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Weihnachten—Hölle auf Erden

Weihnachtszeit ist Völlereizeit. Deshalb ist Weihnachten für Menschen mit der Essstörung Binge Eating Disorder alles andere als die schönste Zeit des Jahres.

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Weihnachtszeit ist Völlereizeit. Seit die Christkindlmärkte offen sind, ist unsere Disziplin auf Weihnachtsurlaub. Heiße Schokolade, kandierte Äpfel und mit Schokolade überzogene Früchte sind nicht besonders hilfreich dabei, zu versuchen, gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu entsprechen. Ich bewege mich zwar noch hie und da, um Essen aus dem Kühlschrank zu holen oder Lebensmittel einkaufen zu gehen—im Fitnessstudio würde mich meine neu erworbene Wampe nur beim Radeln stören—, aber das spielt aber auch keine große Rolle mehr, wenn man bedenkt, wie viele Kalorien ich jetzt im Durchschnitt zu mir nehme.

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Aber nicht jedem ist es möglich, die Weihnachtszeit und das damit einhergehende Essens-Trara und Gewichts-Jojo mit süffisanter Selbstkritik zu nehmen. Für Menschen mit der Essstörung Binge Eating Disorder nämlich ist Weihnachten alles andere als die schönste Zeit des Jahres. Binge Eating Disorder oder Esssucht zeichnet sich dadurch aus, dass man über einen längeren Zeitraum regelmäßig Unmengen an Essen in kürzester Zeit in sich hineinstopft, wenn man traurig, wütend oder einsam ist. Ein bis fünf Prozent aller Österreicher sind von dieser Essstörung betroffen.

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Weil Esssüchtige während der Weihnachtszeit erstens ständig von Essen umgeben sind—und dabei vor allem von solchem, das sie sich im Normalfall verbieten—, und zweitens auch noch öfter als sonst zum sozial semi-verfplichtenden Essen eingeladen werden, sind die Feiertage rund um Baby Jesus regelrecht ein Christstollen voller Rasierklingen. Hinzu kommt, dass Weihnachten als Familienzeit bei den meisten Esssüchtigen unangenehme Erinnerungen hochbringt, die Essattacken auslösen können, wenn die Betroffenen nicht wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen.

Wie schwierig es ist, mit einer solchen Essstörung zu leben, weiß Tina, die seit Jahren an Esssucht leidet und seit einiger Zeit aufgrund ihrer Essstörung in Therapie ist, aus eigener Speiseröhre verstopfender Erfahrung. Wenn sie Essanfälle hat, verliert sie die Kontrolle und schlingt wie fremdgesteuert Futter in sich hinein. Sie denkt dabei an gar nichts, „Hauptsache schnell und viel“, sagt sie. Sie isst und isst, bis ihr alles so weh tut, dass sie sich fast nicht mehr bewegen kann. Danach ekelt sie sich vor sich selbst, fühlt sich schuldig und verfällt in eine Depression.

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Irgendwann wird das Gefühl unerträglich und sie fängt wieder an zu essen. Sie will die Leere nicht länger spüren, sie will sie mit Essen füllen—und zwar schnell. Ein Teufelskreis aus Essattacken und anschließenden Schuld-, Scham- und Ekelgefühlen sind für Tina zur Routine geworden. Was bei einer Esssucht erschwerend hinzukommt, ist dass das Objekt dieser Sucht Essen ist, also etwas, das lebensnotwendig ist und das man nicht einfach aus seinem Leben streichen kann. Das bedeutet also, dass man weiterhin ständig mit Essen konfrontiert ist, auch wenn man sich dazu entschließt seine Esssucht zu „bekämpfen”.

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Binge Eating dominiert Tinas Leben. Sie fühlt sich wie eine Gefangene in ihrem eigenen Körper. Die Essstörung ist eine große Belastung und beeinflusst ihr gesamtes Leben—jede Beziehung, jede Handlung, jede Aktivität. Als alles zu viel wurde, hat sich an SoWhat gewendet, einem Beratungs- und Informationszentrum für Essstörungen, und hat dort eine Therapie angefangen. Obwohl die Therepie sehr ermüdend und energieraubend ist, hat Tina durch sie herausgefunden, in welchen Situationen sie Essattacken hat und was die Gründe dafür sind.

Sie hat verstanden, dass sie oft keinen besseren Möglichkeit hat zu handeln, als zu essen. Außerdem hat sie eingesehen, dass sie so große Angst davor hat, von anderen Menschen verletzt zu werden, dass die all ihre Konzentration lieber aufs Essen legt. Die Therapie hat ihr gezeigt, dass sie ihre Essstörung nur dann ändern kann, wenn sie sie akzeptiert und sie als einen Teil von sich ansieht „Lasse ich sie draußen, reguliert sie mich“, sagt Tina.

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Da Binge Eating Disorder eine Essstörung ist, die medial unter den Teppich gekehrt und in der Öffentichkeit sonst auch nicht wirklich thematisiert wird und für die es bei der Krankenkassa keine eigene Kategorie gibt, exisitiert nur wenig Bewusstsein für diese Form der Essstörung und die Symptome werden häufig missverstanden oder gar nicht erst als Symptome erkannt. Betroffene werden diskrimiert, gehänselt und beschimpft—oft sogar von der eigenen Familie—, weil die meisten Menschen Übergewicht automatisch mit Faulheit und Disziplinlosigkeit assoziieren und sich nicht dessen bewusst sind, dass Übergewicht viel tiefer liegende Gründe haben und ein Ausdruck unterdrückter Gefühle sein kann. Deshalb wollten wir ein wenig Klarheit schaffen und haben uns diese Essstörung näher angesehen. Zu diesem Zweck habe ich mich mit Mag. Jahoda von Intakt unterhalten, einem Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen.

Mag. Jahoda (mit freundlicher Genehmigung von Intakt)

VICE: Könnten Sie uns ein bisschen mehr über diese Essstörung erzählen?
Mag. Jahoda: Binge Eating ist eine dritte Form von Essstörung—neben Anorexie und Bulimie. Beim Binge Eating hat man regelmäßig Essattacken, während denen man sehr große Mengen an Nahrung sehr schnell zu sich nimmt. Bei diesen Anfällen geht es gar nicht um Genuss. Manchmal sind die Betroffenen auch nicht einmal hungrig. Tatsächlich geht es darum, zu essen bis man sich komplett voll fühlt. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist auch der zeitliche Rahmen. Wenn jemand sehr viel isst, weil er oder sie schlecht gelaunt ist, oder extremen Heißhunger hat, ist noch nicht unbedingt von Binge Eating die Rede. Das Verhalten kann erst dann als Esssucht bezeichnet werden, wenn man über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten regelmäßig Essattacken hat. Binge Eating unterscheidet sich auch dadurch, dass es keine kompensatorische Maßnahmen—so wie anschließendes Hungern, oder Sporteln—beinhaltet. Bulimische Personen zum Beispiel haben ja auch oft Essanfälle, kompensieren diese aber durchs Übergeben.

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Was sind die tiefer liegenden Gründe für Binge Eating?
Für Personen mit Binge Eating Disorder ist Essen ein Trost. Manche essen aus Protest, manche essen, weil sie sexuell missbraucht worden sind und durchs viele Essen einen Schutzpolster aufbauen können. Andere wiederum essen, weil sie sich ihren Platz nehmen möchten und das nicht verbal tun können. Meine Patienten habe oft auch Angst davor, was passieren wird, sobald sie einmal abgenommen haben.

Was isst ein Esssüchtiger während einer Essattacke?
Eine Patientin erzählte mir, sie hätte während einer ihrer Essanfälle einen ganzen Strudel, zwei Tafeln Schokolade, unzählige Brote und Spaghetti gegessen.

Wie fühlen sich die Betroffenen danach?
Im Nachhinein empfinden die Betroffenen meistens Ekel. Sie schämen sich und fühlen sich schuldig. Diese Gefühle führen früher oder später zu weiteren Essattacken. Es ist wie eine Spirale.

Wie kann man sich Esssüchtige vorstellen? Können Sie uns ein bisschen was über sie verraten?
Es sind Menschen, die eher übergewichtig sind. Sie werden oft ausgelacht und beleidigt. Viele werden diskriminiert. Suchen sie zum Beispiel eine Arbeit, so wird jemand bevorzugt, der vielleicht die gleichen Qualifikationen hat, aber nicht übergewichtig ist. Beim Fliegen müssen schwer übergewichtige Menschen auch einen Mehrpreis bezahlen. Das macht ihre Situation noch schwieriger, abgesehen von der Essstörung, mit der sie kämpfen, werden sie auch noch verspottet und wie Menschen zweiter Klasse behandelt.

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Außerdem gibt es sehr viele Vorurteile, mit denen sie konfrontiert werden. Viele Menschen denken, dass übergewichtige Personen faul sind. Sie sind der Meinung, dass diese Menschen selbst dafür zu verantworten sind, weil sie sich ungesund ernähren und sich nicht genug bewegen. Ihnen kommt gar nicht in den Sinn, dass solche Personen aufgrund psychologischer oder medizinischer Gründe—so wie Diabetes oder einer langsam funktionierenden Schilddrüse—Übergewicht haben könnte. Die meistenmeiner Patienten sind Singles. Manche haben auch Partner, die Verständnis für die Essstörung haben. Andere leben noch bei ihren Eltern und müssen sich oft anhören, dass sie auf Diät gehen sollen.

Wie bekannt ist diese Essstörung?
Während in den Medien Bulimie und Anorexie Beachtung geschenkt wird, wird das Thema Binge Eating medial leider noch unter den Teppich gekehrt. Das ist aber nicht nur in den Medien so, sondern auch bei der Krankenkasse, wo Esssucht im Diagnoseschlüssel ICD-10 (International Classification of Disease) noch nicht als eigenständige Essstörung angeführt wird. Binge Eating fällt unter die Kategorie„nicht näher bezeichnete Essstörungen“. Damit wird nicht näher angegeben, um was für eine Form der Essstörung es sich handelt. In den USA aber wurde Binge Eating bereits in den Diagnoseschlüssel aufgenommen. Damit sind sie uns einiges voraus.

Wie hilft Intakt Menschen mit einer Esssucht?
Wir bieten verschiedene Therapieformen an. Dazu gehören unter anderem personenzentrierte Therapien, Hypnose, katatym imaginative Bildtherapien, Gestalttherapien, Existenzanalysen, Musiktherapien und Bewegungsanalysen. Am Anfang gibt es immer ein Erstgespräch. Dementsprechend wird der Behandlungsplan erstellt. Außerdem werden unsere Patienten von einem praktischen Arzt und in manchen Fällen von einem Psychiater betreut.

Wer ist von Binge Eating betroffen? Haben Sie auch Männer als Patienten?
Die meisten Betroffenen sind Frauen. Das hat zum einen damit zu tun, dass der Druck auf Frauen, den gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu entsprechen, größer ist als bei Männern, obwohl sich das auch langsam ändert. Zum anderen hat es damit zu tun, dass Männer sich noch mehr schämen, sich einzugestehen, dass sie eine Essstörung haben, geschweige denn Therapie in Anspruch zu nehmen.

Was Tina betrifft, wünschen wir ihr viel Kraft für die Therapie. „Frohe Weihnachten” sparen wir uns dann doch, denn zu diesem Thema hat sie nur eins zu sagen: „Ich wünsche mir nichts mehr als dass der ganze Schokoladen- und Süßigkeitenkonsum endlich vorbei ist.“