Im Kanton Zürich waren gemäss dem Sozialbericht des Kantons aus demselben Jahr 45.500 Menschen auf Sozialhilfe angewiesen, fast ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Die tatsächliche Zahl an Armutsbetroffenen dürfte jedoch bedeutend höher liegen—bis zu drei Mal so hoch legen Studien nahe. Viele der Betroffenen verweigern den Gang zum Sozialdepartement, meist aus Angst vor Stigmatisierung, dem Wunsch nach Unabhängigkeit oder Stolz, wie eine Studie der Universität Fribourg feststellte.Ewald Furrer ist einer von jenen, die nie Sozialhilfe bezogen haben. Ihm war es stets wichtig, auch während seiner Jahre auf der Strasse nach aussen hin nicht als Obdachloser zu erscheinen. "Ich war immer herausgeputzt, immer ganz in schwarz—dadurch habe ich am Anfang den Übernamen 'Der Pfarrer' bekommen", erinnert er sich. Sein äusseres Erscheinungsbild im Zusammenspiel mit seinem charmanten Auftreten hat ihm das Leben auf der Strasse erleichtert. Ewald pflegte nach eigenen Aussagen nicht nur Kontakte zu "Normalos", wie er den Chefredaktor, die Banker und den Immobilienbesitzer in seinem Bekanntenkreis nennt, sondern auch zu diversen Institutionen, die sich an Randständige richten.Er arbeitete im Pfuusbus von Pfarrer Sieber, der Obdachlosen im Winter gratis eine Unterkunft für die Nacht und ein Abendessen anbietet, in der Sunnestube, einem Begegnungscafé für Randständige, sowie im Speak Out, der Gassenküche im Zürcher Niederdorf. "Ich schaue den Leuten immer in die Augen und bin ehrlich. So kommst du überall durch.""Obdachlos zu sein ist ein Fulltime-Job."
Ewald in der Zürcher Bäckeranlage | Foto vom Autor
Seit gut einem halben Jahr wohnt Ewald nicht mehr auf der Strasse, sondern in einer 2.5-Zimmer-Wohnung. Die Angestellten des Stadtbades haben ihm beim Einzug geholfen. "Wenn mich vor drei Jahren jemand gefragt hätte, ob ich eine Wohnung wolle, hätte ich 'Nein, Danke!' gesagt." Mittlerweile sei er aber froh, wenn er am Abend die Türe schliessen könne und alleine sei. Schliesslich bleibe ihm kein Jahr mehr, bis zum 50. Geburtstag und sein Arzt habe ihm gesagt, bis dahin müsse er seinen Lebensstil umkrempeln. "Alle Freunde, die sich so zugerichtet haben, haben ihren 50. Geburtstag nicht mehr erlebt."Ewald aber hat seine Sucht immer besser unter Kontrolle. Er versuche, kontrolliert zu trinken, am Abend höchstens zwei, drei Bier oder eine Flasche Wein—mehr nicht. Wie unsere erste Verabredung gezeigt hat, klappt das aber nicht immer. "Hin und wieder habe ich ziemlich heftige Abstürze." Doch so intensiv wie früher soll es nicht mehr werden.Damals verlor er wegen seiner Abstürze immer wieder mal einen Job und dadurch auch das Geld für die Wohnungsmiete. Wenn er gearbeitet hat, wohnte Ewald jeweils in einer Wohnung. Es dauerte aber nie länger als drei Monate bis wieder ein Absturz und weitere Monate auf der Strasse anstanden. "Ich müsste mich schon sehr dumm anstellen, um wieder auf der Strasse zu landen", sagt er heute, wo er sich im Job als Stadtführer beim Verein Surprise nicht nur mitsamt seiner Fehler akzeptiert fühlt, sondern mit seinem Gehalt auch eine Stadtwohnung bezahlen kann."Alle Freunde, die sich so zugerichtet haben, haben ihren 50. Geburtstag nicht mehr erlebt."
Nicht alle Menschen wollen wie Ewald das ganze Jahr über auf der Strasse leben oder können sich eine Wohnung leisten. Für diese stehen in der Stadt mehrere Notschlafstellen zur Verfügung. Eine davon ist jene der Stadt Zürich an der Rosengartenstrasse. Stadtzürcher können eines der 52 Betten maximal vier Monate lang nutzen, danach sind sie für zwei Monate gesperrt. Für Menschen, die nicht in der Stadt gemeldet sind, steht das Angebot nur eingeschränkt offen. "Die Stadt hat ganz bewusst entschieden, dass sich ihre Angebote an Stadtzürcher richten", erklärt mir Eveline Schnepf, die Leiterin der Notschlafstelle. Letzten Endes werde die Notschlafstelle schliesslich von den Steuerzahlern bezahlt. "Die Gemeinden haben vor diesem Entscheid ihre Leute einfach nach Zürich geschickt und sich nicht selbst um sie gekümmert.""Ein Mann im Anzug ist jeden Tag an mir vorbei gegangen, hat mir nie ein Heftchen abgekauft aber immer einen guten Morgen gewünscht. Eines Tages ist er stehen geblieben und hat mich gefragt, ob es sich überhaupt lohne, dieses Heftchen zu verkaufen. Ich habe ihm geantwortet, dass es mir nicht wichtig sei, ob sich das lohne. Wichtiger sei, dass ich so vielen Leuten jeden Tag ein Lächeln auf die Lippen zaubere. Da war er ganz baff, nahm sein Portemonnaie hervor und gab mir ein grosses Nötchen als Dankeschön."
Eveline Schnepf | Foto vom Autor
Ein Zimmer der städtischen Notschlafstelle | Foto vom Autor