Wie es ist, in Österreich minderjährig und obdachlos zu sein
Alle Fotos von der Autorin

FYI.

This story is over 5 years old.

Österreich

Wie es ist, in Österreich minderjährig und obdachlos zu sein

"Man fragt vorsichtig bei einer 14-Jährigen nach, wo sie die letzten Wochen untergekommen sei und erfährt dann, dass der neue Freund, den sie erst seit einem Monat kennt, schon 45 ist."

Im Kontrast zu den wegen der Kälte jammernden Menschen, die sich schnell vom warmen Ort A zum warmen Ort B bewegen, stehen aufgeschlagene Zelte in den Büschen auf der Donauinsel, Parkbänke, Verstecke unter Brücken oder Nachtlager in verlassenen Hauseingängen. Es sind (temporäre) Schlafplätze für zahlreiche Minderjährige in Wien, die es hier in der sogenannten ersten Welt, im viertreichsten Land der EU, zumindest in der Theorie so überhaupt nicht geben dürfte. Denn eigentlich ist bis zum 18. Lebensjahr der Staat für die vom Weg abgekommenen Jugendlichen zuständig. Eigentlich.

Anzeige

Praktisch zeichnet sich in der Hauptstadt ein anderes Bild: Auch wenn weder Hilfsorganisationen noch Jugendhilfe eine genaue Zahl nennen können, da schon allein die Definition eine schwierige ist, dürften doch hunderte Kinder und Jugendliche regelmäßig durch die Straßen Wiens streunen oder zumindest in prekären Wohnungssituationen leben.

"Wenn du 14 bist, von zu Hause keine festen Regeln kennst, der Anblick deines koks-ziehenden Onkels alltäglich ist und du dann in ein Krisenzentrum kommst, wo plötzlich Strukturen gegeben sind, ist es für die Jugendlichen extrem schwierig."

Ihre Historie ist oft geprägt von Gewalt und Vernachlässigung. Viele der Jugendlichen, die auf der Straße leben, kommen aus finanziell desolaten Familienverhältnissen, haben Eltern, die schon mit ihrem eigenen Leben nicht wirklich zurecht kommen und schlicht überfordert sind. Es gibt aber auch die, die aus eigentlich gut situierten Familien kommen, für die sich aber trotzdem niemand so wirklich verantwortlich fühlt.

"Verallgemeinern lässt sich da schwer – weder bei sozialer Herkunft, noch bei der Geschlechterverteilung der Betroffenen", erzählt mir Thomas Adrian, Sozialarbeiter bei der Caritas. "Bei Mädchen liegt die Dunkelziffer der versteckten Wohnungslosigkeit wohl höher, da sie sich öfter in Zweckgemeinschaften begeben." Das würde man auch öfter mitbekommen, dagegen tun kann man aber wenig. "Man fragt vorsichtig bei einer 14-Jährigen nach, wo sie die letzten Wochen untergekommen sei und erfährt dann, dass der neue Freund, den sie erst seit einem Monat kennt, schon 45 ist."

Anzeige

Gemein haben die Burschen und Mädchen in jedem Fall, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen, ihnen der Schritt auf die Straße noch immer besser erscheint als noch länger in der jetzigen Situation zu verharren.

Das Wiener Amt für Jugend und Familie bietet für Gefährdete sehr viel und fängt so den Großteil ab. Es gibt Krisenzentren und andere Einrichtungen, doch die Diversität scheint trotzdem zu fehlen. Hier steht das Gesetz im Vordergrund – muss es. "Plakativ gesagt: Wenn du 14 bist, du von zu Hause keine festen Regeln kennst, der Anblick deines koks-ziehenden Onkels alltäglich ist und du dann in ein Krisenzentrum kommst, wo plötzlich Strukturen gegeben sind,  die man nie kennen gelernt hat, ist es für die Jugendlichen extrem schwierig sich auf einmal in einer Krisensituation an diese Regeln zu halten. Man kann sagen, da kommt man mit 14 schon fast zu spät ins Hilfssystem", sagt Thomas dazu.

"Man fragt vorsichtig bei einer 14-Jährigen nach, wo sie die letzten Wochen untergekommen sei und erfährt dann, dass der neue Freund, den sie erst seit einem Monat kennt, schon 45 ist."

Maria Olivier vom MAG ELF Wien scheint da etwas optimistischer: "Bei uns gilt das Motto 'Jeder Tag eine neue Chance'. Bei unseren Krisenzentren gilt die Freiwilligkeit, aber natürlich muss der Jugendliche auch in gewisser Weise kooperieren. Es wird von ihrer Seite oft versucht auszureizen, wie weit sie gehen können. Sie sind mit dem Gedanken 'Ich pass nicht in das Regelwerk.' aufgewachsen. Mit dem versuchen wir zu arbeiten." Minderjährige, die das Angebot nicht annehmen können oder wollen, werden so nur schlecht erreicht – gerade, wenn die Eltern nicht mit an einem Strang ziehen. Auch die Jugendhilfe hat irgendwann ihre Grenzen erreicht.

Anzeige

Die Kinder und Jugendlichen, die so nach und nach durch alle Netze der staatlichen Versorgung fallen, finden fürs Erste oft Zuflucht in Einrichtungen wie a_way, der Jugendnotschlafstelle der Caritas. Das ganze Team besteht aus ausgebildeten Sozialarbeitern, ihre Klienten finden hier vor allem einen Platz zum Durchatmen. Erst einmal werden keine großen Fragen gestellt und jeder darf anonym bleiben.

Diese Anonymität dient dazu, Hemmschwellen abzubauen und anzudocken. Gerade um das Jugendamt ranken sich unzählige Urban Legends – viele Jugendliche fürchten, dass ihre Geschwister sofort der Familie abgenommen werden, wenn sie sich ans Amt wenden. Es geht viel um Schuld und Schuldgefühle. Bei a_way können ihnen anonym die Möglichkeiten aufgezeigt werden.

Erst, wenn mehr als 5 Nächte beansprucht werden und die Mitarbeiter merken, dass Hilfe gewollt ist, wird der jeweilige Fall offiziell. Es werden bei Bedarf die Dokumente von den Eltern besorgt, die Folgeunterbringung geklärt, aber auch medizinische Probleme besprochen und Einzelfallhilfe geboten. Außerdem wird versucht, die Angst vor dem Jugendamt zu nehmen und dahingehend vermittelt.

Höchstes Gebot ist hier aber trotzdem die Freiwilligkeit. Keiner wird gezwungen zu kommen, keiner dazu überredet zu bleiben. Toleranz ist eine weitere Maxime. Alkohol- und Drogenmissbrauch sind im Haus zwar verboten, ein problematischer Konsum ist aber kein Ausschlussgrund für die Aufnahme. Auch Haustiere dürfen mitgebracht werden.

Anzeige

"Gerade Alkohol und Drogen sind ja oft der Grund, warum es Stress zu Hause gibt. Die Jugendlichen sind froh, wenn sie hier zur Ruhe kommen können und sind dann meistens eh streichelweich. Im Haus gilt dann aber das Jugendschutzgesetz.", erklärt mir Thomas. Ich stelle mir dieses "Fels-in-der-Brandung-Dasein" schwierig vor, Paul, einer der Sozialarbeiter, sagt mir aber, dass das schlicht dazu gehört. Es ist Teil des Jobs. "Manche Jugendliche haben auch einfach eine andere Systembindung. Die brauchen vielleicht einmal im Monat ein Bett bei uns, um sich waschen zu können und sich auszuruhen. Dann sind sie zufrieden.", sagt sein Kollege dazu.

Es dämmert schon, als ich in der Felberstraße eintreffe, wo sich ein bisschen versteckt die Notunterkunft der Caritas befindet. Das Thermometer zeigt schon seit Tagen weit unter Null Grad an. Ein bisschen nervös bin ich, weil ich nicht so recht weiß, was mich erwarten wird. Das graue, verwinkelte Bahnhofsgelände strahlt nicht unbedingt Wohligkeit aus. Umso überraschter bin ich, als mich Thomas, einer der Sozialarbeiter, in einer warmen, freundlich-bunten Umgebung empfängt, die ein bisschen an ein Hostel erinnert – nur dass die Gemeinschaftsduschen hier sauber sind.

"Dieses ewige Kleinmachen tut auf Dauer viel mehr weh als physische Angriffe. Das geht mit der Zeit ans Herz."

Gleich beim Eingang gibt es einen Tischfußballtisch, eine große Küche, in der gemeinsam gekocht wird, einen Fernsehraum und zwei Schlafräume – mit vier beziehungsweise sechs Betten; auf einigen davon liegen abgenutzte Kuscheltiere. Die zwei anwesenden Sozialarbeiter strahlen eine Gelassenheit und Vertrauenswürdigkeit aus, die sich wie ein Weichzeichner um die ganze Einrichtung zu legen scheinen. Es gibt Tee, am Tisch stehen Obst und Kekse.

Anzeige

Von 20 Uhr bis 8 Uhr morgens öffnet die Notschlafstelle 365 Tage im Jahr ihre Pforten. Thomas öffnet den riesigen Schrank im Foyer, der akkurat mit Kleiderspenden für die Jugendlichen gefüllt ist. Der dezente Geruch von frisch gewaschener Wäsche hüllt uns ein. Nichts weist auf den ersten Blick darauf hin, mit welchen Schicksalen die Sozialarbeiter hier tagtäglich zu tun haben. Verbringt man hier die Nacht, legt man am Eingang erst mal seine Straßenkleidung ab und bekommt Jogginghose oder Pyjama zur Verfügung gestellt. Alles in der Einrichtung ist auf größtmöglichen Komfort für die Klienten ausgelegt.

Neben einer Waschmaschine stehen hier auch Hygieneartikel zur freien Verfügung. Diese dienen nicht zuletzt dazu, mit den Minderjährigen in Dialog zu treten. Wenn jemand nach sauberen Spritzen, Schwangerschaftstests oder Verhütungsmitteln fragt, werden bei Bedarf in weiterer Folge auch Einzelfallhilfe oder Case-Management angeboten. Die Unterschiede zu einem Hostel, wo man sich eher nach dem nächsten Pub Crawl erkundigt, werden dann doch langsam deutlicher. Viele der Jugendlichen hier sind abgebrüht, haben in ihrem Leben schon einiges gesehen.

Tomi*, so will er genannt werden, ist einer der rund 365 Jugendlichen, die im letzten Jahr bei a_way untergekommen sind. "Das ist mein allererstes Interview überhaupt, sagt er mir leicht verlegen mit einem verschmitzten Lächeln. "Ich hoffe, ich mach es gut." Und sofort sprudelt es aus ihm heraus. Er will seine Geschichte erzählen und ich höre einfach zu. Die Geschichte handelt von ihm, dem hörigen Jungen mit dem Über-Vater, dem er nie wirklich gerecht werden konnte, und der Mutter, mit der er kaum Kontakt hat, weil sie im Ausland lebt. Es ist ein Leben geprägt von psychischer Gewalt. "Wissen Sie", sagt er zu mir und ich fühle mich plötzlich unfassbar alt, "wissen Sie, das Psychische, dieses ewige Kleinmachen tut auf Dauer viel mehr weh als physische Angriffe. Das geht mit der Zeit ans Herz."

Anzeige

Mir wird bewusst, wie behütet ich all die Jahre aufgewachsen bin.Tomis Vater bestimmte seinen bisherigen Lebensweg, verwaltete seine Konten, an denen er sich wohl auch regelmäßig bediente, und tat alles, um ihn möglichst klein zu halten. Immer wieder schmiss ihn sein Vater aus der Wohnung und immer wieder verzieh ihm Tomi. Auch er kannte die Schauergeschichten vom Jugendamt – erzählt hat sie ihm sein Vater selbst. Im Dezember sei es dann aber so schlimm geworden, dass er sich schließlich an a_way wandte. Vermittelt wurde ihm der Kontakt von Rat auf Draht.

Als der Vater davon Wind bekommt, versucht er, seinen Sohn bei dessen Samstagsjob kündigen zu lassen und bombardiert ihn fortan mit ständigen Kontaktversuchen. Tomi ist verzweifelt. A_way hilft dem Jungen, dem seine Fähig- und Möglichkeiten gar nicht so wirklich bewusst zu sein scheinen, beim Absprung. Über sein Geld kann Tomi heute wieder selbst verfügen – und freut sich über seine ersten selbst gekauften Sneakers.

Das Alter der Wohnungslosen in Wien sinkt stetig. Das kann man auch in der Gruft oder im JuCa (einem Wohnhaus für junge Wohnungslose) beobachten, wie mir Martin Gantner, Pressesprecher der Caritas, bestätigt: "Lag das Durchschnittsalter der Bewohner im JuCa früher bei 27, liegt es heute bei 21." Auch ein Drittel der Anfragen bei P7, der zentralen Vermittlung von Notschlafstellen, käme von Unter-30-Jährigen.

Laut a_way mangelt es vor allem an leistbarem Wohnraum – aufgrund zu kleiner Wohnungen knistert es oft auch in eigentlich funktionierenden Familien und auch der Schnitt zwischen der Minderjährigkeit, in der einem grundsätzlich noch die gesamte Jugendhilfe zur Verfügung steht, und dem 18. Geburtstag, bei dem man dann plötzlich vor dem Nichts steht, sei weitaus drastischerer als er am Papier wirke.

"Jugendliche haben noch viel Energie. Sie wollen so viel", fügt Tomi's Sozialarbeiter noch an. "Durch die richtige Förderung könnte man sich viele Folgeprobleme und -kosten sparen. Verständnis und Geduld zu entwickeln ist hier das Wichtigste." Die Spirale kann seiner Meinung nach in beide Richtungen gehen. Werden Interessen der Jugendlichen gefördert, die bestenfalls in Beschäftigung resultieren, sieht man schnell einen Aufwärtstrend, auch was die soziale Inklusion anbelangt.

Das sieht auch Maria Olivier vom Jugendamt ähnlich. Wichtig ist für sie und Tom der Ausbau von Beschäftigungsprojekten wie reStart, die vor allem die Tagesstruktur der Jugendlichen fördern. reStart ist ein sehr unmittelbares Projekt, bei dem die Minderjährigen ohne Voranmeldung arbeiten dürfen und pro fertiger Stunde 4 Euro bekommen. "Die Stadt Wien hat bereits super Angebote, aber die Plätze sind oft begrenzt – so werden dann natürlich die Auflagen strenger, daran sollte man arbeiten", findet Tom. Auch die Ausbildungspflicht bis 18, die ab Juli 2017 in Kraft tritt, sehen sie als Schritt in die richtige Richtung.

Jugendlichen in ähnlichen Situationen rät Tomi, am Ende vor allem auf sich selbst zu schauen. Den letzten Monat sieht er als kleinen Befreiungsschlag und einen ersten Schritt in sein eigenes, autonomes Leben. Der Vater, der ihn am liebsten beim Bundesheer und als großen Kampfsportler gesehen hätte, hat mittlerweile die Schlösser austauschen lassen. Tomi selbst, der viel lieber zeichnet, träumt von einem Leben als Flugbegleiter. Infos zu Sach- und Geldspenden für die Caritas findest du hier
Ein Gruft-Winterpaket schenkt Wärme: www.gruft.at
…und kalt ist es auch immer noch: 01/480 45 53

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.