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Warum Island seinen liberalen Ruf nicht verdient hat

Ich liebe mein Land, aber ich habe trotzdem noch nie verstanden, warum die ganze Welt hier ein „ultraliberales" Paradies sieht.

Das berühmte Flugzeugwrack an den schwarzen Sandstränden der Südküste Islands | Alle Fotos: Florian Jentsch

Vor Kurzem musste der australische Premierminister Tony Abbott seinen Hut nehmen. Seine Amtsenthebung erinnerte mich wieder an die ganzen miesen Nummern, die die Regierung von Down Under unter seiner Führung abgezogen hat. Aber auch die gerechte Strafe, die darauf folgte—sowohl in Bezug auf Abbotts Karriere als auch in Bezug auf das Image Australiens—, kam mir in den Sinn. Es hat den Anschein, als seien sich die meisten Bewohner der nördlichen Hemisphäre bewusst, wie ablehnend die australische Regierung den Aborigines und auch Asylbewerbern gegenüber eingestellt ist, und manchen ist sogar schon zu Ohren gekommen, dass Abbott nicht an den Klimawandel glaubt.

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All das ließ in mir die Frage aufkommen, warum die isländische Regierung noch nicht das gleiche Schicksal erlitten hat, denn auf der Insel mitten im Atlantik ist auch schon eine ganze Menge übles Zeug abgelaufen.

Seitdem sie im Frühling 2013 wiedergewählt wurde, hat es die Regierungskoalition bestehend aus der konservativen Unabhängigkeitspartei und der liberalen Fortschrittspartei geschafft, das sowieso schon angeschlagene isländische Gesundheitssystem komplett an die Wand zu fahren. Inzwischen werden Vorbereitungen getroffen, das Gesundheitswesen zu privatisieren. Außerdem wurde irgendwie übersehen, wie die isländische Polizei verblüffend tollpatschig versucht hat, norwegische Maschinenpistolen zu kaufen und ins Land zu bringen—ein Land, in dem es quasi keine Waffenkriminalität gibt. Natürlich wurde als Grund die gute alte „nationale Sicherheit" angegeben.

Die isländische Regierung unternimmt auch Anstrengungen, das Hochland zu industrialisieren, indem riesige Gebiete an ausländische Investoren verkauft werden, die dort Kraftwerke und Silizium-Raffinerien bauen wollen. Dieses Vorgehen passt perfekt zur Ansicht von Islands Rechten, dass unsere Wirtschaft vor allem von der Industrie getragen werden soll—diese Einstellung macht besonders wütend, wenn man bedenkt, dass die Schwerindustrie in einem schlechten Jahr vielleicht fünf Prozent des isländischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Der Tourismus (und dabei vor allem der Naturtourismus) spült währenddessen weiterhin Jahr für Jahr viele Millionen in unsere Kassen. Und trotzdem schreiben die Politiker diese Einnahmequelle als irrelevanten Trend ab, was dazu führt, dass Sehenswürdigkeiten verkommen und die Mieten in Reykjavik ins Unermessliche steigen, weil die Errichtung von neuen Hotels und Airbnb-Unterkünften nicht reguliert wird. Dazu kommt, dass die isländische Hauptstadt im Allgemeinen aus allen Nähten platzt—das Ganze ist inzwischen schon so weit außer Kontrolle geraten, dass Touristen dazu gezwungen sind, ihre Zelte auf öffentlichen und privaten Grundstücken aufzuschlagen (und dort dann auch ihr großes Geschäft zu erledigen).

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Das Gebiet um Jökulsárlón, wo Gletschereis in Richtung Meer gespült wird

Seine ablehnende Haltung dem Tourismus gegenüber hat den Vater des Finanzministers aber trotzdem nicht davon abgehalten, den Transport zwischen Reykjavik und dem einzigen internationalen Flughafen der Insel zu monopolisieren. Falls du schon mal hier warst, dann hast du diesem Unternehmen wahrscheinlich auch schon dein Geld in den Rachen geworfen, da zwischen Keflavík und Reykjavik keine öffentliche Busverbindung existiert.

Rassismus ist hier natürlich auch kein unbekanntes Thema. Letztes Jahr wurde ein Asylbewerber aus Nigeria wieder abgeschoben und von seiner Familie getrennt, nachdem ein Assistent des damaligen Innenministers eine Memo mit falschen und irreführenden Informationen zu besagtem Nigerianer an die Presse weitergegeben hatte. Währenddessen sicherte sich eine Anwärterin auf einen Platz im Stadtrat Reykjaviks die Stimmen von Rassisten, indem sie während des Wahlkampfs versprach, den Bau der einzigen Moschee auf der Insel aufzuhalten.

VICE Sports: Wie Island zu einer gefürchteten Fußballnation wurde

Ich sehe auch schon ein, dass das im Vergleich zu den Vergehen der australischen Regierung alles ziemlich provinzlerisch—wenn nicht sogar niedlich—anmutet, aber ich bin dennoch erstaunt darüber, wie die Welt im Anbetracht des Hypes, den Island in den letzten Jahren erfahren hat, bei den Verbrechen unserer Staatsoberhäupter einfach wegschaut. Uns wird immer eine „ultraliberale" Politik nachgesagt, die in Wahrheit jedoch nichts weiter ist als ideologische Gebärden von offenherzigen, aber eben machtlosen Gelehrten und Politikern.

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Reykjaviks ehemaliger Bürgermeister trat mal als Dragqueen auf und jeder Mensch ging danach sofort davon aus, dass bei uns hier oben eitel Sonnenschein herrschen und Island eine Art liberales Paradies sein würde. Ein anderes Mal wurden hier fünf korrupte Banker verhaftet, nachdem sie dabei erwischt worden waren, wie sie das machten, was der gesamte Finanzsektor vor dem Zusammenbruch unserer Wirtschaft gemacht hat. Eine ganze Menge Clickbait-Seiten veröffentlichen daraufhin schnell Artikel darüber, wie wir all unsere Banken vor die Hunde gehen lassen (was schlicht und einfach falsch ist) und alle Banker ins Gefängnis stecken.

In Wahrheit geht es den Banken wieder ausgesprochen gut und sie haben seit der Wirtschaftskrise wieder massiv Profit gemacht. Der Rest Islands hat sich von dem ganzen Drama allerdings immer noch nicht ganz erholt. Die ganzen Fehler, die uns das Finanzdesaster vor sieben Jahren überhaupt erst eingebrockt haben, werden jetzt von den politischen Parteien wiederholt, die schon damals an der Macht waren (und komischerweise trotzdem wiedergewählt wurden). Der durchschnittliche Isländer versinkt derweilen immer weiter in Schulden, weil die Lebenskosten mit der Inflation steigen, während die Gehälter gleich bleiben.

Aber niemand interessiert sich hier wirklich für solche Themen. Ich habe den Eindruck, dass die Einwohner Islands selbst so stark an den Mythos des „liberalen Paradieses" glauben, dass an der Wahrheit gar kein Interesse besteht. Und der durchschnittliche Island-Tourist ist von den ganzen skurrilen Musikvideos, putzigen Märchen (hier glaubt niemand an Elfen) und falschen Tatsachen (Religion wird hier nicht abgelehnt—der Kirche werden in der Konstitution sogar Sonderrechte eingeräumt) so sehr geblendet, dass die Insel gar nicht wirklich als echter Ort mit echten Problemen wahrgenommen wird.

Ich will damit jetzt aber auch nicht sagen, dass du einen Urlaub hier nicht genießen kannst. Ganz im Gegenteil: Vielleicht weiß man nur als Tourist, der keinen Teil unserer lächerlich korrupten Gesellschaft darstellt, das Leben hier noch richtig zu schätzen. Deshalb nun meine Bitte: Kommt alle her und füttert unsere Wirtschaft mit eurem leckeren ausländischen Geld. Zeigt der isländischen Regierung, dass sie in Bezug auf das Thema Tourismus komplett daneben liegt. Bewundert unsere Natur, bevor es dafür zu spät ist. Trinkt euch hier einen Rausch an, bevor die Mitarbeiter der staatlich betriebenen Schnapsläden streiken. Geht hier auf Konzerte, bevor alle isländischen Musiker weggezogen sind (so wie ich es gerade tue). Kommt alle vorbei, aber beeilt euch, denn schon bald könnten die Leute an der Spitze dieses Landes für dessen endgültigen Untergang sorgen.

Sindri Eldon ist auch bei Twitter zu finden.