Ultras neben Familien: Mit der Black Army beim Stockholmer Hassderby

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Ultras neben Familien: Mit der Black Army beim Stockholmer Hassderby

Wenn AIK gegen Djurgården spielt, fliegen neben Bengalos auch schon mal die Fäuste. Trotzdem stehen hier Familien neben durchtätowierten Ultras. Die Gemeinschaft ist das Kontrollgremium.

Dieser Artikel erschien ursprünglich im Magazin Eight By Eight.

Im Morgenlicht sieht die Friends Arena in Solna, Stockholm, leer und unprätentiös aus. Auf dem Rasen sieht man Greenkeeper, die über die Qualität des Rasens (den alle hier hassen) diskutieren, während Ordner routinemäßige Sicherheitskontrollen durchführen. Da haben sie auch allen Grund für: Denn heute Abend findet mit dem Spiel zwischen AIK und Djurgårdens IF das wichtigste Derby im schwedischen Fußball statt: Die Fan-Banner hängen schon, still und anonym. Die Rivalität zwischen den „Zwillingsklubs" (beide wurden im Jahr 1891 gegründet) ist in der Allsvenskan unübertroffen.

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Ich habe von dem Spiel von meiner Cousine Olga und ihrem Ehemann Michael erfahren, der vor vielen Jahren zusammen mit Freunden „AIK-Tifo"—eine Ultra-Gruppierung, die auf Choreos spezialisiert ist—gegründet hat. Michael, Olga und ihre 8-jährige Tochter haben allesamt Jahreskarten und werden auch heute Abend im Stadion sein. Sie versichern mir, dass das Ganze ein großes Familienspektakel wird, geben aber gleichzeitig den „verrückten" Charakter der Veranstaltung zu.

Gemeinsam mit Michael und Johan Segui, dem Vorstandschef von AIK, gehen wir runter zum Rasen. „Heute Abend keine Bengalos, OK?", meint er zu Michael. Der lächelt verschmitzt und antwortet: „Natürlich nicht." Die beiden zwinkern sich zu. „Der Hund da drüben sucht grad nach Pyrotechnik", erklärt Johan und zeigt in Richtung Tribüne. „Er wird nichts finden und trotzdem wird sie auch heute Abend wieder da sein."

Dank der unfassbaren Atmosphäre (und begünstigt durch die Tatsache, dass man im Stadion nicht alkoholfrei unterwegs sein muss), ist das Derby zu einem wichtigen Datum im europäischen Fußballkalender geworden. „Wir haben auch Fans aus England, die herkommen, um ehrlichen Fußball wie früher erleben zu können", so Johan weiter. „In der heutigen Premier League gibt es doch nur noch Sitzplätze und 65% sind eh Touris. Hier in Schweden wird vielleicht nicht der beste Fußball gespielt, dafür bieten wir eine Atmosphäre, die an England in den 80ern erinnert."

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Keine Pyrotechnik im Stadion sieht anders aus. Foto: Auszug aus dem Magazin „Eight By Eight"

In den 70er-Jahren begann das schwedische Fernsehen, englischsprachige Produktionen in Originalsprache zu senden. Und in der Fankultur ist das eingetreten, was man auch in den USA seit rund einem Jahrzehnt beobachten kann: Man hat sich nach britischem Vorbild ausgerichtet. Darum entstanden in den 80er-Jahren auch Fangruppierungen wie Black Army (AIK) oder Blue Saints (Djurgården). Wie in England, Italien und auch anderswo in Europa gibt es auch hier eine lebhafte Diskussion darüber, was man noch als „normales" Stadionverhalten ansehen kann und was bereits in den Hooligan-Bereich fällt. Johan, Michael und Björn—ein Kollege von Michael und frevelhafterweise Anhänger von Djurgården—geben zu, dass es manche Fans eindeutig zu bunt treiben. Im Allgemeinen herrsche aber zwischen Ultras und Normalos kaum ein Unterschied.

Beim Derby 2011 haben alle 24.000 Zuschauer die ersten zehn Minuten keinen Mucks von sich gegeben. Grund dafür waren Drohgebärden vonseiten des schwedischen Fußballverbands (mit dem Verbot bestimmter Fangesänge und Pyrotechnik) sowie eine zunehmende Medienschelte, die sich auf die angeblichen Gefahren—sowohl moralischer als auch physischer Natur—von Fußballspielen eingeschossen hatte. Die Spieler fanden das nicht toll. Und auch das Spiel litt darunter. Die Botschaft dahinter war zweifältig: Einerseits wollte man zeigen, dass sich Fans durchaus benehmen können. Andererseits wollte man unterstreichen: Ihr braucht uns. In der zweiten Hälfte sah man dann wieder das gewohnte Bild von Bengalos, Verzögerungen und ein paar Festnahmen.

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Auch wenn es ein denkwürdiges Spiel war, ist diese Dichotomie doch typisch für das Stockholmer Derby: Längere Momente von Normalität und gegenseitigem Respekt werden von plötzlichen Gewaltausbrüchen unterbrochen. Es ist fast so, als würde der Druck einer möglichst perfekten Gesellschaft die armen Kerle dergestalt drangsalieren, dass sie ab und zu—gewissermaßen um Druck abzulassen—wieder in alte Wikinger-Verhaltensmuster zurückfallen müssen. Im Gegensatz zum spanischen Clásico spielen hier glorifizierte Ideologien nicht mit rein. „Es hat mit Politik nichts zu tun", erklärt Michael. „Wir mögen uns einfach nicht."

Nachdem Michael und ich stilecht köttbullar in einem fast schon klinisch sauberen Pub (merkt ihr das Oxymoron?) gleich neben dem Stadion genossen haben, laufen wir die paar Meter zum Stadion. Vor uns werden Männer von ihren Frauen abgesetzt, die ihren Göttergatten noch eine wichtige Botschaft mit auf den Weg geben: „Schön artig bleiben. Wir holen euch nach dem Spiel wieder ab." Die Schlangen vor dem Einlass werden von überraschend verhaltensunauffälligen Menschen bevölkert. Durchtätowierte Ultras stehen hier neben anständig gekleideten Vätern mit ihren Töchtern im Schlepptau, die wiederum neben eingeflogenen Touri-Schaulustigen wie mir stehen. Das einzige Anzeichen für sozialen Zerfall findet man im ausgesprochen widerlichen Dixie-Klo—und wohl auch in der Tatsache, dass die Auswärtsfans, die ja selber aus Stockholm kommen, in Sonderbusse gesteckt werden mussten, die direkt an die Eingänge rangefahren werden.

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Wir werden von lächelnden Security-Mitarbeitern abgetastet und schließlich ins Stadion gelassen. Ich frage Michael, wie die Pyrotechnik jedes Mal von Neuem ins Stadion gelangt, worauf er mir Geschichten von in Hosen, Fahnen und sogar in Kinderwagen versteckten Bengalos erzählt. Nachdem wir uns bei freundlichen Servicekräften ein Bier gekauft haben, suchen wir uns einen Sitzplatz.

Langsam füllen sich die Tribünen, während das Feld durch Bengalos und Rauchbomben kaum zu sehen ist. Fast schon erwartungsgemäß wird der Anstoß verschoben. Als es dann endlich losgeht, beginnt das reine Chaos. Überall werden erneut Bengalos und Rauchbomben gezündet, riesige Fahnen werden ausgerollt und die Tribüne wird zu einer wilden Kreatur aus Rauch und Feuer. Ich bin mit der Situation total überfordert und weiß nicht, wann ich anfeuern, klatschen oder stampfen soll. Der Lärmpegel ist überwältigend und einschüchternd. Und das soll es ja auch sein, schließlich spielt AIK gegen den Erzrivalen.

Der Fußball, der uns hier geboten wird, ist tatsächlich nur wenig beeindruckend. Auch wenn ich mich frage, ob ich das wirklich beurteilen kann. Denn aufgrund von dauerhaften Rauchschwaden sehe ich den Ball kaum. Noch in der ersten Halbzeit fällt für AIK dann ein Tor. Neben, hinter und unter uns beginnt ein apokalyptisches Spektakel bestehend aus Grölen, Stampfen, Schreien und noch mehr, viel mehr, Pyrotechnik. Ultras fallen vor lauter Freunde übereinander her. Minutenlang werden wir von einem Bierregen nach dem nächsten übergossen. Mehrere Leute kriegen mit, dass ich auf Englisch spreche, und wollen von mir wissen, ob ich mich amüsiere. Wegen des ausländischen Besuchs schauen sie auch ein bisschen stolz aus der Wäsche. Hinter mir komme ich mit zwei Australiern ins Gespräch, die eine Nacht Layover in Stockholm haben. Nachdem sie in der Stadt Werbung für das Derby gesehen haben, sind sie spontan hergekommen. „Sowas wie hier haben wir noch nicht gesehen", meint der eine.

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In der Halbzeitpause beobachte ich, wie drei komplett besoffene AIK-Anhänger einen Rollstuhlfahrer fast über den Haufen rennen und dabei sein Bier verschütten. Sofort entschuldigt man sich brav und holt dem Herrn schnell ein neues Bier. Der Ausgang der Szene steht in starkem Kontrast zum scheinbar unkontrollierten Wahnsinn auf den Rängen. Ein anderer Fan erklärt mir: „Wenn sich jemand danebenbenimmt, pfeifen ihn andere Fans zurück. Und wenn Kinder in der Nähe sind, sind auch Schimpfwörter nicht gerne gesehen."

Trotzdem gibt es auch dieses Mal wieder Idioten, die deutlich über die Stränge schlagen: Djurgården-Anhänger werfen Raketen in Richtung AIK-Fans. Ordner müssen einschreiten und führen die, die sich nicht beruhigen lassen wollen, aus dem Stadion. Michael legt seine Stirn in Falten und schüttelt den Kopf. Dann erzählt er mir, dass letzte Saison ein Fan von Djurgården bei einem Auswärtsspiel zu Tode geprügelt worden ist.

Wir bleiben stringent beim Thema Tod. Denn als in der 27. Minute das Stadion lautstark applaudiert, erklärt mir Michael, dass mit dieser Geste an den 2013 im Schlaf verstorbenen Ivan Turina erinnert wird, der bei AIK die Rückennummer 27 trug. Turina wurde nur 32.

Auch ohne AIK-Beteiligung kann es bei Djurgården-Spielen knallen. So etwa bei einem Testspiel gegen den 1. FC Union Berlin. Foto: ERIK MARTENSSON/EPA

Johan erzählt mir, dass er als Vorstandschef ständig vor der Herausforderung stehe, die richtigen Maßnahmen in die Wege zu leiten, damit die tolle Atmosphäre nicht umkippt und in Gewaltexzesse ausartet. Seiner Meinung nach habe man bei AIK diesbezüglich schon Fortschritte gemacht, was vor allem an einem größeren Dialog mit den verschiedenen Fangruppierungen—auch den gewaltbereiten—liege. „Die Polizei und auch die Medien wollen nicht, dass wir mit sogenannten Hooligans sprechen, sie wollen, dass wir sie aus dem Verein werfen", sagt er. „Wir haben aber klargestellt, dass wir sie nicht rauswerfen können—schließlich sind sie Mitglieder und wir leben in einer Demokratie. Außerdem ist es leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Das sehen wir ja in England, wo es nicht funktioniert." In der Allsvenskan sind Vereinsmitglieder die Eigentümer ihrer Vereine. Johan wurde offiziell gewählt und leitet den Dialog zwischen Verein und Fans. Es ist genau diese Einstellung, die das Stockholm-Derby so speziell macht: Das Ziel lautet Integration statt Ausgrenzung. Darum sitzen Familien wie die von Michael und Olga auch Schulter an Schulter mit durchtätowierten Ultras.

Für Johan sind Fans, die gewalttätig werden, trotzdem „Idioten". Es gebe aber immer wieder positive Gegenbeispiele, und das selbst bei den härtesten Kerlen. Eins davon erlebe ich mit eigenen Augen, als ein Mitglied der Hell's Angels und—wie mir Michael zuflüstert—Anführer der Black Army ein einsam hängendes Djurgården-Schild einfach nur schelmisch umdreht, statt es auf den Boden zu schmeißen oder zu zerstören.

Es wird schnell offensichtlich, dass zwischen gewöhnlichen Anhängern und Hardcorefans eine—wenn auch nicht immer reibungsfreie—Symbiose herrscht. Mit Johan als wichtigstem Bindeglied. Eine ähnliche „Symbiose"—obwohl in Wirklichkeit doch eher Spannungsverhältnis—steckt in dem Wunsch vieler schwedischer Fußballfans, einerseits „normal, aber nicht zu normal" aufzutreten, andererseits ihrem Gegenüber ganz Wikinger-like eins über den Schädel zu ziehen. Für Männer wie Johan, Michael und Björn gehören Hardcorefans (aber bitte nicht die mit Hooligan-Allüren) einfach dazu—und sind auch aus wirtschaftlichen Gründen kaum wegzudenken. Denn 2014 standen die Spielergehälter in der Allsvenskan nur auf dem 27. Platz unter den Topligen dieser Welt. Ohne Ticketeinnahmen kann hier kein Verein überleben.