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"Mein Freund schlug mir mit der Faust ins Gesicht"

Geschichten wie die von Melissa wiederholen sich hunderttausendfach in Deutschland. Daran sollten wir nicht nur heute, am Tag gegen Gewalt gegen Frauen, denken.
Foto: Imago | Felix Jason

Foto: imago | Felix Jason

"Ich bringe erst dich um und dann mich", sagte Melissas Freund, als seine Finger sich um ihren Hals schlossen. Noch vor einer halben Stunde war er der wichtigste Mensch für sie gewesen. Jemand, dem sie ihr Leben blind anvertraut hätte. Jetzt wollte er ihr genau dieses nehmen.

Melissa war mit ihrem Freund vier Jahre lang zusammen, seit sie 14 war. Er war ihre erste Liebe, ihr erstes Mal, der erste Mensch, bei dem sie das Gefühl hatte, sie könne sich vollkommen fallen lassen. Sie stritten sich zwar immer mehr und immer lauter, aber so ist nunmal die Liebe, hat sie gedacht, markerschütternd und leidenschaftlich. So etwas gibt man nicht einfach auf, nur wenn es schwierig ist.

Aber nach einem betrunkenen Streit schlug er zu. "Mein Freund prügelte minutenlang auf mich ein, er schlug mir mit der Faust ins Gesicht", erzählt Melissa ihre Geschichte auf VICE. Irgendwann zerrte er ihren Kopf an den Haaren hoch und ließ ihn abrupt los. Ihr Schädel knallte auf den Fliesenboden.

Melissa fing an, auf ihren Freund einzureden. Sie sagte, dass er unbedingt einen Krankenwagen rufen müsse, und versprach, den Sanitätern zu sagen, sie sei die Treppe runtergefallen. Das hat sie gerettet. Der Freund kam zu Besinnung, wählte die Notrufnummer. Als die Sanitäter kamen, riefen sie die Polizei. Das nächste Mal sah sie ihren Freund ein Dreivierteljahr später im Gerichtssaal wieder. Melissa ist damals relativ glimpflich davongekommen: mit ein paar Schädelprellungen, einer Platzwunde am Hinterkopf, blauen Flecken und Würgemalen. Eine Statistik des Bundesverbandes der Gewaltschutzzentren und Interventionsstellen Österreichs zeigt, dass im vergangenen Jahr 24 Männer in Österreich ihre Partnerinnen, Ex-Partnerinnen, Töchter oder Mütter umgebracht haben. 13 Frauen wurden in einer aufrechten Beziehung von ihrem Partner getötet. In Deutschland wurden im selben Jahr 331 Frauen von ihren Partnern umgebracht. Verschiedene Gewaltschutzzentren und die Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie betreuten im Jahr 2015 mehr als 17.000 Frauen. Die Dunkelziffer der Betroffenen sei aber noch viel höher. Denkt man an Gefahren für Frauen, stellt man sich oft Fremde in einsamen Parks vor. Unbekannte Vergewaltiger, gegen die man sich mit Pfefferspray in der Handtasche rüstet. Dabei passieren die Taten oft nicht in dunklen Ecken, sondern wie in Melissas Fall in der gemeinsamen Wohnung. Und meistens gehen sie nicht von Unbekannten aus, sondern von geliebten Menschen. "56 Prozent der Anrufe, die bei uns gehen, beziehen sich auf Gewalt in Partnerschaften", sagt Petra Söchting, Leiterin des deutschen Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen. "Die Täter sind oft Freunde oder Ehemänner. Dass es ein vollkommen Fremder ist, ist die absolute Ausnahme." Über Gewalt zu sprechen, die vom Partner ausgeht, fiele den Frauen aber besonders schwer, sagt Söchting. "Die Hürde ist sehr, sehr hoch. Vielen Frauen ist es peinlich. Sie fragen sich: Habe ich eine Mitschuld? Sie haben Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, oder dass die Situation noch schlimmer wird." Über die hohen Zahlen im neuen BKA-Bericht ist Söchting nicht überrascht, sondern verweist auf eine Studie der EU-Grundrechte-Agentur FRA. Laut dieser hat jede dritte Frau in der EU seit ihrer Jugend schon körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Hochgerechnet wären das etwa 62 Millionen Frauen. "Wir müssen uns eingestehen: Gewalt gegen Frauen kommt unglaublich häufig in europäischen und vermeintlich aufgeklärten, gleichberechtigten Ländern vor", sagt Söchting. Dass die Zahl der polizeilich gemeldeten Fälle von Gewalt in der Partnerschaft gestiegen ist, sieht sie nicht nur negativ. "Eine Erklärung könnte sein, dass es tatsächlich mehr Gewalttaten gibt. Die andere Möglichkeit ist aber, dass durch Aufklärung immer mehr Frauen den Mut finden sich bei der Polizei zu melden und Hilfsangebote anzunehmen", sagt sie. Melissas Freund wurde zu elf Monaten auf Bewährung verurteilt und musste ihr Schmerzensgeld zahlen. Ihre Geschichte erzählte sie uns, weil sie wollte, dass dieses Thema kein Tabu mehr ist. "Es ist mir wichtig, nicht die Klappe zu halten. Viele Frauen schweigen danach", schrieb sie. Das BKA geht davon aus, dass die Dunkelziffer der nicht angezeigten Fälle sehr groß ist. Melissa hat es geholfen, über ihren Fall zu sprechen. Sie schämt sich nicht mehr dafür, was ihr passiert ist. Aber Albträume hat sie noch heute.

Die Frauenhelpline gegen Gewalt ist rund um die Uhr, anonym und kostenlos unter der Nummer 0800 222 555 erreichbar. Betroffene werden auch online beraten. Das Angebot gibt es in 10 Sprachen und auch für Gehörlose. Links und Adressen für Hilfseinrichtungen in Österreich findet ihr hier.