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Warum es in der Schweiz geil ist, über 30 zu sein

Als Ausgewachsener ist es möglich, dem aufgebrachten Hotelpersonal glaubhaft zu machen, dass es absolut ausgeschlossen ist, dass jetzt gerade jemand aus diesem Hotelzimmer gepisst hat.
Foto von Daniela

Schon lange vor der Einschulung werden wir mit Idealen und Zielen der Gesellschaft konfrontiert. Wir erfahren recht bald, was man wann von uns erwartet. So ist es beispielsweise OK im Kindergarten noch keine Integralrechnung zu können, hingegen wird erwartet, dass man selber aufs Töpfchen geht. Dieser Mechanismus bleibt das ganze Leben lang so: Alter bringt Erwartungen, Pflichten und Möglichkeiten mit sich, bis du über 64 bist und dich die Gesellschaft nicht mehr haben will, dann geht's wieder in die andere Richtung.

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Gerade die jeweils neuen Pflichten und Erwartungen können hart an der Tagesmoral nagen. Insbesondere, wenn du 30 wirst und zum ersten Mal den kalten Atem der Zeit im Nacken spürst. Daher ist es wichtig, sich ab und an ins Gedächtnis zu rufen, weshalb das Alter, das man hat, halt einfach das geilste ist.

Beziehungen und Freundschaften

Du hast idealerweise eine Reihe an sexuellen und emotionalen Experimenten durchgeführt oder erlebt. Du hattest schon mal eine besoffene Orgie in einer fremden Stadt mit irgendwelchen Groupies, Sex an ungewöhnlichen Orten und bist etliche Male mit ungläubigem Blick auf die andere Bettseite aufgewacht, bevor du dir „einen dringenden Termin" aus den Fingern gesogen und dich recht hektisch angezogen hast.

Du bekamst dein Herz gebrochen und hast schon mal jemanden verlassen. Du hast in Beziehungen gelebt, die schlussendlich scheiterten. Danach hast du dich unter Umständen Monate lang in deinem Elend gesuhlt und darüber nachgedacht, weshalb diese grosse Liebe über den Jordan ging. Am Ende dieser Phasen bist du jeweils aufgestanden und hast zu dir gesagt: „Es ist gut, dass ich nicht mehr in dieser Beziehung bin, die nächste muss ganz anders werden."

Kurzum: Die Erfahrung hat dir eine Idee verschafft, was erstrebenswert ist und was nicht. So lässt du dich weniger blenden, lernst auf Charakter und Gefühle zu achten und verliebst dich nachhaltiger. Zudem macht es viel mehr Spass, wenn du eine Beziehung mit jemandem führst, der oder die deinen Humor und nicht nur deine Vorliebe für Körperlichkeit teilt. Letzteres sollte natürlich auch unbedingt dazugehören. Zudem ist dein Beischlaf-Beute-Range niemals grösser denn als 30-Jährige(r): Von 20 bis 50 ist alles gut machbar. Das bedeutet, dass du noch Gelegenheit hast, dein Gelerntes anhand einer nach wie vor stolzen Auswahl umzusetzen. Dein Weisheiten/Möglichkeiten-Verhältnis befindet sich in sexueller Hinsicht auf seinem Höhepunkt.

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Du hast zwar weniger Freunde, aber dafür gute. Es ist nicht einfach, alte Freundschaften zu erhalten, wenn sie einmal der Alltäglichkeit entzogen sind. Du hängst nicht sowieso im BQM oder sonst wo auf dem Campus rum, du triffst deine Freunde nicht mehr kiffend am See. Nein, ihr müsst euch treffen wollen und dieses Treffen trotz eines recht vollen Terminkalenders auch noch fest vereinbaren. Für uninspirierte Zufallsbekanntschaften wird dir deine Zeit schlichtweg zu wertvoll—während du deine echten Freunde umso mehr zu schätzen lernst, weil du sie vermissen wirst.

Foto von: Suprapto Schmid

Andere halten dich für erwachsen

Als ich 18 wurde, habe ich eigentlich damit gerechnet, dass mich jetzt alle sofort ernst nehmen und als Erwachsenen behandeln. Dem war nicht so und das ist retrospektiv auch ganz in Ordnung. Beispielsweise damals, als ich einem älteren Ehepaar erklären musste, weshalb wir ihre Mauer mit Farben entstellt hatten oder einfach jedes Mal, wenn ein Polizist was von mir wollte. „Jugendbonus" heisst das Zauberwort, ohne das es der Gesellschaft nicht möglich wäre, auch nur eine Generation an Studenten mit intaktem Leumund in die Welt zu entlassen. Falls du deinen Jugendbonus nie gebraucht hast, hast du nicht gelebt.

Aber sei besser schnell, denn dein Jugendbonus stirbt, sobald der erste Teenager dich siezt. Ab dem Punkt nehmen dich die Leute in deiner Umgebung wirklich für voll. Das heisst zwar, dass du nicht mehr mit einem Klaps auf den Hinterkopf davonkommst, aber man überlegt sich zweimal, ob man dich anschuldigen will. Du musst dich beispielsweise ausnehmend dämlich anstellen, um einer zufälligen Polizeikontrolle ins Netz zu gehen; zumindest ausserhalb eines PKWs, versteht sich.

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Als Ausgewachsener ist es möglich, dem aufgebrachten Hotelpersonal glaubhaft zu machen, dass es absolut ausgeschlossen ist, dass jetzt gerade jemand aus diesem Hotelzimmer gepisst hat (weil erwachsene Männer so etwas niemals tun würden). Und das, obwohl der Concierge steif und fest behauptet, den Vorfall mit eigenen Augen gesehen zu haben. Versuch dasselbe, genauso betrunken, als 20-Jähriger und du erlebst eine ziemlich kalte Nacht in den Strassen von Chur. Wenn du in einer Bar jemandem erzählst, du seist Teil eines Regierungsexperiments, wird dir das deutlich eher abgenommen. Das gilt für jeden anderen Blödsinn, der dir über die lallenden Lippen kommt, genauso. Und Frauen nehmen dich als einen Mann wahr, nicht als einen Jungen. Das hilft.

Du hast wahrscheinlich einen echten Job

Ich hatte viele beschissene Jobs. Briefträger, Metzgergehilfe, Kellner, fucking Zeitschriftenabonnementsvertreter. Fast alle haben es mir abverlangt, für Geld meine moralische und körperliche Integrität wenigstens ansatzweise aufzugeben. Ich habe mich zwar nie im herkömmlichen Sinne prostituiert, aber durchaus ein oranges Ganzkörperkostüm getragen und in einem Einkaufscenter Flyer einer Mobilfunkfirma verteilt. Das ist nach der Ausbildung und den ersten paar Sklaven- und Verlegenheitsjobs anders. Um die 30 hattest du nämlich schon mehr als einmal Gelegenheit, dir Gedanken über dein Leben zu machen und du hast daraus vermutlich Konsequenzen gezogen und nun einen Job, der dir entspricht. Wenn nicht, solltest du dir dringend einen besorgen.

Du wohnst alleine

Du denkst heute vielleicht noch, dass es super ist, in einer WG zu wohnen und deine Mitbewohner sind deine supertolle Wahlfamilie und alles. Das kenne ich, weil es bei mir genauso war. Ich habe eine gute Dekade lang mit denselben zwei Typen zusammengelebt. Wir hatten eine sehr geile Zeit. Wir feierten Partys, nahmen Musik, Drogen und Flüchtlinge auf, lebten in tollster Toleranz, pflanzten Hanf, machten Kunst und ja unser Haus wurde auch schon von der Polizei umstellt. Wegen uns. Es war eine grossartige Zeit.

Ich liebe meine Mitbewohner auch heute noch, vielleicht auch weil wir nicht mehr zusammenleben. Irgendwann zieht nämlich die Freundin von dem einen ein und der andere zieht zu seiner. Dann findest du in deinem Wohnzimmer statt ein paar Alkoholleichen einen neuen Couchtisch, vom Flohmarkt, mit einer Blumenvase drauf. Blumen!! Spätestens dann solltest du dich langsam mit der Idee anfreunden, dass der Funk zwar immer noch stärker ist, sich aber auch ab und an verändert.

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Darüber denke ich manchmal nach, wenn ich mich nackt aus dem Bett erhebe, mir in der Küche einen Kaffee mache, im Wohnzimmer eine Zigarette anzünde und aus tiefstem Inneren einen fahren lasse, während ich sinnierend, mit frei baumelnden Hoden aus dem Fenster schaue.

Du wirst nicht mehr an irgendwelchen Türen abgewiesen

Da es dir zu dumm ist, Schlägereien anzuzetteln und du dank deines eigenen Einkommens auch keine PET-Flasche mit Tankstellen-Screwdriver drin vor dem Club verstecken musst, um einigermassen wavy zu werden, lieben dich die Clubs. Du bist ihre Haupteinnahmequelle—nicht zuletzt, weil du auch ausreichend alkoholresistent bist. Du bist dazu bereit, beachtliche Anteile deines Lohnes enthusiastisch hinter die nächste Bar zu werfen. Zudem kennen dich die Türsteher langsam vom Sehen. Man mag das kaum glauben und das ist auch nicht durchwegs positiv, aber ja, eines Tages kennen sie dich, weil du über ein Jahrzehnt hinweg an ihnen vorbeigelaufen oder von ihnen hinausgetragen worden bist.

Du kennst deinen Körper und seine Grenzen

Die ersten Anzeichen von fortschreitendem Alter machen sich auf deinem Körper breit. Effektiv merkst du zum ersten Mal, dass du nicht wirklich unsterblich bist.

Deine durchzechten Nächte legen sich wie ein auf dem Grabe deiner jugendlichen Unverwüstlichkeit niedergelegten Kranz um deine Augen. Fit zu bleiben kostet dich neuerdings deutlich mehr. Mal zwei Wochen kein Training und du wirst zur aufgedunsenen Qualle. Und es ist so: Ab 30 ist es deutlich härter, einen Kater zu haben. Also, ein Kater nimmt dich plötzlich ernsthaft mit. Nach 24 Stunden Raven liegst du gut und gerne die doppelte Zeit in den Seilen. Das ist auf den ersten Blick ein Problem, aber eigentlich ein verkleideter Segen. Du lernst—du musst lernen—, dass es unterschiedliche Level von „Charlie Sheen" gibt, die dich unterschiedlich glücklich machen können (Spoiler: das höchste Level ist nicht immer das beste, aber definitiv immer das schwierigste).

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Quelle: Youtube

Aber du musst dir das nicht vorstellen, als würdest du nur Dinge aufgeben. Du hast stattdessen nämlich erhellende Gespräche bei einem leichten Schwips und nimmst psychedelische Drogen bei einem Spaziergang in der Provence.

Foto von Flickr; François Philipp; CC BY 2.0

Deine Freunde laden dich nicht mehr in irgendeine öffentliche Fabrikhalle, sondern in ihre Wohnung oder eine lustige Off-Location ein. Ja, Über-30-Jährige haben ganz allgemein deutlich bessere Chancen, von einem Liegenschaftsverwalter einen Schlüssel in die Hand gedrückt zu bekommen. Du kennst die Leute, mit denen du deine Abende verbringst, weil du dich nicht mehr so derbe abschiessen willst, dass es dir gleichgültig wird, wer sonst noch im Gebäude ist. Aber ja, sobald du Einladungen zum Sonntags-Brunch annimmst, bist du 35, egal was in deiner ID steht.

Till auf Twitter: @trippmann

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Flickr; Daniela; CC BY-ND 2.0