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Wollen die Attentäter von Wolgograd die Winterspiele in Sotschi zerstören?

Im Vorfeld der Olympischen Spiele wurde um Sotschi eine Sicherheitszone errichtet, die sich etwa 100 Kilometer entlang der Küste und 40 Kilometer ins Landesinnere erstreckt. Das gesamte Land in dieser Weise abzusichern, ist allerdings unmöglich.

Der Linienbus in Wolgograd nach dem Selbstmordanschlag am letzten Montag (Foto von Nikita Baryshev / Demotix)

Bei den Doppelanschlägen auf einen Linienbus und den Hauptbahnhof im russischen Wolgograd wurden kurz vor dem Jahresende 34 Menschen getötet und noch mehr verletzt. Auch wenn sich bisher niemand zur Tat bekannt hat, richtete sich der Verdacht sofort auf islamistische Untergrundgruppen des Nordkaukasus. Der tschetschenische „Emir des Terrors“ Doku Umarow hatte im Sommer seine Anhänger dazu aufgefordert, die Winterspiele mit allen Mitteln zu torpedieren. Mittlerweile sind großangelegte Ermittlungen mit zahlreichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen angelaufen. Doch warum fiel ausgerechnet Wolgograd den Anschlägen zum Opfer? Darauf gibt es keine offensichtliche Antwort. Die Stadt liegt rund 700 Kilometer nordöstlich von Sotschi und gehört nicht zur Region des Nordkaukasus, wo es öfter zu Selbstmordattentaten kommt. Dennoch hat Wolgograd einen symbolischen Platz in der Geschichte Russlands—im Zweiten Weltkrieg war die Stadt der Schauplatz der Schlacht von Stalingrad. Der Anschlag auf Wolgograd könnte pragmatische Gründe haben: Sotschi selbst ist zu streng bewacht. Im Vorfeld der Olympischen Spiele wurde eine Sicherheitszone errichtet, die sich etwa 100 Kilometer entlang der Küste und 40 Kilometer ins Landesinnere erstreckt. Das gesamte Land in dieser Weise abzusichern, ist allerdings unmöglich. „Die Sicherheitsbehörden sollten davon ausgehen, dass die Attentate in Wolgograd ein Manöver waren, um die Aufmerksamkeit von Sotschi zu lenken“, schrieb Andrei Soldatov, ein russischer Sicherheitsexperte und Betreiber der Webseite Agentura.ru, in einem Artikel im Telegraph. Oliver Bulloug, Kaukasus-Redakteur des Institute for War and Peace Reporting, findet es besonders auffällig, dass die Attentäter wiederholt an den gleichen Ort zurückkehrten. Schon im Oktober hatte sich eine Selbstmordattentäterin in einem Bus in Wolgograd in die Luft gesprengt und sieben Menschen getötet. Die Attentäter „fühlen sich offenbar sehr sicher, dass die Polizei sie nicht aufhalten wird, was für Russland im Allgemeinen und für Wolgograd im Besonderen besorgniserregend ist“, erzählte er mir. Präsident Wladimir Putin besuchte Verletzte des Anschlags im Krankenhaus und erwähnte sie in seiner Neujahrsansprache: „Wir verneigen unser Haupt vor den Opfern des furchtbaren Terroranschlags“, sagte er. „Wir werden den Kampf gegen die Terroristen konsequent bis zu ihrer vollständigen Vernichtung fortsetzen.“
Das behauptet er allerdings schon seit Längerem. Seit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 hat Russland ziemlich viele Terroranschläge durchgemacht, genauer gesagt 1.896. 1999, kurz bevor Putin zum ersten Mal Präsident wurde, kündigte er an, die Terroristen zur Strecke zu bringen. In einer besonders einprägsamen Formulierung versprach er, sie „auf dem Klo kaltzumachen“. Im russischen Nordkaukasus stehen Bombenanschläge und Schießereien regelmäßig an der Tagesordnung. Nach den Anschlägen am Moskauer Domodedovo-Flughafen im Januar 2011, bei denen 37 Menschen getötet worden waren, hatte sich die Lage außerhalb des Nordkaukasus zunächst beruhigt. Dieser Umstand wurde dem Moratorium der Islamisten zu den Terroranschlägen in Russland zugeschrieben. Im Juni hob Umarow (der sich für die Anschläge an dem Moskauer Flughafen verantwortlich erklärt hatte) dieses Moratorium jedoch wieder auf und forderte seine Anhänger zu Anschlägen auf die Winterspiele in Sotschi auf. In der Vergangenheit hatte Putin Terroranschläge für den eigenen Machtausbau zu nutzen gewusst. Die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten im September 1999 spielten keine unwichtige Rolle, als der damalige Premierminister Putin das Amt des Präsidenten von Boris Jelzin übernahm. Auch das Massaker, das 2004 in einer Schule in Beslan stattgefunden hatte, ermöglichte ihm, seinen Einfluss weiter zu stärken. Doch die Anschläge, die letzte Woche in Wolgograd stattfanden, „lassen Putin einfach nur schlecht, oder schlimmer noch, inkompetent dastehen“, sagte Bullough. „Den Terrorismus zu beenden, verspricht er seit vierzehn Jahren, doch der Terrorismus ist nicht beendet.“ Für Moskau sind die Winterspiele von Sotschi ein Prestigeprojekt. Der Welt soll gezeigt werden, was Russland alles kann. Doch von Anfang an standen die Spiele in Verruf. Abgesehen von den astronomischen Kosten—mit über 40 Milliarden Euro handelt es sich um die teuersten Olympischen Spiele der Geschichte—, wurden auch Vorwürfe bezüglich Korruption und Umweltschäden erhoben. Weil sich die Beziehungen vieler Länder mit Russland in den letzten Monaten abgekühlt haben, kündigten deutsche, französische, amerikanische und andere Staatsoberhäupter an, dass sie nicht zu den Spielen erscheinen werden. Diese Entscheidung wurde als Statement gegen Menschenrechtsverletzungen verstanden. Die Anschläge auf Wolgograd haben die Sorge um die Sicherheit der gesamten Veranstaltung wiederbelebt. Sotschi liegt beunruhigend nahe am Nordkaukasus. Tschetschenien hat noch immer mit den Wunden aus zwei Kriegen zu kämpfen, die der Kreml in den 1990er Jahren gegen die Kaukasusrepublik führte; der zweite Krieg wurde 1999 gestartet, als Putin Premierminister war. Mittlerweile wird Tschetschenien von Ramzan Kadyrov angeführt, einem ehemaligen tschetschenischen Rebellen, der nun Putin den Rücken stärkt (und einen berühmten Instagram-Account führt). Doch trotz der Bemühungen Moskaus, die Region gewaltsam zu zähmen, bleibt die Lage in Inguschetien, Kabardino-Balkarien und in Dagestan, das Bullough „kleinen Zipfel Afghanistans, der nach Russland verpflanzt wurde“ nannte, brisant. Letztendlich habe Sotschi „die Aufmerksamkeit auf all die Schattenseiten Russlands gelenkt, die Putin versucht zu verstecken“, sagte Bullough. Die Spiele werden am 7. Februar eröffnet. Kurz nach den Angriffen in der letzten Woche sagte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, dass er überzeugt sei, dass die russischen Behörden „geschützte und sichere“ Spiele gewährleisten würden.