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Popkultur

Zürich: Ad Acta

Warum du ACTA hassen sollst.

Seit Bin Laden Fischfutter ist, sind Piraten die neuen Terroristen. Ob „ACTA" oder „Patriot Act", irgendein Feind der Gesellschaft ist immer gefährlich genug, dass der Überwachungsstaat ausgebaut werden muss. In diesem Fall konnte unser Mann Guy Fawkes zur Abwechslung einen Punkt für sich verbuchen; ACTA liegt erst mal auf Eis. So scheint es zumindest. Eigentlich wollten wir dir hier erklären warum du ACTA hassen sollst. Da gibt es natürlich reichlich Gründe für. Eine Gruppe von westlichen Entscheidungsträgern hat einmal mehr versucht uns die Freude am Internet zu nehmen. Das ganze geschah dann noch hinter unseren, von demokratischem Weltverständnis geprägten, Rücken. Da könnte man sich schon ein bisschen hintergangen fühlen. Richtig haarig wäre es natürlich erst mit der vermeintlichen Überwachung durch die Internetanbieter und den daraus resultierenden Internetsperrungen geworden. Alles in Allem haben unsere Vertreter in Genf und Brüssel mal wieder versucht chinesische Verhältnisse einzuführen. Wahrscheinlich ist es deutlich einfacher eine Gesellschaft auf die Weise zu regieren, als durch diese lästige Demokratie. Wie die meisten Geheimnisse, sickerte halt auch dieses durch und löste eine weltweite Protestwelle aus. Europaweit gingen über Hunderttausend Empörte auf die Straße um sich gegen diese Einschränkungen ihrer Privatsphäre und Meinungsfreiheit zu wehren. Heute scheint es, als wäre dieser Widerstand wirklich groß genug, um den Vertrag zu kippen. Selbst in den dunkelsten rechtskonservativen Sümpfen der kontinentalen Politik wird augenblicklich eifrig zurückgekrebst. Für die breite Öffentlichkeit wäre dies sehr wünschenswert. Für die Lobbyisten und Politiker die seit 2006 an ACTA arbeiten hingegen mehr als frustrierend. Entsprechend unserer Gesinnung stört es uns wenig, wenn jetzt ein paar belgische Nutten den Schoss vollgeheult bekommen. Unsere Aufmerksamkeit sollten wir allerdings auf die Inhalte, Urheber und Perspektiven dieses ACTA-Abkommens lenken. Denn wer noch nicht vollständig von der „Etappensieg-Euphorie" ergriffen ist, wird sich denken können, dass dieselben Leute, die es beinahe auf die Kette bekommen hätten ACTA einzuführen, ohne dass wir was mitbekommen, sich nicht wirklich von ein paar Hippies mit Spruchbändern aufhalten lassen. Sonst hätte es ja auch keinen Irak-Krieg gegeben, Guantanamo wäre heute ein Economy-Club Med und Börsengewinne würden besteuert werden um den Welthunger zu bekämpfen.

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In dem Sinne haben wir uns den recht mühsamen ACTA-Vertragstext reingezogen. Das Ding besteht hauptsächlich aus sich andauernd selbst wiederholendem, gekünstelt unkonkretem Beamtendeutsch. Ganze vierundfünfzig Seiten lang wird da um den heißen Brei herumgetänzelt und im Wesentlichen auf ein älteres Abkommen Bezug genommen. Wer sich das Schriftstück zu Gemüte führt, schießt also gut und gerne zwei Stunden seines Lebens in den Ofen. Fragt sich wie viele Politiker das überhaupt gemacht haben.
Das andere, deutlich konkretere Abkommen wurde schon 1971 in Bern unterzeichnet und heißt unterhaltsamer Weise „TRIPS". Das Vertragswerk bezieht sich auf die (Achtung Originaltext) „Handelsbezogenen Aspekte des geistigen Eigentums". Nicht erfasst sind dabei die Urheberpersönlichkeitsrechte. TRIPS beruht auf der Lobby-Arbeit von 13 amerikanischen Konzernen: Bristol Myers, DuPont, General Electric, General Motors, Hewlett Packard, IBM, Johnson and Johnson, Merck & Co.Inc., Monsanto, Pfizer, Rockwell International und Time-Warner. Als aufmerksamer VICE- Leser hast du jetzt auch geschnallt, warum gerade die Urheberpersönlichkeitsrechte (Rechte der Künstler an ihren eigenen Ideen) bei diesem Abkommen ausgelassen wurden. Weiter ist es unter anderem diesem Abkommen zu verdanken, dass wenn wir mal eine Heilung für AIDS entdecken, die meisten Aidskranken sich diese nicht augenblicklich werden leisten können, sondern erst wenn das Patent des „Rechteinhabers" (Novartis oder DuPont z.B.) verfallen ist und es legal wird billigere Generika herzustellen. Nach durchschnittlich 20 Jahren also.
Das leider nur scheintote ACTA -Abkommen hat nebst anderen nebulösen Aufgaben und Möglichkeiten, vornehmlich darauf gezielt, den Vertragsparteien (die unterzeichnenden Staaten) Instrumente zur Hand zu geben, um diese TRIPS-Bestimmungen durchzusetzen. ACTA hätte also nicht die Urheberrechte neu definiert (die findet man bereits im TRIPS Abkommen), sondern lediglich Maßnahmen geschaffen diese durchzusetzen.

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Zusammengefasst würde ACTA den Staaten also ermöglichen, jeden bei praktisch jeder Gelegenheit zu filzen. Sei es am Flughafen oder im Internet. Der „Verdacht auf Verletzung des Markenrechts" gäbe den staatlichen Institutionen das Recht, sich deinen gesamten Datenverkehr reinzuziehen, zu speichern und gegebenenfalls gegen dich zu verwenden.
Du schickst deiner Liebsten also „Eurer Lied" als Mp3 und schon brauchst du einen Anwalt. Es sei denn natürlich „Euer Lied" hast du selbst gemacht. Häng an deine „Open-House- Jeder-kann-kommen-soll-aber Alkohol-mitbringen-Party- Einladung" ein lustiges GIF an, das dich zeigt wie du einer Ronald Mc Donald-Statue auf den Kopf pinkelst und du stehst bereits mit einem Bein im Knacki-Overall. Wenn wir jetzt an den perversen Scheiss denken, den wir uns in der Redaktion so hin- und herschicken, wird so viel Transparenz immer unattraktiver.

Wie schon der „Terrorismus" bietet also die „Internetpiraterie" und der „Markenklau" in erster Linie eine willkommene Legitimationsbasis, die staatliche Überwachung weiter auszubauen. In zweiter Linie werden durch derartige Abkommen die Interessen von weltweit tätigen Konzernen geschützt und die staatlichen Organe mehr und mehr dazu benutzt, diesen Schutz auf Kosten der Bevölkerung (mal ganz abgesehen von der Steuerbelastung; Internetzensur? Bist du deppert?) aufrechtzuerhalten. Von den Unmengen an Asche, welche durch die ganzen Gerichtsverfahren in die Konzernkassen gespült würden, gar nicht zu sprechen.
Zum Glück wackelt ACTA und kommt jetzt voraussichtlich in den einzelnen Staaten nicht mal zur Ratifizierungs-Abstimmung. Genau wie die amerikanische Variante SOPA auch nicht zur Abstimmung kam. Das lässt natürlich einen Grossteil der Internetbevölkerung aufatmen und sich gegenseitig auf die Schulter klopfen, weil man so toll mobilisierbar war und den Säcken in Bern, Brüssel oder Berlin mal wieder gezeigt hat, dass man nicht alles mit sich machen lässt.
Protesten wird allerdings, wenn überhaupt, jeweils nur solange entsprochen wie sie andauern. Genau da liegt der Hund begraben. Dass ACTA, SOPA, PIPA und wie sie alle heißen nicht zur Abstimmung kommen, bedeutet lediglich, dass der Zeitpunkt für eine solche Abstimmung grad denkbar ungünstig ist.
Während sich die Konzern-Lobbyisten kaum um politischen Rückhalt in der Bevölkerung zu scheren brauchen, ist dieser für demokratisch gewählte Volksvertreter bis jetzt noch von vitaler Bedeutung. Würde man im Augenblick von unseren Volksvertretern verlangen, eine derart unbeliebte Maßnahme durch die Legislative zu boxen, würde deren Popularität wohl dermaßen leiden, dass die um ihre (auch bald anstehende) Wiederwahl bangen müssten. Nicht-gewählte Politiker bringen ja bekanntlich gar niemandem irgendwas.
Erfahrungsgemäß werden die Verantwortlichen jetzt genau so lange Gras über die Sache wachsen lassen, bis die breite Öffentlichkeit was anderes gefunden hat, auf das sie ihre Aufmerksamkeit richten kann. Wenn z.B. ein Präsident von der Sekretärin mal wieder einen geblasen bekommt oder der Iran angegriffen wird, geht bestimmt irgendwo ein Hintertürchen auf, durch welches man die ACTA- Bestimmungen, bestenfalls unter einem anderen Namen (IPRED z.B.), in die Gesetzgebung schmuggeln kann. Wir bleiben derweil wachsam.

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