Mein Wochenende mit einem Deep-Web-Dealer: Von den Bergen in den Briefkasten
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Mein Wochenende mit einem Deep-Web-Dealer: Von den Bergen in den Briefkasten

Ich habe aus nächster Nähe beobachtet, wie ein Drogenimperium im 21. Jahrhundert funktioniert.

Tief in den marokkanischen Bergen steht ein großer Ziegelbau am Grund eines Tals. Es ist Nacht und schwaches Licht leuchtet aus den scheibenlosen Fensterlöchern. Ich sitze in einem Auto, das auf einer unbefestigten Straße auf das Gebäude zufährt. Neben mir sitzt ein Mann, der sich "Patron" nennt – Spanisch für "Chef". Wir sind schon seit fünf Stunden unterwegs, entlang Bergstraßen, die direkt an Abgründen verlaufen und immer wieder von Polizei-Checkpoints unterbrochen werden. Jedes Mal, wenn wir anhielten, öffneten Beamte die Tür und schüttelten Patron breit grinsend die Hand.

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"Ich schmiere alle von hier bis an die Küste", lachte Patron.

Von der Reise ins Tal ist mir schlecht. Die geteerten Straßen haben vor guten acht Kilometern aufgehört und der Fahrer hatte mehrmals ohne Vorwarnung 180-Grad-Drehungen gemacht, "um mögliche Peilsignale zu verwirren". Doch nun halten wir endlich vor dem Backsteingebäude und steigen aus. Der Fahrer hupt und ein Mann in einem Overall kommt heraus und umarmt Patron. Sie unterhalten sich ein paar Minuten lang auf Französisch, bevor sie mich durch die metallene Eingangstür führen.

Im Inneren des bescheidenen Gebäudes liegen Cannabis-Säcke so groß wie Heuballen. Sie sind bis unter die Decke gestapelt. "Ich glaube, das sind etwa zwei Tonnen Gras", sagt Patron.

Ein großer Teil des Marihuanas gehört ihm. Es ist seine Ware. Doch sie wird nicht auf der Straße verkauft, sondern in kleinen Paketen per Post verschickt. Patron ist, wie er selbst betont, "kein Gangster". Er ist ein Großdealer im Deep Web. Er verkauft Opium und qualitativ hochwertiges Hasch im Internet und behauptet, er verdiene "etwa 100.000 Pfund im Monat" (ca. 120.000 Euro) – in Bitcoins. Seine Drogen finden ihren Weg in die ganze Welt.

Der Drogenmarkt des Deep Web begann mit der berüchtigten "Silk Road", angeführt von "Dread Pirate Roberts" (DPR). Als das FBI 2013 gegen Silk Road durchgriff, identifizierte es DPR als den 32-jährigen Ross Ulbricht. Der ehemalige Deep-Web-Kingpin erhielt eine brutale Gefängnisstrafe: zweimal lebenslange Haft ohne Chance auf Bewährung, dazu noch 20 und 15 Jahre für zwei andere Anklagen. Das Ziel des FBI war es, dem zunehmenden, dreisten Online-Drogenhandel ein Ende zu setzen. Doch damit erschufen sie eigentlich nur eine Hydra. Zu Zeiten von Silk Road gab es nur einen richtigen Konkurrenten: Black Market Reloaded. Heute gibt es über 15 Deep-Web-Drogenmärkte, von denen viele sehr viel robustere Sicherheitsvorkehrungen haben als Silk Road. Man könnte sagen, es hat in der Deep-Web-Drogenszene noch nie so viel Auswahl gegeben.

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Patron verkauft seine Ware auf den neuen Seiten wie Hansa Market und AlphaBay. Er sieht das Deep Web als einen Ort, an dem er "auf ethische Weise Drogen verkaufen kann". Wie die meisten in seiner Community sieht auch er sich nicht als Verbrecher. "Pass auf, es gibt Kriminelle und dann gibt es Kriminelle", sagt er mir, als wir das Ziegelgebäude zu einem Hinterzimmer durchqueren. "Wenn du betrunken fährst, bist du ein Krimineller; wenn du zu schnell fährst, bist du ein Krimineller; wenn du Krebs hast und beschließt, selbst an Cannabis zu kommen, um die Schmerzen zu lindern, bist du ein Krimineller. Ich finde, anstatt die Regierung entscheiden zu lassen, was gut und was schlecht für dich ist, solltest du dir deine eigene Meinung bilden."

Patron hält inne, um eine Zigarette anzuzünden – das macht er alle paar Minuten. Wenn er nicht ketteraucht, zieht er an einem Vaporizer. "Mit dem Deep Web helfen wir Leuten, sicher an das zu kommen, was sie möchten. [Sie sind nicht] gezwungen, zu einem Heroindealer an einem zwielichtigen Ort auf der Straße zu gehen. Sie können auf ihrem Sofa sitzenbleiben und ihnen werden die Drogen geliefert."

Zwar kommt Patron nicht auf den ersten Blick wie die Sorte Typ rüber, die "Chef" genannt werden will, doch er hat etwas unterschwellig Bedrohliches. Es war sehr informativ zu sehen, wie er mit seinen Geschäftspartnern in den Bergen umsprang. Einen Augenblick war er die charismatischste Person im Zimmer, und im nächsten war er unnahbar und ernst – sogar kalt. Er konnte ganz schnell umschalten. Je mehr wir uns unterhielten, desto mehr wirkte er auf mich wie ein Nerd. Ein ziemlich hartgesottener Nerd.

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Er ist fasziniert von OPSEC, Computern, Technologie und Hardware. Als wir vor unserem Besuch in dem Ziegelbau in Marokko am Hafen entlanglaufen, zeigt Patron auf die Schnellboote der Küstenwache im Wasser. Er kennt ihre Namen und genauen Modellnummern, er weiß, welche Motoren sie einsetzen, die Höchstgeschwindigkeit und was für Sicherheitspersonal die Besatzung bildet. Patron ist kein Drogendealer, der in der Welt des Deep Web gelandet ist, sondern ein Deep-Web-Typ, der in der Welt des Drogenhandels gelandet ist. Vermutlich ist es auch das, was ihn aktuell noch den Behörden einen Schritt voraus bleiben lässt.

Patron fasst in einen Sack im Badezimmer und leert mehrere Kilogramm gepresstes Hasch auf einem Tisch aus. Dazu kommen noch drei Beutel "Shake", zu feinen Staub vermahlenes Cannabis. "Da haben wir's", sagt er. "Das ist meine nächste Lieferung. Das kommt demnächst mit dem Team rüber." Sein "Team", das ist das Cartel Norte Africa (CNA) oder Nordafrikanische Kartell. Das CNA besteht aus einer kleinen Gruppe von Spaniern und Berbern (indigenen Nordafrikanern), angeführt von Patron. Sie arbeiten sowohl in Marokko als auch Spanien. Mit Hilfe des CNA kann Patron seine Ware von Nordafrika nach Europa schmuggeln, von wo aus sie in der gesamten Welt verteilt wird.

"Im Moment mache ich Lieferungen von einer Vierteltonne, also 250 Kilogramm pro Lauf. Es kommt darauf an, wie viel der Kunde möchte, aber im Moment machen wir etwa alle zwei Monate eine Tour." Patron erklärt, er verdiene zwar vernünftig mit diesen Aktivitäten, doch er sei weit davon entfernt, reich zu sein. "Ich lebe gut, aber ich muss alle im Team bezahlen. Ich muss auch mein persönliches Sicherheitsteam bezahlen, die Bauern, die Schmuggler – alle. Ich will, dass alle ihren fairen Anteil bekommen. Und deswegen arbeite ich auch mit diesen Typen hier: um das beste Produkte zu einem fairen Preis zu kriegen. Diese Farmen gibt es seit Generationen."

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Patron öffnet einen Beutel Shake. Der Geruch erfüllt den ganzen Raum. "Wenn die Pflanzen gewachsen sind, werden sie geschnitten, getrocknet, das Shake wird vorbereitet und dann wird daraus das Hasch gemacht. Wir transportieren dann alles in verschiedenen Fahrzeugen."


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Wenn die Haschblöcke erst einmal in dem Gebäude im Tal gepresst worden sind, hilft Patron dabei, alles auf Truck-Ladeflächen zu packen. Dann werden die Blöcke an die marokkanische Küste transportiert, wo sie auf besonders feste aufblasbare Boote kommen. "Die Boote sind mit fünf 300-PS-Motoren ausgestattet", erklärt er mir. "Sie sind sehr schnell. Wenn man drin sitzt, verschwimmt die ganze Umgebung. Es ist beängstigend. Damit fahren wir dann nach Spanien und entladen alles an der Küste."

Von dort werden die Drogen in diverse Verstecke gebracht. Ein solches ist unser nächstes Ziel. Nach einer eiskalten Nacht in einem halbfertigen Gebäude ohne Heizung – "Sonst gibt es nichts", wie Patron sagt – verlassen wir Marokko.

Jedes Mal, wenn wir an einem neuen Ort ankommen, tauscht Patron methodisch die SIM-Karten in seinen beiden Handys, bevor er sie in spezielle Beutel packt, die jegliches Signal abblocken. Er legt auch einen seiner beiden Pässe (zumindest sah ich ihn nur mit zwei) in das jeweilige Auto, das uns abholt. In Spanien wechseln wir innerhalb einer dreistündigen Fahrt von der Küste in eins der Verstecke zweimal das Auto. Das zweite Mal ist am Rand einer Straße, die weder beleuchtet noch mit Leitplanken ausgestattet ist. Patron ist paranoid, und das mit Recht. Sollte die Polizei ihn schnappen, muss er mit bis zu 15 Jahren Gefängnis rechnen.

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"OK", sagt Patron leise, Rauch ausstoßend und in seinen Spiegel blickend. "Wir kommen jetzt gleich im Versteck an." Wir rasen einen dunklen Pfad im Nirgendwo entlang und halten schließlich in einem kleinen Innenhof zwischen ein paar Häusern. Zwei junge Männer kommen auf uns zu und umarmen Patron. Die drei unterhalten sich auf Spanisch. Nach ein paar Minuten gehen Patron und ich ins Haus; die zwei Männer verschwinden irgendwo im Hof.

Drinnen sieht es aus wie in einem Cyberpunk-Hauptquartier. Es gibt mehrere Laptops, Kabelknäuel, einen Flatscreen-Fernseher, und überall liegen USB-Kartenleser. Es gibt ein kleines Sofa und einen Tisch, außerdem auch ein bisschen übriggebliebenes Essen. An der Wand hängt ein Jagdgewehr mit Zielfernrohr. Ich frage Patron, ob er gern jagt.

"Ja, ich jage gern", antwortet er. Kurze Pause. "Aber eins sag ich dir: Wenn man jemanden mit dem Gewehr erwischen würde, dann täte es aber unheimlich weh."

Patron verschwindet im Nebenzimmer und kehrt mit einem Laptop und einem weiteren Sack zurück. Er leert den Inhalt auf dem Tisch aus: ein Kilogramm "Amnez"-Hasch und ein großes Stück Opium, das geformt ist wie ein Ice-Hockey-Puck.

Patron stöpselt einen USB-Stick in einen Laptop. Er fährt hoch. "Ich benutze nämlich Tails", sagt er. Er zeigt auf den USB-Stick. Tails ist ein Betriebssystem, das Nutzer einsetzen, um ihre Privatsphäre online zu schützen. Es blockiert alle nicht-anonymen Verbindungen und schickt all seine eigenen Anfragen durch Tor, einen Internetbrowser, der Nutzer anonym bleiben lassen soll. Wer ohne Tails online Drogen verkauft, wird mit viel höherer Wahrscheinlichkeit erwischt.

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Nachdem er sich bei den Deep-Web-Märkten eingeloggt hat, checkt Patron seine Bestellungen. Es sind ziemlich viele; das Geschäft brummt. "Schauen wir mal", sagt er. "Diese Frau möchte Hasch. Ich zeige dir, wie wir es machen." Er klickt ein paar Mal herum und zündet sich noch eine Zigarette an. Patron zuzusehen, wie er aus seinem Versteck heraus Bestellungen bearbeitet, ist ein bisschen, als würde ich einem Mechaniker zusehen, der ein Auto repariert. Er ist vollkommen in seinem Element und weiß instinktiv, was zu tun ist.

Plötzlich gibt es ein mechanisches Geräusch. In der Ecke erwacht ein Drucker zum Leben. Eine gefälschte Rechnung für eine Fitnessstudio-Mitgliedschaft kommt heraus. Wortlos zieht Patron ein paar OP-Handschuhe an, zieht ein Messer aus der Tasche und geht zu einem Schreibtisch in einer Ecke. Er nimmt die Rechnung und einen Block Hasch mit. Zu seinen Füßen steht ein Heizstrahler. Er legt den Haschblock auf ein Schneidebrett und zündet sich noch eine Zigarette an; die letzte qualmt noch in einem Aschenbecher vor sich hin. "Schau", sagt er und zieht an dem Glimmstengel. "OK, ich mache gerade etwas, das aus der Sicht der Regierung illegal ist, aber aus moralischer Sicht ist es meiner Meinung nach völlig in Ordnung."

Patron wird redselig, während er darauf wartet, dass sein Messer heiß wird. Er erzählt mir, dass er den Traum hegt, irgendwann eine Art Gesundheitsklinik zu eröffnen. Einen Ort, an dem experimentelle Behandlungen mit CBD (einem nicht-psychoaktiven Bestandteil von Cannabis) legal durchgeführt werden können.

Dann ist das Messer heiß. Patron drückt seine halbgerauchte Zigarette aus und macht sich an die Arbeit. Er schneidet etwa ein Gramm Hasch von dem Block ab, verpackt das Stück in Frischhaltefolie, klebt es an die Rückseite der Rechnung, faltet sie und steckt sie in einen Umschlag. Die Drogen sind nicht zu sehen. "Da hast du's", lacht er. "Das bekommst du in der Post und machst es auf, und es ist einfach nur eine Rechnung vom Fitnessstudio."

Patron ist so sehr ein Produkt des Internets, wie er ein Produkt des Drogenkriegs ist. Er sitzt in einem Versteck, umgeben von Laptops, Zigaretten und Drogen und scheint sich hier wohler zu fühlen als in den Bergen, wo er die gefährlichere Arbeit machen muss. Für ihn sind das Geld und der Lebensstil es nicht wert, wenn er dazu nicht die Community, die Kameradschaft des Deep Web hat. Wie er selbst sagt: "Ich mag das, woran DPR glaubte. Er hat eine neue Kultur erschaffen."

Bevor ich mich von Patron verabschiede, frage ich ihn, was er so sehr an den Deep-Web-Drogenmärkten liebt, auf denen er arbeitet.

"Insgesamt versuchen im Deep Web alle einfach nur, gut miteinander auszukommen", sagt er. "Sie lösen ihre Konflikte durch Markt-Admins und alles ist sehr zivilisiert und freundlich. Dann ist da das Geschäft mit den großen Drogenlieferungen – das Zeug, das außerhalb des Internets passiert. Denk mal drüber nach: Das gibt es seit der echten Silk Road [Seidenstraße, ein alter Handelsweg zwischen dem Mittelmeer und Asien]. Und es ist schon ironisch, weil all das mit Gewalt losging – die Opiumkriege und all das – und jetzt, ohne das Deep Web und [die Online-Drogenmärkte], endet alles auch mit Gewalt."

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