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Die vermissten Kinder, über die wir nicht sprechen

Nach 15 Jahren ist die Leiche der verschwundenen Peggy aufgetaucht. Der Fall schlägt hohe Wellen. Doch wir dürfen die vielen Fälle nicht vergessen, die längst nicht aufgeklärt sind.

Foto: imago | McPhoto

Es gibt Themen, die bewegen uns mehr als andere: Sex, Gewalt, Liebe, Drogen. Alles, was auf unsere Begierden oder Ängste abzielt, es packt uns unmittelbarer, als wenn es den Umweg über den Intellekt gehen muss. Daher auch die hohe Frequenz an Berichten zu minderjährigen Vermisstenfälle. Verschwundene Kinder: Das rüttelt an Urängsten von Eltern, von Kindern. Dahinter zudem die Wut angesichts der Hilflosigkeit der jungen Opfer, und die Angst, dass aus dem verschollenen Kind ein missbrauchtes oder gar ein ermordetes wird.

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Elias, Mohamed oder wie jüngst die nach 15 Jahren gefundene Leiche von Peggy: Live-Ticker, Eilmeldungen und Sondersendungen werden zu den Fällen aus dem Boden gestampft. Jeder dieser Fälle ist tragisch, zerstört Leben, zerreißt Familien. Aber was machen all diese Berichte mit uns? Kann es sein, dass der mediale Fokus auf die missbrauchten oder vermissten Kinder die Realität verzerrt. Wie groß ist die Gefahr für Kinder tatsächlich? Wirklich so hoch, wie sie scheint? Wie viele Menschen werden in Deutschland vermisst und wie viele davon sind eigentlich Kinder? Und wie hoch ist die Erfolgsquote, sie wiederzufinden?

Antworten auf diese Fragen liefert die Vermisstenstelle des Bundeskriminalamts (BKA). In ihrer Datei "Vermisste/Unbekannte Tote" zählte die Behörde im April 2016 rund 18.400 Vermisstenfälle. Darin enthalten sind aber auch im Ausland vermisste Deutsche. Innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik beläuft sich die Zahl auf circa 16.000 Fälle. Dabei werden pro Tag zwischen 250 und 300 Fahndungen neu erfasst und wieder gelöscht: Denn wie die Erfahrung zeigt, können rund 50 Prozent aller Vermisstenfälle binnen der ersten Woche gelöst werden. Innerhalb des ersten Monats liegt die Erfolgsquote sogar bei über 80 Prozent. Der Anteil der Menschen, die länger als ein Jahr vermisst werden, liegt dagegen nur bei 3 Prozent.

Etwa zwei Drittel aller Vermissten sind männlich. Was die Minderjährigen anbetrifft, muss zwischen Kindern (bis 14 Jahre) und Jugendlichen (von 14 bis 18 Jahren) unterschieden werden. In der Summe machen sie aber die Hälfte aller vermissten Personen aus. Im gesamten Jahr 2015 wurden 6.297 Kinder als vermisst gemeldet, wobei 5.554 von ihnen wiedergefunden werden konnten, was einer Aufklärungsquote von über 88 Prozent entspricht.

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Aktuell verzeichnet das BKA 1.714 ungeklärte Fälle zu vermissten Kindern (Stand: 06.04.2016). Darunter fallen aber auch sogenannte "Dauerausreißer", also Kinder, die wiederholt weglaufen bzw. aus ihrem gewohnten Lebensumfeld verschwinden. Mehr als die Hälfte der 1.714 Fälle hat das BKA als "unbegleitete Flüchtlinge" identifiziert oder Kinder, die ihren Sorgeberechtigten entzogen wurden.

Grundsätzlich ist das Phänomen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ein Thema, das die Polizei vor allem seit zwei Jahren vor besondere Herausforderungen stellt. Während sich 2014 die Zahlen dieser Fälle im niedrigen vierstelligen Bereich bewegten, wurden allein 2015 rund 8.000 minderjährige Flüchtlinge als vermisst gemeldet. 8 Prozent davon waren Kinder, also Jungen und Mädchen unter 14 Jahren. 640 Kinder, von denen wir medial so gut wie gar nichts gehört haben.

Den Vorwurf, dass auch das Mitleid eine Zweiklassengesellschaft kennt, müssen sich nicht nur die vermeintlich sensationsgeile Presse, die Polizei oder "alle die da oben im System" gefallen lassen: Unicef hat erst kürzlich einen bemerkenswerten Test gemacht. Ein- und dasselbe Mädchen wurde in teure Kleidung und kurze Zeit später in ein Lumpengewand gesteckt, im Zentrum einer europäischen Großstadt ausgesetzt und dann wurde geschaut, wie die Reaktionen der Passenten auf das verlassene Mädchen ausfallen. Offenbar steckt in den meisten von uns eine selektive Wahrnehmung, wenn sich Leid vor uns auftut …

Vielleicht könnten wir ja alle eine Neujustierung unsers Fokus bei den Vermisstenfällen gut gebrauchen.