Porträt einer schwarzen Frau mit langen Haaren, Elisabetta Agyeiwaa hat keine Papiere, weil ihre Mutter ihre Identität einem anderen Mädchen gegeben hat.
Elisabetta | Foto mit freundlicher Genehmigung von VPRO
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Interview: Meine Mutter hat meine Identität gestohlen und weggegeben

Ohne Papiere darf Elisabetta Agyeiwaa nicht wählen, heiraten oder ins europäische Ausland reisen. Wir haben mit ihr über ihren Kampf um ihre Identität gesprochen.

Elisabetta Agyeiwaa wurde 1991 in Brescia in Norditalien als Kind einer Einwanderin aus Ghana geboren. Aber sie wuchs dort nicht auf. Ein halbes Jahr nach ihrer Geburt brachte ihre Tante sie in ein kleines Dorf im niederländischen Friesland zu einer Freundin. Angeblich weil ihre Mutter mit ihr überfordert war. Das Problem: Sie hatte keine Papiere mit in ihr neues Leben bekommen. Später erfuhr Agyeiwaa, dass das keine Schlamperei, sondern Absicht war. Ihre eigene Mutter hatte ihre Identität gestohlen und einer anderen Person gegeben. Mit 31 hat sie immer noch keine Papiere, was ihr Leben zu einem bürokratischen Albtraum macht.

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Da sie nirgendwo Hilfe findet, hat Agyeiwaa ihre Geschichte in einer kurzen Dokumentation erzählt. Elisabetta feierte im September ihre Premiere beim Nederlands Film Festival. Wir haben mit der Filmemacherin über ein Leben ohne Papiere und ihren Kampf um ihre Identität gesprochen.

Porträt einer lächelnden schwarzen Frau mit langen Haaren und einem pastellfarbenen Top

Elisabetta | Foto: Maurice Meijs

VICE: Auf dem Papier existierst du nicht. Wie ist das möglich?
Elisabetta Agyeiwaa:
Ich habe eine Geburtsurkunde, aber meine Mutter, die aus Ghana nach Italien gekommen war, hat mich nie bei den italienischen Behörden angemeldet. 1993 hat sie stattdessen ein anderes Kind angemeldet, das viel älter war als ich. Mit meiner Geburtsurkunde. Höchstwahrscheinlich ist es die Schwester des Vaters meines Halbbruders und meiner Halbschwester. Sie bekam meinen Namen und Geburtsort, aber wurde mit ihrem eigenen Foto und Fingerabdrücken registriert.

Dieses andere Kind hat nicht nur meine Identität bekommen, sondern auch meinen Platz in der Familie. Nach meiner Geburt hat mich meine Tante, die ebenfalls aus Ghana stammt, aber eine niederländische Staatsbürgerschaft besitzt, in die Niederlande gebracht. Sie tat das angeblich, weil meine Mutter "überfordert" gewesen sei und sich jedenfalls eine Zeit lang nicht um mich kümmern konnte.

In den Niederlanden hat mich meine Tante dann bei einer Freundin von ihr gelassen, Marianne. Die lebte in einem Dorf in Friesland. Das Ergebnis ist, dass ich nicht wählen, keine Hypothek aufnehmen, heiraten oder ins europäische Ausland reisen darf.

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Warum konntest du deine Existenz noch nicht beweisen?
Es ist sehr schwer für mich zu beweisen, dass ich die echte Elisabetta bin und keine Hochstaplerin. Unter meinem Namen sind ihre Fingerabdrücke gespeichert. Wenn man Elisabetta Agyeiwaa im System eingibt, bekommt man ein Bild dieser anderen Frau. Meine Mutter hat sich geweigert, mir dabei zu helfen. Sie sagt, sie wird es immer abstreiten. 

Kannst du dir keine neue Identität zulegen? Warum willst du Elisabetta Agyeiwaa bleiben?
Das ist einfach unmöglich. Du kannst nicht einfach von vorn anfangen. Du brauchst einen Elternteil, der dich mit Geburtsurkunde anerkennt. Es gibt Ausnahmen, zum Beispiel für Asylsuchende, die keine Geburtsurkunde kriegen können, weil in ihrem Land Krieg herrscht. Aber in meinem Fall ist es viel komplizierter.

Ich bin seit Jahren Elisabetta. So kennt man mich überall. Ich kann mir nicht über Nacht eine neue Identität geben. Abgesehen davon habe ich doch auch das Recht, ich selbst zu sein, oder nicht? Ich will mit der Identität leben, mit der ich geboren wurde. Warum sollte ich jemand anderes sein wollen? 

Gab es keine Erwachsenen in deinem Leben, die versucht haben, sich um diese Sache zu kümmern?
Nein. Meine Mutter hat kein Interesse an mir gezeigt. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, hat man sich gut um mich gekümmert. Ich hatte zwar keine Papiere, aber ich konnte zur Schule und zum Arzt. Ich war ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft.

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Am Ende wollten dort alle nur das Beste für mich. Ich glaube nicht, dass sie wirklich verstanden haben, was für Konsequenzen es hat, ohne Papiere zu leben. Wenn Leute früher Alarm geschlagen hätten, wäre die ganze Geschichte wahrscheinlich heute gelöst.

Porträt von einem jungen schwarzen Mädchen

Standbild aus 'Elisabetta' mit freundlicher Genehmigung von VPRO

Deine Pflegemutter ist gestorben, als du sieben warst. Danach ging das bürokratische Chaos erst wirklich los, oder? Das muss hart gewesen sein.
Absolut. Sie war die erste Person, die mir beigebracht hat, dass ich es wert bin, geliebt zu werden. Das hat meine Mutter nie getan.

Als Marianne starb, wurde deutlich, wie problematisch meine Situation war. Ich hätte eigentlich etwas von ihr erben sollen, aber am Ende bekam ich nichts. Ich war allein und die Behörden konnten nicht herausfinden, wer ich war. Ich war offiziell als Person ohne Papiere unbekannter Herkunft gemeldet und kam in staatliche Obhut. Ich bekam einen Vormund, jemanden, der eine Akte mit meinen Daten, Informationen zu meinem Wohnort und allem anderen führte. Ohne Papiere konnte ich nicht adoptiert werden und ging von Pflegeheim zu Pflegeheim. 

Wie versuchst du als Erwachsene, deine Identität zurückzubekommen?
Zuerst habe ich meine Mutter kontaktiert. Jahrelang habe ich versucht, über sie an meine Papiere zu kommen. Damals wusste ich noch nicht, dass sie meine Identität weggegeben hatte. Sie hat ständig gelogen, warum ich meine Papiere nicht bekommen könne. Zum Beispiel hat sie behauptet, sie müsste erst den Vater meines Halbbruders und meiner Halbschwester heiraten, weil dann auch ihre eigenen Papiere in Ordnung kommen würden. Jahrelang habe ich ihr diese ganzen Ausreden geglaubt.

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Um Weihnachten 2015 bekam ich einen Anruf von meinem Cousin. Er hat mir endlich die Wahrheit gesagt. Ich habe dann sofort meine Mutter konfrontiert, aber sie hat alles abgestritten. Sie meinte, mein Cousin sei verrückt, und wurde wütend auf mich. Dann hat sie mich sogar blockiert, damit ich sie nicht mehr kontaktieren konnte.

Ich bin zur niederländischen Polizei gegangen, aber die haben auch nichts gemacht, um mir zu helfen. 2017 bin ich dann nach Brescia gereist und habe dort die Stadtverwaltung, die Polizei und die Einwanderungsbehörde besucht. Aber sie haben mich überall abgewiesen. Ich kam nicht weiter. Niemand wollte Verantwortung übernehmen.

Dafür habe ich immer wieder gehört, ich solle doch einfach glücklich sein, dass ich in den Niederlanden leben darf. Dabei ging es natürlich um mein Aussehen. Ich soll also einfach akzeptieren, dass ich in meinem eigenen Land nicht wählen darf.

Dunkles Bild von einem schwarzen Mädchen auf einem langen Gang

Standbild aus 'Elisabetta' mit freundlicher Genehmigung von VPRO

Wie ist das Verhältnis zu deiner Mutter?
Sehr schlecht. Es ist ihr einfach komplett egal. Sie fragt nie, wie es mir geht, gratuliert mir nicht zum Geburtstag und besucht mich nie. Sie war ein paar Mal in den Niederlanden. Ich habe sie dann manchmal gesehen, wenn sie bei meiner Tante war. 

Sie meinte mal zu mir, dass sie mit den Papieren ihrer Kinder machen könne, was sie wolle. Das sei ihr Recht als Mutter. Sie ist extrem unfreundlich. Sie streitet lieber, als normal mit einem zu sprechen. Sie hat mich angeschrien, Türen zugeknallt und mir gesagt, ich solle mich verpissen. Das ist ihre Art, mit der Situation umzugehen.

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Weißt du inzwischen wenigstens, warum sie deine Identität weitergegeben hat?
Keine Ahnung. Das ist und bleibt die große Frage. Warum tut meine Mutter mir das an? Es tut schon genug weh, dass sie sich nicht um mich gekümmert hat. Warum tritt sie also weiter auf mich ein, wenn ich schon am Boden bin? Sie hat mir nie eine Antwort auf diese Fragen gegeben. Ich hoffe, dass sie eines Tages den Mut fasst, sich zu entschuldigen, aber ich glaube nicht, dass das jemals passieren wird. 

Ich habe ihr in der Dokumentation einen Brief geschickt. Wir hatten online Kontakt und sie hat schließlich den Brief gelesen. Am nächsten Tag hat sie mich dann blockiert. Das war ihre Antwort.

Hast du mit der Frau gesprochen, die jetzt deine Identität hat?
Ich habe nie mit ihr gesprochen, aber sie hat mir mal auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt. Ich habe sie nicht angenommen, aber ich habe gesehen, dass ihr Leute an meinem Geburtstag zum Geburtstag gratuliert haben. Später hat sie plötzlich angefangen, alle meine Fotos auf Instagram zu liken. Ich verstehe nicht, warum sie das macht. Für mich ist das Bullying. Du hast doch schon meine Identität, leb dein Leben und lass mich in Ruhe. 

In der Dokumentation sprichst du auch kurz über deinen Vater. Du weißt nicht, wer er ist, aber er könnte dich theoretisch als sein Kind anerkennen und die Situation auflösen?
Ja, niemand will mir sagen, wer mein Vater ist. Alles, was ich weiß, ist, dass er wahrscheinlich auch in Italien lebt. Ich hoffe, dass ich ihn eines Tages finden kann. Vielleicht hilft die Dokumentation ja dabei. Ich glaube an Gerechtigkeit und trotz allem, was passiert ist, habe ich immer noch die Hoffnung, dass sich das eines Tages alles auflösen wird. 

Ist das der Grund, warum du die Dokumentation gemacht hast?
Ja, auch. Aber es gibt da draußen auch noch andere Kinder, die zu Opfern eines Identitätsdiebstahls durch ihre eigenen Eltern geworden sind. Ich will ihnen Hoffnung geben und auf ihre Situation aufmerksam machen. Man fühlt sich so machtlos, wenn so etwas mit einem passiert.

Ich habe in der Dokumentation auch mit der niederländischen Polizei gesprochen, die zugegeben hat, in meinem Fall versagt zu haben. Sie rollen den Fall jetzt wieder auf.

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