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Warum das virale „Flüchtlinge essen Kinder“-Video nicht lustig ist

Das ganze Internet lacht über ein Mädchen aus Mecklenburg, weil sie Unsinn über Flüchtlinge erzählt. Aber das Video ist manipulativ.

Screenshot: Youtube

Am Wochenende ging ein Video viral, in dem man einen Mann und zwei Mädchen im Teenager-Alter sieht, die über Flüchtlinge erzählen. Oder besser gesagt, die erzählen, was man sich im Ort so über Flüchtlinge erzählt. Nachdem das ältere Mädchen von dem Gerücht erzählt hat, „dass die Flüchtlinge ab und zu auch manche Leute vergewaltigen", schaltet sich die Jüngere ein und sagt: „Eine Fünfjährige wurde gegessen. Lebendig. Von'm Flüchtling." Direkt danach endet das Video.

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Wer genau das Video so geschnitten und als Erstes gepostet hat, ist nicht ganz leicht zu rekonstruieren, laut meedia tauchte es zuerst auf einem Blog auf. Es verbreitete sich kurz darauf wie wild auf Facebook und löste eine Welle aus Empörung und Häme aus. „Die Dummen sterben nicht aus"; „Asoziale Schmarotzer die sind stehen geblieben in den 90er"; „Herr wirf Hirn vom Himmel, oder Steine und dann treff bitte"—das sind nur ein paar der Kommentare unter diesem Facebook-Post.

Am Ende machte sogar die deutsche Huffington Post einen Artikel aus dem Video, und der Blog Schlecky Silberstein urteilte: „Die ostdeutsche Provinz ist in Teilen zu einem gigantischen Teenie-Horrorfilm geworden" und schob gleich noch eine Liste absurder „Ausländerfacts" hinterher.

Alles in allem haben wir uns also köstlich amüsiert über die dummen Asylkritiker, die wirklich jede noch so blöde Schauergeschichte nachplappern, solange sie nur gegen Flüchtlinge geht. Mein Gott, sind diese Ossis hohl!

Das Problem ist nur, dass das Video eine ziemlich bösartige Manipulation ist. Der Ausschnitt stammt aus einer NDR-Dokumentation namensWeltbahnhof mit Kiosk: Begegnungen von Stammgästen und Flüchtlingen in Boizenburg, in dem der Lokalsender versucht hat, ein nachdenkliches Stück zu drehen über die Welten, die da in dem mecklenburgischen Kaff aufeinanderprallen. Und ja, es geht auch über die Ängste und Sorgen der zum Teil auch eher einfachen Leute, an deren verschlafenem Bahnhof jetzt jeden Tag 50 bis 100 Flüchtlinge ankommen.

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Aber gut, hat ja niemand Zeit, sich so lange Dokus anzuschauen, und wenn das Mädchen das so gesagt hat, dann muss sie halt auch damit rechnen, dass das aus dem Kontext der Doku genommen und im Internet verbreitet wird, damit sich Tausende Menschen darüber freuen können, dass Rassisten krass dumm und sie selber krass schlau sind. Dabei gibt es nur ein Problem: Ganz so hat sie das nicht gesagt.

Das Video schneidet nämlich ab, kurz bevor sie im Original noch sagt „Stand auf Facebook", und ihr Freund „Stand. Ob das so stimmt, weiß man nicht", hinzufügt. Das passt ziemlich gut zu dem Text, mit dem die Szene in der NDR-Doku eingeleitet wird: Die Sprecherin erklärt, dass die Jugendlichen im Ort sich um die Wette Gerüchte über Flüchtlinge auf Facebook schicken. Es ist also gut möglich, dass die drei im Video gebeten wurden, mal wiederzugeben, was man sich im Ort so erzählt—und nicht unbedingt ihre eigene Meinung. Das würde die ganze Szene natürlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen—und wurde deshalb wohl weggelassen, als das Video zurechtgeschnitten wurde.

Aber selbst wenn dieses Mädchen glaubt, dass irgendwo ein Flüchtling eine Fünfjährige gegessen hat—ist das Grund genug, sie vor der Öffentlichkeit bloßzustellen? Unter dem NDR-Beitrag kommentierte schließlich auch eine Nutzerin, die das Mädchen offenbar kennt—und bemerkt, dass sie auf eine Förderschule geht und es ihr deshalb womöglich nicht so leicht fällt, Unsinn von echten Informationen zu unterscheiden.

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Noch etwas, das man nur weiß, wenn man sich die Dokumentation anschaut: Das Das ältere Mädchen, die die Vergewaltigungs-Gerüchte wiedergibt, ohne sich wie ein Medien-Profi davon zu distanzieren, taucht später noch einmal auf. Da redet sie ein bisschen mehr über Flüchtlinge und fängt plötzlich an, mit ein paar „Syriern" arabische Worte zu wechseln, die sie in „sonem Kurs" für Arabisch gelernt hat.

Was das bedeutet? Vielleicht einfach, dass Menschen komplexer sind, als die normale Erzählung vom „dummen Rassisten" es zulässt. Dass ein Mädchen im Teenager-Alter durchaus in der Lage sein kann, in der einen Situation ein dummes Gerücht über Flüchtlinge zu verbreiten—und wenig später mit ein paar Flüchtlingen in ihrer Sprache rumzuwitzeln.

Die NDR-Dokumentation hat versucht, genau diese Komplexität einzufangen und ein ehrliches Portrait von diesen Menschen zu zeichnen. Aber weil irgendjemand es lustiger fand, den ganzen Film auf die „Ein Flüchtling hat ein Kind gegessen"-Aussage zu reduzieren, wird wohl nur das bleiben.

Das ist nicht nur schade für Journalisten, weil in dem Ort bestimmt niemand mehr freiwillig vor eine Fernsehkamera treten wird. Das ist auch schade für die Gesellschaft, die es vorgezogen hat, über die „dummen Ossis" zu lachen und sie ansonsten mit den Flüchtlingen alleine zurechtkommen zu lassen. Und inwiefern Flüchtlingen geholfen wurde, weil ein paar tausend Fremde einmal so richtig herzlich über ein Teenager-Mädchen aus Mecklenburg gelacht haben, ist natürlich auch nicht ganz klar. Aber vielleicht ging es auch nie wirklich um die.