FYI.

This story is over 5 years old.

Features

"Wir sind nicht back im Game, wir sind Crack im Game"—Göldin & Bit-Tuner im Interview

Göldin & Bit-Tuner beleuchten mit "Schiinwerfer" die dunklen Ecken unserer Gesellschaft
Foto: Facebook

Manche Künstler machen Alben, damit sie Alben gemacht haben und um sich dadurch selbst ihre Existenzberechtigung vor Augen führen zu können. Selbstverständlich spielt bei solchen Künstlern das Feedback von Aussen und die Resonanz, die sie auf ihre Arbeit erhalten, die wichtigste Rolle. Sie bringen ein Produkt auf den Markt, das möglich einfach verdaulich konsumiert werden soll und hoffen auf möglichst vielen Ebenen auf möglichst grossen Ertrag. Göldin & Bit-Tuner machen das exakte Gegenteil: Auf ihrem neun Tracks starken Album Schiiwerfer, beleuchten sie die dunkelsten Ecken unserer Gesellschaft und skizzieren dabei die Psychologie einer Gesellschaftsordnung, deren Stützen sinnesverändernde Drogen seien, in der Solidarität ein Fremdwort ist und Gewalt in verschiedenen Ausprägungen als Waffe dient, um bestehende Machtverhältnisse zu festigen, zu sichern und zu verteidigen. Ich hab mir Schiiwerfer angehört und war überwältigt von der Dichte an messerscharfen Beobachtungen, persönlichen Analysen aus dem Alltag des globalen Kapitalismus und der komprimierten Wut gegenüber den Realitäten der Welt. Ich wollte mit Göldin & Bit-Tuner sprechen und hab es getan.

Anzeige

Von Göldin & Bit-Tuner als gemeinsame Kombo hat man lange Zeit nichts gehört. Wo wart ihr?
Göldin: Wir waren viel unterwegs.
Bit-Tuner: Shanghai, Los Angeles, Hamburg, Tokyo, New York, Athen. Ein paar Bücher schreiben, ein paar Platten produzieren. Immer in Bewegung. Und in der Bar. Total Bar. 8004 Zürich. Gute Leute, guter Laden.
Göldin: Aber schenken kein offenes Guinness aus.
Bit-Tuner: Grosser Minuspunkt.
Göldin: Wir sagen es ihnen seit Jahren. Aber wir stossen auf taube Ohren.
Bit-Tuner: Der Kunde ist heute nicht mehr König, er ist einfach nur noch Kunde.

Mit eurem neuen Album Schiiwerfer meldet ihr euch eindrücklich zurück und zeichnet ein düsteres Bild unserer Gesellschaft und der Welt. Stehen die Menschheit und der Globus vor der Apokalypse?
Bit-Tuner: Ich bin zwar katholisch erzogen worden, aber ich glaube nicht an biblische Bilder wie die Apokalypse. Ich glaube an fette Bässe.
Göldin: Kürzlich habe ich einen Artikel darüber gelesen, wie Tennisspielerin Martina Hingis und ihre Mutter und Trainerin Melanie Molitor dem Ex-Mann von Martina bei einer körperlichen Auseinandersetzung einen DVD-Player über den Kopf gezogen haben. Ich denke, so lange solche Sachen auf der Welt passieren, gibt es noch Hoffnung.

Was haltet ihr von der These, dass gar nicht alles schlimmer wird, sondern die schlimmen Fakten durch die permanente Informationsflut einfach viel mehr Platz bekommen?
Göldin: Früher war Hitler, früher war es schlecht. Da hat es auch nicht geholfen, dass es damals noch kein Facebook gab.
Bit-Tuner: Heute kann man Hitler in den sozialen Medien teilen, was es natürlich nicht gerade einfach macht, nicht den Verstand zu verlieren. Vielleicht sollte man hin und wieder das Internet bei Seite legen und 1 gutes Buch lesen.

Anzeige

Wie schafft man es gegenüber den Realitäten der Welt nicht zu resignieren?
Bit-Tuner: Hin und wieder 1 Buch lesen.
Göldin: Vince Staples hat gesagt: “Ich muss das System bekämpfen, aber ich brauche auch einen neuen Ferrari.”
Bit-Tuner: Wo sagt Vince Staples das?
Göldin: Auf 1 Song.
Bit-Tuner: Auf welchem Song?
Göldin: Hab ich vergessen.
Bit-Tuner: Aber was hat das mit der Frage zu tun?
Göldin: So lange man einen gewissen Antrieb hat, Dinge zu wollen, ist man noch nicht resigniert. Das sagt mein Physiotherapeut.

Gibt es einen Hoffnungsschimmer, dass die Welt doch noch zu einem besseren Ort wird und was sind eurer Meinung nach die dringlichsten Veränderungen/Umwälzungen, die eingeleitet werden müssten?
Bit-Tuner: Nein.
Göldin: Ja.
Bit-Tuner: Hätte ich ja gesagt, hättest du nein gesagt.
Göldin: Nein.
Bit-Tuner: Es gibt durchaus Tendenzen, dass die Welt ein besserer Ort wird.
Göldin: Und was sind in deinen Augen die dringendsten Veränderungen, die die Welt braucht?
Bit-Tuner: An einem Imbiss in Hangzhou in der chinesischen Provinz Zhejiang sah ich einmal einen Mann Nudeln essen, und auf seinen Chopsticks war ein kleiner Ventilator montiert, damit die Nudeln auf dem Weg in den Mund besser abkühlen. Ich denke, diese Veränderung hat die Welt nicht gebraucht.

Welche Rolle oder Funktion haben dabei (beim Einleiten der Veränderungen/Umwälzungen) Musiker und ihre Kunst, oder die Kulturschaffenden und die Kunst an sich?
Göldin: Künstler sind die Seismographen einer Gesellschaft.
Bit-Tuner: Kannst du das bitte ausführen?
Göldin: Nun, die Künstler, die fühlen es, Seismographen eben.
Bit-Tuner: Das ist doch Quatsch.
Göldin: Warum?
Bit-Tuner: Weil meine Beats Erdbeben auslösen. Wie soll ich da gleichzeitig Seismograph sein?
Göldin: Gute Frage. Nächste Frage.
Bit-Tuner: Ich denke, dass Künstler eine Gesellschaft davor bewahren, zu einem grauen Parkhaus zu verkommen.

Anzeige

Auf dem Album spielen Drogen eine wichtige Rolle. Ich meine damit: An verschiedenen Stellen werden sinnesverändernde Substanzen erwähnt. Welche Rolle spielen diese Substanzen in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem eurer Meinung nach?
Göldin: Ich will schon lange dieses Buch von Roberto Saviano über den Kokainhandel lesen.
Bit-Tuner: ZeroZeroZero–ein atemberaubendes Buch! Von den Kettensägenmassakern in Mexiko bis hin zu den Bankhäusern in New York oder London.
Göldin: Gibt es eigentlich 1 Buch, das du nicht gelesen hast?
Bit-Tuner: Begegnungen mit dem Serienmörder. Jetzt sprechen die Opfer von Stephan Harbort.

Kann Liebe den Platz einnehmen, die diese Substanzen im Moment inne haben?
Göldin: Ich finde, man sollte diese beiden Dinge nicht gegeneinander ausspielen. Drogen sind Liebe, und Liebe ist eine Droge.
Bit-Tuner: Wo wurde Kokain erfunden?
Göldin: In Kolumbien?
Bit-Tuner: In Deutschland.
Göldin: Natürlich. Wo sonst?
Bit-Tuner: Und die Nazis waren auf zig Millionen Ampullen Crystal Meth (Pervitin), als sie Frankreich überfielen.
Göldin: Was willst du damit sagen?
Bit-Tuner: Dass Drogen schon immer einen schwierigen Stellenwert hatten in unserer Welt. Wir brauchen mehr Liebe.

Die Visuals des Albums kommen von der Gruppe Bitnik | Foto: Screenshot Webseite

Zu jedem Song gibt es eine bildliche Ebene. Welche Rolle spielt die Visualisierung eurer Songs?
Göldin: Ich glaube, dass sie eine wichtige Rolle spielt.
Bit-Tuner: Glaubst du oder weißt du?
Göldin: Ich weiss, dass jeder Song eine eigene URL hat. Das Album besteht aus neun in sich geschlossenen Kreisläufen, gleichzeitig hängt alles zusammen.
Bit-Tuner: 9 Kreisläufe, 1 Album.

Anzeige

Könnt ihr uns mehr zur Mediengruppe Bitnik erzählen?
Göldin: Wir dürfen hier nichts Falsches sagen.
Bit-Tuner: Das sind Computermenschen, Hacker,die seit Ewigkeiten gute Sachen machen: Opernhaus verwanzen. Überwachungskameras in London hacken, um dann auf den Kontrollmonitoren Schach zu spielen.
Göldin: Sich mit Julien Assange betrinken.
Bit-Tuner: Kürzlich habe ich in der Bilanz gelesen, dass sie zu den wichtigsten Künstlern im Land zählen.
Göldin: Deren Sachen waren schon immer Kunst, lange vor der Bilanz, nur haben das die Leute früher nicht verstanden.

War der Release ein einmaliges Ereignis oder sind Göldin & Bit-Tuner back im game?
Göldin: Wir sind nicht Back im Game.
Bit-Tuner: Wir sind Crack im Game.

**

Göldin & Bit-Tuner machen Facebook zu einem besseren Ort.

Verpass kein abgefahrenes Interview mit Schweizer Künstlern auf Facebook.