen, könnte er möglicherweise ausreichend Strom für den gesamten Distrikt erzeugen. Nabi war in der Tat ein spektakuläres Werkzeug des Krieges, aber, wie ich erkannte, auch erfolgreich, wenn es darum ging, friedliche Werkzeuge zu erschaffen, sobald sich eine Möglichkeit dazu bot. Ich fragte mich daher, was er hervorbringen würde, wenn er seinen Granatwerfer an den Nagel hängen und all seine Energie Projekten wie dem in seinem Keller widmen könnte. Allerdings glaube ich, dass Nabi innerhalb etwa eines Jahres nicht mehr am Leben sein wird. Er ist zwar schwer zu töten, doch er ist auch ein verlockendes Ziel. Die Haltbarkeit von Warlords ist in Afghanistan nur von kurzer Dauer.

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Matin erzählte mir, er habe von Freunden erfahren, dass sich in Taloqan, einer Region unweit von Nabis Quartier, Unruhen zusammenbrauten. Also beluden wir das Bahmani-Mobil und fuhren nach Westen, immer entlang des Amudarja, bis wir die Stadtgrenze erreichten.

Wir gelangten bald ins Zentrum Taloqans, in dem es gerade aussah wie in einer afghanischen Version von Occupy Wall Street. Überall Polizei. Mindestens 400 Beamte. Einige trugen Schutzausrüstung, und auch ein knallroter Feuerwehrwagen mit einem Wasserwerfer, um Menschenmengen unter Kontrolle zu halten, stand bereit. Der Wagen war ein Geschenk des deutschen Kontingents der Internationalen Sicherheitsunterstützungsgruppe (ISAF), die die Ausbildung der lokalen Polizeikräfte unterstützt hatte. An strategischen Punkten geparkte und mit Maschinengewehrlafetten beladene Humvees blockierten die Straßen. Noch mehr Polizisten kontrollierten den Umkreis der Stadt in den offiziellen Fahrzeugen der ANP—grüne Ford Pick-ups, ebenfalls „Geschenke“ der ISAF.

Die Situation war folgende: Ethnische Usbeken führten hier seit einer Woche einen friedlichen Protest durch, wütend über ihre, so meinten sie, mangelnde Repräsentation in der Provinz- als auch in der Landesregierung. Die Lage hatte sich so zugespitzt, weil der afghanische Innenminister den usbekischen Polizeichef der Provinz Tachar entlassen und durch seinen tadschikischen Kumpel aus der Provinz Logar, Oberst Abdul Hanan Qataghani, ersetzt hatte. Wir saßen gerade in Oberst Qataghanis Büro, als einer seiner Beamten vier mit Handschellen aneinander gefesselte Männer hereinbrachte. Der Beamte erklärte, die Usbeken versuchten AK-47 Gewehre unter die Protestierenden zu schmuggeln. Der Oberst nickte, und die Männer wurden abgeführt. Ich wollte wissen, wie seine Männer die Gewehre entdeckt hatten.

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„Wir schmuggeln Spitzel unter die Protestierenden, die uns auf dem Laufenden halten“, erzählte er mir. „Sie haben das Recht zu demonstrieren, aber wir haben unsere Kräfte mobilisiert und warten die Befehle des Innenministeriums hinsichtlich jeder weiteren Aktion ab.“

Ein gutes Zeichen, dachte ich, dass die Regierung das Konzept des friedlichen Protests toleriert, während sie an den Rändern zugleich jeglichen Funken von Gewalt im Auge behält. Eine ganz offensichtlich westliche Taktik, die mich annehmen ließ, dass sich die 7-Milliarden-Dollar-Investition der USA in die Ausbildung der ANP vielleicht doch noch rentiert. Es war klar, dass die ANP in den Nordprovinzen gerade vor ihrer Bewährungsprobe stand, einer Herausforderung, die allerdings weitaus banaler war als ein Showdown mit den Taliban. Es stand jedoch nicht weniger auf dem Spiel: Sollten sie nicht in der Lage sein, einen überschaubaren Bereich zu sichern, in dem Menschen legal demonstrieren, würde die ANP innerhalb der Bevölkerung weiter an Vertrauen verlieren, wovon die Taliban nach dem Rückzug der internationalen Kräfte umso mehr profitieren könnten. Angesichts ihres Rufes und ihrer Geschichte durfte man jedoch keineswegs von einem Erfolg der ANP ausgehen. Viele Experten halten sie für eine der krummsten Institutionen Afghanistans. Und da sie für die meisten Afghanen auch praktisch das „Gesicht“ der nationalen Regierung darstellen, ist es ein sehr unglücklicher Umstand, dass laut einer Studie von 2011 53 Prozent der Bevölkerung die Polizei für korrupt halten. Von den ungefähr 157.000 Beschäftigten der ANP sind die meisten Analphabeten—weniger als zehn Prozent können lesen und schreiben—und geschätzte vier von zehn Polizeirekruten werden positiv auf Drogen getestet. Aufgrund der nur sechswöchigen Ausbildung sind einige Kritiker der Ansicht, ihre Autoritätsfunktion mache die neuen Rekruten lediglich effizienter darin, diejenigen unter Druck zu setzen, die sie eigentlich schützen sollten. Ihr Hang zu außerdienstlichen Aktivitäten lässt sich allerdings besser nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass ihr Job einer der gefährlichsten im Land ist. Ende Juli verlautbarte Afghanistans Innenminister die unglaubliche Zahl 2.700 getöteter afghanischer Polizisten innerhalb der vorangegangenen vier Monate. Mal abgesehen davon, dass laut eines Berichts des United States Institute of Peace afghanische Polizeibeamte drei Mal häufiger getötet werden als Soldaten der Afghanischen Nationalarmee (ANA).

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Dennoch beharrte Oberst Qataghani darauf, dass alles unter Kontrolle sei. „Das ist eine rein afghanische Operation“, erklärte er mir. „Wir können selbst für Sicherheit sorgen.“ Nachdem wir das Büro des Obersts verlassen hatten, liefen wir die Straße hinunter, um Hadschi Dschamsched zu treffen, einen der Anführer des Protests der Usbeken und Mitglied des Provinzrates von Tachar.

„Wir werden alles versuchen, friedlich zu bleiben“, sagte er. „Doch sollte die Regierung gewaltsam gegen uns vorgehen, werden wir reagieren … mit Stöcken und Steinen, nicht mit Kugeln.“ Ich unterhielt mich mit ihm in einem kleinen Glasgebäude auf dem zentralen Kreisverkehr des Stadtzentrums, von wo die Polizei sonst Autofahrer kontrolliert. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Usbeken es bereits seit einer Woche besetzt und nutzten es als Hauptquartier zur Organisation ihrer Proteste. Ich fragte Hadschi Dschamsched, ob er als Mitglied des Provinzrates die Fähigkeit der Polizei, die Ordnung aufrechtzuhalten, mit Sorge betrachte. Würde ihr Versagen nicht die schlimmsten Befürchtungen der internationalen Gemeinschaft über die Unfähigkeit Afghanistans, für seine eigen Sicherheit zu sorgen, bestätigen oder noch schlimmer, würde es die Taliban ermutigen, die Situation auszunutzen? „Die Entscheidung liegt nicht bei uns“, sagte er. „Wir wollen einfach nur unsere Rechte.“ Unser Gespräch wurde vom Klingelton seines Mobiltelefons unterbrochen. Er ging ran, hörte dem Anrufer genau zu, bevor er auflegte, und informierte mich: „Es scheint so, als organisiere die Regierung einen Gegenprotest.“ Woher er das wisse, fragte ich. „Wir haben Informanten unter ihnen“, sagte er lächelnd.

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Obwohl Afghanistans ethnische Usbeken und Tadschiken einander seit Ewigkeiten misstrauen, gab es dennoch Zeiten, in denen sie gezwungen waren, ihre Streitigkeiten beizulegen und sich gegen größere Feinde zu verbünden. Das erste Mal während der sowjetischen Invasion in den 1980er-Jahren, und in jüngster Zeit gehen sie gemeinsam gegen die Taliban vor. Doch obwohl sie sich darüber einig sind, Extremisten aus dem Land zu vertreiben, haben mehr als zwölf Jahre anhaltender Krieg die langjährige Kluft zwischen den beiden Lagern noch vertieft. Um für eine ausgewogene Vertretung der Ethnien in der Regierung zu sorgen, hat das Land sogar zwei Vizepräsidenten, einen aus jeder Ethnie.

Einige Stunden später erlebte ich, wie ihre Streitigkeiten im Stadtzentrum Taloqans in Gewalt umschlugen. 500 Männer säumten die Straße und verspotteten einander. Die Tadschiken standen auf der einen Seite und die Mehrheit der Polizeikräfte dahinter, was den Eindruck erweckte, sie wären zur Unterstützung dort. Etwa 100 Meter weiter entfernt auf der anderen Seite befanden sich die Usbeken. Je ein Mitglied jeder Gruppe trug eine große afghanische Flagge. Die Tadschiken hielten außerdem ein Foto Marschall Fahims hoch. Er ist der prominenteste Tadschike in der Nationalregierung und Afghanistans mächtigerer „erster“ Vizepräsident.

Anfangs wurden nur Beleidigungen herausgeschrien, doch die Atmosphäre lud sich schon bald bedrohlich auf, als junge Männer begannen, Steine aufzusammeln. Eine Seite brüllte: „Tod allen Usbeken“, und die andere reagierte mit: „Das hier ist das Gebiet der Usbeken, nicht der Tadschiken.“ Bald flog der erste Stein—wer ihn warf, hatte ich nicht sehen können—und dann hagelte es von beiden Seiten Steine und Steinsplitter.

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Als ich mich vorwagte, um Video- und Fotoaufnahmen zu machen, ermahnte Matin mich, vorsichtig zu sein. Er hatte ein paar Männer hinter mir sagen hören: „Schau, da ist ein Fremder, schlag ihn mit ein paar Steinen nieder, dann glauben sie, es war die Gegenseite.“ Glücklicherweise setzte niemand diesen Vorschlag in die Tat um. Nicht lange und einige Männer in der Menge nahmen ihre Tücher ab und verwandelten sie in selbst gebastelte Schleudern. In dem darauffolgenden heftigen Hin und Her rückten die Tadschiken mit ihrer Flagge vor, als wollten sie die Bastille erstürmen. Sie wurden für einen Moment zurückgedrängt, als die Usbeken auf dieselbe Art vorpreschten, um dann kurz vor der unsichtbaren, aber von allen intuitiv anerkannten Grenzlinie stehenzubleiben. Der Kampf brach schließlich aus, als die Usbeken einen Tadschiken zu fassen bekamen und verprügelten. Die Tadschiken bombardierten im Gegenzug die zweite Etage eines nahegelegenen Hauses, aus der eine kleine Gruppe Usbeken die Auseinandersetzungen beobachtete, mit Steinen.

Anstatt ihren neuen Wasserwerfer einzusetzen oder andere taktisch vernünftige Maßnahmen zu ergreifen, um die immer aufgebrachtere Menge zu zerstreuen, blieben die meisten Polizisten hinter der tadschikischen Linie zurück, beobachteten das Handgemenge und taten nichts, um der Eskalation Einhalt zu gebieten. Hörten die Kämpfe kurz auf, näherten sich etwa ein Dutzend Beamte dem Mob und versuchten vergebens, die Gruppen voneinander zu trennen, indem sie sie wie Kinder bei einer Schulhofprügelei rügten.

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Ich verfolgte das Debakel bis zum Sonnenuntergang mehrere Stunden lang und verließ dann den Schauplatz, da es so schien, als würden sich die Dinge beruhigen. Wenige Stunden später erfuhr ich jedoch, dass ich mich geirrt hatte: Kurz nachdem ich gegangen war, hatten die Demonstranten zu ihren Gewehren gegriffen und aufeinander geschossen. Als der Mob sich aufgelöst hatte, blieben drei Tote und 52 Verletzte zurück. Was als friedlicher Protest begonnen hatte, eskalierte zu einem tödlichen Feuergefecht, dem die Polizei keinen Einhalt gebieten konnte. Und noch viel deprimierender: Der Vorfall ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass die in Ausrüstung, Rekrutierung, taktisches Training und nichttödliche Waffen der ANP investierten Milliarden komplett verschwendet zu sein schienen. Angesichts dieses Scheiterns fragte ich mich, ob die Situation nicht doch verzwickter war, als sie ohnehin schon schien. War der Anruf, den der Usbeken-Führer Hadschi Dschamsched bekommen hatte, als ich im Stadtzentrum eintraf, ein böses Omen? Er hatte erwähnt, dass die Regierung einen Gegenprotest organisieren würde. Ich fragte mich, ob die ANP ihre Ausbildung absichtlich vergessen hatte, oder ob sie vielleicht sogar für den Ausbruch der Gewalt verantwortlich war.

Die Polizei wies den Vorwurf der Komplizenschaft von sich, doch ihr Nichthandeln, insbesondere beim Ausbruch der Gewalt, könnte an sich schon als kriminell gelten. Das warf eine Grundsatzfrage auf, die die internationale Gemeinschaft schon seit Jahren zu beantworten versuchte: Werden die afghanischen Sicherheitskräfte in der Lage sein, ihre Aufgabe ohne Unterstützung von amerikanischen oder NATO-Truppen zu erfüllen? Wenn das Ergebnis dieser Konfrontation von Usbeken und Tadschiken einen Rückschluss erlaubt, dann den, dass die Antwort zumindest in der Provinz Tachar Nein lautet.

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Drogensüchtige ver­sammeln sich zu Hunderten zum Fixen, Rauchen, Kaufen und Verkaufen unter der Pul-i-Sokhta-Brücke in Ost-Kabul.

Eine Woche, nachdem ich die Grenze ins nördliche Afghanistan überschritten hatte, fuhren wir in Richtung der Landeshauptstadt Kabul. Obwohl nur etwa 321 Kilometer entfernt, brauchte ich 2001 mehr als fünf Tage für die Strecke, die Zeit eingerechnet, die wir verloren hatten, weil wir in ein Minenfeld geraten waren und weil sich einer unserer Lkw auf dem vereisten Weg hinunter zum anderen Ende des Salang-Tunnels überschlagen hatte. Bessere Straßen und mehr Sicherheit haben die Reisezeit heute auf fünf bis sechs Stunden verkürzt, doch da das Bahmani-Mobil Probleme machte, brauchten wir doppelt so lange. Wir kamen erst nach Mitternacht an.

In Kabul übergaben Matin und Dost mich einem meiner ältesten und besten afghanischen Freunde, einem gnadenlos intelligenten Mann namens Harun Khadim, der 2001 und danach auf fast allen meinen Reisen in die Region als Dolmetscher für mich arbeitete. Nachdem wir einige Zeit damit verbracht hatten, Neuigkeiten auszutauschen, sagte ich ihm, dass ich Kabuls berüchtigtstes Drogenviertel sehen wolle. Die Gegend unter der Pul-i-Sokhta-Brücke.

Am Morgen unseres Besuchs hatten sich Hunderte Drogensüchtige in der ständigen Dunkelheit und dem Dreck versammelt, um zu fixen, zu rauchen, zu kaufen, zu verkaufen oder einzunicken, wenn sie auf Heroin waren. In einer Ecke sahen wir eine Gruppe junger Männer, die sich gegenseitig Spritzen setzten—die Junkieversion des Gruppenwichsens. Nicht weit davon lag ein junger Mann in ein Tuch gewickelt auf einer Bank, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände in den Taschen und im Drogenrausch weggedämmert. Ein fast friedliches Bild, wenn da nicht der Strom aus Scheiße, Pisse und toxischem Schlamm gewesen wäre, der genau vor ihm vorbeifloss. Afghanistan ist der weltweit größte Produzent von Opium, des Rohstoffs für Heroin. Weniger bekannt ist allerdings, dass die Afghanen selbst mittlerweile die größten Konsumenten ihres eigenen Produkts sind, mit schätzungsweise einer Million Süchtigen. Das sind laut einer Studie der Vereinten Nationen etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung.

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Ich kletterte vorsichtig einen Trampelpfad neben der Brücke hinunter und bemühte mich, dem heimtückischen Grund jenseits des Pfades fernzubleiben, aus Angst, dass jeder Fehltritt die schmutzige Nadel einer Spritze durch meine Stiefel treiben könnte. Ich hielt an, als ich eine gute Stelle für ein paar Fotos gefunden hatte. Während ich fotografierte, rannte ein Drogensüchtiger auf mich zu und schrie: „Was macht der hier? Warum fotografiert der?“ Harun versuchte, ihn abzufangen, aber der Mann verfolgte mich weiter, als ich an der Uferböschung wieder hinaufkletterte. Als ich oben angekommen war, schnappte er meinen Arm und griff nach meiner Kamera. Ich zog die Kamera zurück, stieß ihn fort und zeigte ihm mit erhobener Faust, dass ich ihm eine reinhauen würde, wenn er nicht abließe. Im selben Augenblick klopfte ein weiterer Mann, ein 23-Jähriger namens Hasibullah, dem anderen beschwichtigend auf die Schulter und erklärte ihm, dass wir hier „Gäste“ seien. „Wenn sie Gäste sind, warum droht er mir dann mit der Faust?“, fragte der Mann verwirrt.

Statt einer Antwort schickte Hasibullah ihn wieder zurück nach unten und begleitete uns bis zur Straße. Ich wollte immer noch mit ein paar Abhängigen sprechen, also bat Harun Hasibullah zu einem Gespräch in unser Auto. Er berichtete uns von den Lebensumständen unter der Brücke, während er hartnäckig leugnete, selbst drogenabhängig zu sein.

„Es ist die Hölle da unten. Wir schlafen in Schmutz und Scheiße“, sagte er, „Alle streiten sich ständig, aber sobald sie sich einen Schuss gesetzt haben, schlafen sie ein, fallen um und vergessen, wo sie sind. Wenn jemand stirbt, kommt die Regierung, holt die Leiche ab und bewahrt sie für die Familie auf. Da unten gibt es Assistenzärzte, Universitätsabsolventen, Soldaten. Sie haben familiäre Probleme, haben Angehörige im Krieg verloren, Geldsorgen, oder [hatten] zu viel Geld, fingen an sich zu vergnügen und können jetzt nicht mehr aufhören.“ Während ich mich mit Hasibullah unterhielt, wankte ein Mann in einer schmutzig roten Motorradjacke, die er über einem fleckigen Salwar Kamiz trug, zum Fenster an der Fahrerseite. Er stellte sich als Shir Shaw vor und sagte, er wolle auch über das Leben unter der Brücke sprechen, doch er stank so entsetzlich, dass wir ihn nicht ins Auto lassen wollten und uns stattdessen durch das geöffnete Fenster mit ihm unterhielten.

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Obwohl erst in seinen Zwanzigern, war sein Gesicht bereits vom fortwährenden Beschaffungsstress eines Drogenabhängigen gezeichnet: blutunterlaufene Augen und Pupillen wie Stecknadeln. Er erzählte, er habe während seines Militärdienstes in der afghanischen Armee zuerst mit Haschisch vermischtes Heroin konsumiert. Er stahl, bettelte oder verdiente täglich ein paar Dollar, indem er Fahrgäste für Taxis zusammensuchte­, und gab seinen mageren Verdienst sofort wieder für ein paar Ampullen Heroin aus. Tagsüber fixte er, nachts schnorrte er Geld zusammen.

Das Produkt, nach dem Menschen wie Shir Shaw süchtig sind, ermöglicht denjenigen, die es anbauen und verkaufen, in ihrer Heimat zu bleiben. Mohn gedeiht sogar auf den kargsten Böden, und afghanische Bauern können pro Hektar Rohopium bis zu 10.000 Dollar jährlich verdienen, was in scharfem Gegensatz zu den 120 Dollar Verdienst pro Hektar Weizen steht. Fast 900 Tonnen Opium und 375 Tonnen Heroin werden laut der Opiumstudie des UNODC (Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung) jährlich aus Afghanistan exportiert. Trotz der 541 Millionen Dollar, die die Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung (USAID) von 2009 bis 2012 investiert hat, um afghanischen Bauern dabei zu helfen, wirtschaftliche Alternativen zum Mohnanbau zu entwickeln, ist dem warmen Regen der Ernte offenbar schwerer zu entsagen als der Droge, die daraus hergestellt wird. Und die vielen weiteren Milliarden, die für ihre Vernichtung und die Einführung von Verboten ausgegeben wurden (allein 2005 stellten die USA zu diesem Zweck 782 Millionen Dollar bereit), zeigen kaum Wirkung. Der Opiumanbau dient auch der Finanzierung des anscheinend nicht enden wollenden Krieges in Afghanistan. Das UNODC schätzt, dass die Taliban allein 2011 700 Millionen Dollar mit der Mohnernte verdient haben. Und trotz der Milliardenausgaben der internationalen Gemeinschaft für Drogenbekämpfungsprogramme hat die weitverbreitete Korruption in der afghanischen Regierung die Bemühungen massiv unterminiert, den Drogenanbau und -handel zu unterbinden. Das zeigte sich insbesondere in meinen Gesprächen mit Shir Shaw und Hasibullah.

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Nach unserer Unterhaltung baten sie uns um Geld. Stattdessen gaben wir ihnen mehrere Tüten saftiger roter Pflaumen—ganz und gar nicht das, was sie sich erhofft hatten, da war ich mir sicher, aber wesentlich besser mit meinem Gewissen zu vereinbaren. Ich folgte ihnen mit meinem Blick, als sie sich enttäuscht und schmollend wieder unter die Brücke zurückzogen.

US-Soldaten des Sixth Squadron Eighth Cavalry Regiment nutzen während eines Patrouillengangs in der Nähe des Dorfes Baraki Barak in der Provinz Lugar in Ostafghanis­tan eine Baumreihe zur Deckung.

Obwohl mein erneuter Besuch Afghanistans in den heiligen muslimischen Monat Ramadan fiel, in dem der Koran Harun und alle anderen gesunden Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zum Fasten verpflichtet, erwies er sich als echter Kumpel und war einverstanden, mich in das etwa 160 Kilometer östlich von Kabul gelegene Dschalalabad zu fahren. Wir traten die zweistündige Reise in einem blauen Kombi an, der Haruns Bruder gehörte und noch unauffälliger war als Dosts Bahamani-Mobil. In der trockenen Mittagshitze zeigte das Thermometer bei unserer Ankunft etwa 38 Grad, wir waren schweißgebadet und dehydriert.

Dschalalabad war ein weiterer Ort, an dem ich während meiner ersten Reise viel Zeit verbracht hatte. Ich kehrte zurück, um herauszufinden, ob sich die Sicherheitssituation in dieser instabilen Region seit dem Sturz der Taliban verbessert hatte.

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2001 diente Tora Bora, etwas südlich von Dschalalabad gelegen, al-Qaida und den Taliban während ihres verschlungenen Rückzugs in die relative Sicherheit Pakistans als letzter Stützpunkt. Dort, so berichteten westliche Medien, in den Weißen Bergen, habe Osama bin Laden auf mehreren Ebenen eine unterirdische Festung erbaut, groß genug für Tausende Kämpfer, mit einem ausgeklügelten Belüftungssystem, einem Munitionsdepot, einem Krankenhaus, Straßen und sogar einem Wasserkraftwerk, das den gesamten Komplex mit Strom versorge.

Bis zum Dezember jenes Jahres, drei Monate nach 9/11, hatten die USA Tora Bora so gnadenlos bombardiert, dass es afghanischen und US-Streitkräften gelang, in das Gebiet einzudringen und es schließlich zu kontrollieren. Eine gründliche Suche ergab, dass bin Ladens angebliches Hightechversteck nie existiert hatte. Es gab nur eine Handvoll kleiner, natürlicher Höhlen, in denen sich nicht mehr als einige Hundert Männer hätten verstecken können.

Damals fuhr ich von Kabul nach Dschalalabad und dann nach Tora Bora. Dort beobachtete ich, wie amerikanische B-52 und B-1B Bomber 15.000 Pfund Sprengladung über Al-Qaida- und Taliban-Kämpfern abwarfen, die in den Felsspalten um ihr Leben kämpften.

Auf dieser Reise wollte ich nach Tora Bora zurückkehren, um herauszufinden, ob das einst berüchtigte Einfallstor für Taliban-Kämpfer von Pakistan nach Afghanistan in den vergangenen zwölf Jahren irgendwann still und heimlich wieder in Betrieb genommen worden war oder nicht. Es gingen Gerüchte um, die Straße nach Tora Bora sei mit Banditen, Taliban und Straßenminen übersät. Bei unserer Ankunft im ANP-Hauptquartier in der Provinz Nangarhar stellten wir fest, dass diese Einschätzung ziemlich realistisch war, als der stellvertretende Polizeichef der Provinz, Mohammad Masum Khan Hashimi, uns berichtete, auf besagter Straße sei in der vergangenen Woche eine Bombe explodiert. Mohammad wollte wissen, wie wichtig unsere Geschichte sei. Um möglichst vollständige Informationen zu erhalten, habe ich zugegebenermaßen etwas übertrieben: Ich deutete an, dass meine Reportage über Tora Bora möglicherweise Auswirkungen auf das bilaterale Sicherheitsabkommen Afghanistans mit den USA haben würde, den Plan, der das Ausmaß und den Umfang der US-Unterstützung nach dem für 2014 geplanten Rückzug der amerikanischen Streitkräfte festlegt. Der Plan ist noch nicht endgültig ausgearbeitet, doch die überwiegende Mehrheit der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte ist sich einig, dass irgendeine Form kontinuierlicher Unterstützung durch das US-Militär und seine Verbündeten nach dem Rückzug gewährleistet werden müsse, um die Stabilität der Region zu sichern. Uneinig ist man sich jedoch noch über die Art und Weise der zu leistenden Unterstützung—Luftunterstützung, Treibstoff, mehr Waffen, Vorräte, Ersatzteile und sogar einige Tausend weiterhin im Land stationierte Soldaten stehen noch zur Debatte.

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Schicksalsergeben versprach Hashimi, alles zu tun, was in seiner Macht stehe, bat uns aber, am folgenden Tag für weitere Informationen wiederzukommen. Als wir tags darauf zum ANP-Hauptquartier zurückkehrten, berichtete er uns, am sichersten gelange man per Helikopter nach Tora Bora. Die schlechte Nachricht: Die Provinzpolizei habe keinen. Ich fragte, ob es einigermaßen sicher sei, wenn wir selbst zu dem Berg führen.

„Ihr könntet ihn erreichen“, sagte Hashimi, „aber ich habe keine Ahnung, was dann passiert.“

„Warum?“, fragte ich.

„Weil“, antwortete er, „die Taliban Tora Bora kontrollieren.“

Das Drehkreuz der Taliban nach Afghanistan war definitiv wieder in Betrieb und ist es wohl schon seit geraumer Zeit. Mit oder ohne bin Ladens mythischer Festung: Tora Bora—ein Sicherheitsloch, das sich nicht schließen ließ—bereitete der afghanischen Regierung nach wie vor große Sorgen.

Wir beschlossen, an Ort und Stelle zu bleiben. Eine kluge Entscheidung, wie sich herausstellte. Einige Wochen später hörte ich von meinen Kontakten aus der Gegend, dass die lokale ANP in der Nähe Dschalalabads zwei Tage lang in Gefechte mit den Taliban verwickelt worden war. 22 Soldaten und 76 Taliban starben in dem Feuergefecht. Im Gegensatz zu dem, was ich während des Protests in Taloqan beobachtet hatte, sind einige Teile der afghanischen Streitkräfte doch noch bereit zu kämpfen.

Afghanische Nationalarmee und ameri­kanische Soldaten bei der Rast in einem Kleefeld während einer gemeinsamen Patrouille in der Provinz Wardak

Da einiges an Zeit und Geld in die Ausrüstung und Ausbildung des afghanischen Militärs investiert wurde, wollte ich es vor dem Ende meiner Reise auch einmal in Aktion erleben—vor allem weil nach dem Abzug der internationalen Streitkräfte so viel von seiner Fähigkeit, das eigene Land sichern zu können, abhängen würde. Afghanen können kämpfen—das hat die Geschichte gezeigt—aber sind sie nun auch in der Lage, als nationale Armee zu kämpfen, anstatt innerhalb unzähliger ethnischer, einem regionalen Warlord verpflichteter Milizen?

Um das zu erfahren, verließ ich Kabul und reiste in die Provinz Lugar, wo ich in eine gemeinsame Operation amerikanischer Soldaten des Sixth Squadron Eighth Cavalry Regiment und ANA-Soldaten eingebettet wurde. Mit dem Helikopter zum Kampfvorposten Baraki Barak sind es von Kabul nur etwa 48 Kilometer, doch liegen Welten zwischen der Mentalität der jeweiligen Bevölkerung sowie der jeweiligen Umgebung. Lugar ist eine konservative Region, dominiert von Taliban-Sympathisanten, die Fremden und deren Absichten instinktiv misstrauisch begegnen, und die Gegend selbst ist genauso ungastlich und kompliziert. Aus dem Helikopter schaute ich auf Hunderte Bewässerungskanäle und Wasserwege herab, die das fruchtbare Ackerland in breite Streifen Klee-, Sommerweizen- und Wassermelonenfelder unterteilten. Obwohl von oben wunderschön anzusehen, musste das Gelände für die am Boden patrouillierenden Soldaten die reinste Hölle sein, da es dem Feind überall Deckung bot.

Nach der Landung traf ich am Kampfvorposten einen Dolmetscher, den die amerikanischen Soldaten 007 nannten. Sie kannten seinen wahren Namen nicht, oder den irgendeines anderen Dolmetschers. Stattdessen trugen sie alle Spitznamen wie Dragon oder Boss. Für sie war es so sicherer. Es war aber trotzdem seltsam, die US-Soldaten brüllen zu hören: „Wo ist 007? Holt 007.“ 007 arbeitete seit fünf Jahren als Dolmetscher für das amerikanische Militär. In der Zeit hatte er jede Menge Freunde verloren, und dass er noch am Leben war, sprach für sein Glück und seine Vorsicht.

Manche Amerikaner machten sich lustig darüber, wie schnell er in Deckung ging, wenn sie unter Feindbeschuss gerieten. Aber er zuckte nur mit den Schultern. Sie würden nur neun Monate in Afghanistan bleiben, sein Einsatz dagegen endete nie. Später, auf Patrouille, liefen wir gemeinsam an dem Fluss entlang, der das Patchwork der Klee- und Weizenfelder in der Nähe des Dorfes Baraki Barak in der Provinz Lugar bewässerte. 007 erzählte mir, er wolle ein Visum beantragen und in die Vereinigten Staaten auswandern. Ein speziell für Militär- und Regierungsdolmetscher ausgestelltes Visum veranlasst viele, diese gefährliche Tätigkeit aufzunehmen. „Wenn alle gut ausgebildeten Afghanen nach Amerika auswandern, wer soll sich dann noch um dieses Land kümmern?“, fragte ich. „Nur die Warlords?“

Er wusste darauf keine Antwort.

Zwischen unseren Gesprächen hörte 007 die Funksprüche einiger ANA-Soldaten und lokaler Polizisten mit, die dem vollkommen erschöpften Platoon amerikanischer Soldaten der 6-8 Cavalry folgten. Der Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan bedeutet, dass gefallene und verletzte Soldaten und die, deren Einsatz beendet ist, nicht ersetzt werden. Diese Einheit, wie die meisten anderen im Land, bekommt die Folgen des Truppenabzugs zu spüren. Im Moment operiert sie mit ungefähr der Hälfte ihrer ehemaligen Stärke. In die Sperrholzdecke eines der Gebäude des Kampfvorpostens war folgender Satz eingeritzt: „Es gibt keinen Grund, unsere Gefühle zu verstecken.“ Als ich das las, musste ich an den durch den Abzug verursachten Personalmangel denken, und daran, dass er die verbleibenden ausländischen Soldaten bei ihren letzten Einsätzen noch stärker gefährden wird. Sollte sich tatsächlich eine gewisse Ernüchterung verbreitet haben, dann war das eingeritzte Graffiti an der Decke der einzige Hinweis darauf, den ich wahrgenommen hatte; alle hielten ihren Mund, auch wenn sie mit ihrer aktuellen Situation haderten. Jeden Tag führten die US-Soldaten pflichtgemäß ihre Fußpatrouillen durch—Fahrzeuge sind in diesem von Bewässerungskanälen durchzogenen Terrain sinnlos—und motivierten sich mit Energydrinks, Kautabak und der Gewissheit, dass ihr Einsatz hier nach etwas über vier Monaten schon zur Hälfte um war. Doch ihre Mission—die Ausbildung und Unterstützung der lokalen afghanischen Sicherheitskräfte—schien noch lange nicht beendet. Obwohl ich während meiner Reportagen in Afghanistan schon oft beim amerikanischen Militär eingegliedert war, schien es mir dieses Mal am aufschlussreichsten. Ich wollte unbedingt sehen, welches Vermächtnis die USA hinterließen. Es war sicherlich blutig: Mehr als 2.100 amerikanische Militärangehörige waren hier im Kampf gefallen, Tausende verletzt worden. Hatten sie dazu beigetragen, eine zukunftsfähige nationale Armee aufzubauen, die sich gegen die Taliban würde verteidigen können? Und noch wichtiger: Glaubten sie, dass sie in den letzen zwölf Jahren etwas gewonnen hatten, um das zu kämpfen es sich gelohnt hätte?

Im Moment schien es nicht so. 007 sprach über die ANA-Funksprüche.

„Sie sagen sie seien müde—und hungrig“, gab 007 die Funksprüche lachend wider. Obwohl es vollkommen unprofessionell war, ein solches Gespräch über Funk zu führen, wer könnte es ihnen wirklich verübeln? Natürlich waren sie müde und hungrig. Es war Ramadan, und die meisten Muslime fasteten. Außerdem war es ein Sommernachmittag mit Temperaturen um die 35 Grad. Mir fiel es schwer, meine Feldflasche nicht einfach vor ihnen leer zu trinken. Später liefen 007 und ich an einem der kleinen namenlosen Flüsse in der Umgebung der Basis entlang, wateten manchmal sogar hindurch, was die Gegend fast tropisch wirken ließ und an die Bilder und Nachrichtenvideos über die amerikanischen Truppen im Dschungel Vietnams erinnerte. Die ANA-Soldaten dagegen vermieden das Wasser, nahmen Abkürzungen oder gingen über die Felder, nur damit ihre Stiefel nicht nass wurden. Ich wusste nicht, ob sie faul oder schlau waren. Eine Stunde später ließen wir den Fluss hinter uns und bewegten uns von einer dichten, parallel zur Straße verlaufenden Baumreihe aus nach Norden. Wir hörten einen einzelnen Schuss, gefolgt von einer Drei-Schuss-Salve hinter uns. Alle warfen sich zu Boden. Die Afghanen schrien durcheinander und sorgten für noch mehr Verwirrung. Der amerikanische Platoon-Führer, Leutnant Michael Hourihan, rief Dragon und 007 zu sich, damit sie dolmetschten, während er über Funk mit der ANA sprach. Innerhalb weniger Minuten führte eine Gruppe ANA-Soldaten und lokaler Polizisten einen bärtigen Afghanen Ende 20 die Straße hinauf zu den Amerikanern. Seine Hände waren mit einem Schal, vielleicht seinem eigenen, auf den Rücken gefesselt. Die ANA und die Polizisten berichteten, der Mann sei der Fahrer eines Motorrads, dessen Mitfahrer flüchtete, als beide beschossen wurden. Der Funker sagte, die ANA habe das Feuer eröffnet, weil er Taliban-Funkgespräche über einen Motorradfahrer mit Sprengstoffweste abgehört habe. „Ich feuerte in ihre Richtung, damit wir sie verhaften konnten“, sagte Sabiullah, der Führer des ANA-Squads, „aber in der Nähe stand eine Frau, und ich wollte sie nicht treffen.“ Er berichtete, die Männer auf dem Motorrad hätten nicht zuerst geschossen, und sie schienen auch keine Waffen zu tragen. Er meinte aber, der flüchtige Mann könne etwas unter seiner Kleidung versteckt haben. Der Funker ergänzte, er habe nach der Verhaftung des Motorradfahrer mehrere Taliban-Funksprüche über den Abbruch einer Mission mitgehört. Ihr Gefangener leugnete diese Anschuldigungen und sagte der ANA, er habe den anderen Mann einfach nur mitgenommen. Er wisse noch nicht einmal, wer er sei. Es war fast wie in einer Folge von Cops; die ANA-Soldaten kauften ihm das offensichtlich nicht ab und führten ihn zu ihrer Basis.

Leutnant Hourihan befürchtete, das Motorrad sei vielleicht mit Sprengstoff beladen. Er wollte es an Ort und Stelle sprengen.

„Nein, nein“, sagte einer der Afghanen. Er winkte dem Leutnant ab, während einer seiner Kameraden auf das Motorrad sprang und es zum Start bereit machte. „Starte das Motorrad nicht“, befahl der Leutnant nachdrücklich. Sie schauten ihn unwillig an, rollten es ein paar Meter weiter, kickstarteten die Maschine und fuhren weg. Leutnant Hourihan schüttelte den Kopf.

Als wir eine Stunde später die Basis erreichten, sahen wir die beiden Afghanen auf dem konfiszierten Motorrad, geduscht und ohne Uniform die Basis verlassen.

007 schaute mich an und verdrehte die Augen. „Diese Typen“, sagte er. Die Zusammenarbeit von Amerikanern und Afghanen auf der Patrouille schien nicht so gut zu funktionieren, beide Seiten begegneten einander mit Misstrauen und möglicherweise sogar Geringschätzung. Aber vielleicht, so dachte ich, war das einfach nicht mehr wichtig. Ihre Partnerschaft vor Ort ging sowieso ihrem Ende zu, und die meisten Militärexperten waren sich einig, dass die Afghanen nicht unbedingt auf dem Niveau oder mit der Taktik der westlichen Armeen kämpfen mussten, um den Krieg zu gewinnen—sie mussten lediglich besser kämpfen als die Taliban. Amerikanische Trümpfe wie Luftwaffe, Hightechwaffen und logistische Unterstützung waren sicherlich nützlich, doch sie standen nur noch kurze Zeit zu Verfügung.

Schatten der Soldaten des US Third Battalion, Seventh Infantry Regiment auf Frühpatrouille in Ost­afghanistan

Ich kehrte eine Woche nach meinem Besuch des Kampfvorpostens in Baraki Barak nach Hause zurück und stellte mir fortwährend diese Frage: Hatten die afghanischen Streitkräfte wirklich einen Angriff auf die amerikanischen Soldaten verhindert, indem sie einen Selbstmordattentäter auf einem Motorrad aufgehalten hatten, oder war es nur eine Methode, ein Motorrad zu stehlen, damit ein paar von ihnen nicht den ganzen Weg zur Basis zurücklaufen mussten? Ich war mir einfach nicht sicher, und diese unbeantwortete Frage sprach Bände. Welchen Einfluss hatte die mehr als zehn Jahre andauernde Präsenz des US-Miltärs eigentlich auf jene, die in Zukunft für die Sicherheit Afghanistans sorgen sollten? Es ist schon seltsam, dass nach zwölf Jahren Krieg, 600 Milliarden ausgegebenen Dollar und mehr als 2.100 gefallenen US-Soldaten und unzähligen anderen Todesopfern immer noch ein Gefühl der Unsicherheit mitschwingt. Jeder kapitalistische Unternehmer würde einen besseren Gewinn für seine Investitionen erwarten. Doch wer ist verantwortlich? Die afghanische Regierung? Die Korruption hat so dreiste Züge angenommen, dass sogar eine Truppenabzugssteuer auf die Ausfuhr amerikanischer Militärfahrzeuge erhoben wird. Oder war es ein Fehler der amerikanischen Regierung, hier militärische und humanitäre Hilfe nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen, ohne verantwortungsbewusst zu prüfen, wem sie sie zukommen lässt bzw. nach ihrer Auszahlung Rechenschaft zu verlangen?

Wieder eine Frage, auf die es wohl nie eine Antwort geben wird. Amerika marschierte 2001 natürlich nicht hier ein, um die Afghanen zu retten—Amerikas Mission hieß Vergeltung sowie nationale Sicherheit, al-Qaida niederwerfen und die Taliban stürzen. Hinsichtlich dieser damals eng definierten ersten Ziele hat Amerika seine „Mission erfüllt“. Doch mit der Langzeitaufgabe der Staatenbildung, der Schaffung eines stabilen und sicheren Afghanistan, ist man offensichtlich gescheitert.

Ich dachte an das, was mir ein Afghane gesagt hatte, während ich im Norden unterwegs war: „Die Amerikaner haben das Leben jedes Einzelnen hier verändert, sogar das der Taliban.“ Afghanistan hat dasselbe mit uns gemacht, dachte ich. Die Amerikaner sind von diesem einst und vielleicht auch in Zukunft gescheiterten Staat für immer verändert worden. Afghanistan hat mich verändert, da es ein Fünftel meines Lebens geprägt hat. Ich habe dort Freunde und Kollegen und sicherlich auch meine eigene Unschuld verloren. Ein zum Verzweifeln widersprüchliches Land, ein Land, in dem die großzügigste Gastfreundschaft der Welt Seite an Seite existiert mit Ehrenmorden, eine Gesellschaft, die ihre Frauen in Burkas hüllt und ihre Jungen als Tanzmädchen aufputzt, ein Volk, das stark genug ist, Invasoren abzuwehren, aber unfähig, einander in Frieden leben zu lassen. Es war und ist eine fast perfekte Reflexion des Guten und des Bösen in uns allen.