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Heulsuse der Woche

Heulsuse der Woche: 'Bild'-Zeitung vs. EU-Gericht

Das EU-Gericht versucht, Goethe vor Beleidigungen zu schützen, und die 'Bild' empört sich mit einer sonderbaren Hoden-Metapher.
Foto: imago | Steinach || Foto: imago | Michael Eichhammer 

Unser Battle um die Heulsuse der Woche könnte auch der tränenreiche Plot eines Teenagerdramas sein, in dem das größte Problem des garstigen Jugendlichen seine Erzeuger sind. In der Rolle des Helikopter-Elternteils tritt das EU-Gericht mit einem überfürsorglichen Urteil auf. Für den Part des Enfant terrible haben wir die Bild-Zeitung gecastet, das lose Mundwerk des Axel-Springer-Verlags.

Den Unmut der Kandidaten hat ein und derselbe Film ausgelöst – die Reaktionen könnten aber kaum unterschiedlicher sein. Das Potenzial zur größten Heulsuse der Woche haben sowohl das EU-Gericht als auch die Bild. Wer wird als Sieger aus diesem Machtkampf hervorgehen?

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Heulsuse #1: Das EU-Gericht

Foto: imago | Steinach

Der Vorfall: Die Produktionsfirma Constantin Film hat nach dem Erfolg ihres Streifens Fack Ju Göhte nicht nur beschlossen, die Menschheit mit zwei Fortsetzungen und fast vier weiteren Stunden seichtem Humor zu belästigen – sie wollte auch Fack Ju Göhte-Merch anbieten. Dafür beantragte die Firma schon 2015, den Filmtitel europaweit als Marke eintragen zu lassen. Ende 2016 entschied bereits die fünfte Beschwerdekammer des Europäischen Markenamts, der Name Fack Ju Göhte verstoße gegen die guten Sitten, und lehnte den Antrag ab. Weil die Constantin Film aber wohl unbedingt Duschgel, Lineale und Pullunder mit dem Schriftzug (und möglicherweise sogar Elyas M’Bareks Konterfei) in europäischen Geschäften sehen will, klagte sie vor dem EU-Gericht, einer vorgelagerten Kammer des Europäischen Gerichtshofs. Die angemessene Reaktion: Angesichts des semi-lustigen Grundschulhumors missbilligend die Augenbraue hochziehen. Den Zeigefinger erheben und Beschimpfungen vorschlagen, hinter denen kein Kopulationsgedanke steckt. Erkennen, dass Schleich dich, Goethe! halt einfach scheiße klingt. Sich mit einem seiner nächsten Fälle beschäftigen und überlegen, ob ProSiebenSat.1 oder eine spanische Supermarktkette den Streit um den Markennamen "Jumbo" gewinnt.

Die tatsächliche Reaktion: Das EU-Gericht in Luxemburg bestätigte die Entscheidung des Markenamts und urteilte am Mittwoch, Fack Ju Göhte sei ein sittenwidriger Titel. Und begründete die Entscheidung im Urteil mit einer eigenartigen Erklärung: Der Filmtitel sei eine posthume Beleidigung an dem hochangesehenen Schriftsteller Goethe – auch, weil sein Name falsch geschrieben sei. Dass Millionen von Menschen den Film im Kino gesehen hätten, bedeute der Urteilsbegründung zufolge noch lange nicht, dass Verbraucher nicht "schockiert" (ja, sie haben wirklich "schockiert" geschrieben) seien, wenn sie beim Einkaufen auf einen solchen Schriftzug stießen.

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Ob tatsächlich jemandem die Klarsichtfolien aus der Hand rutschen, wenn er zwischen Pferde- und Planeten-Notizblöcken ein Fack Ju Göthe-Federmäppchen entdeckt, bleibt trotzdem zu bezweifeln.

Heulsuse #2: Die Bild-Zeitung

Foto: imago | Michael Eichhammer

Der Vorfall: Das EU-Gericht sorgt sich mit dem Fack Ju Göhte-Urteil um unseren Wortschatz, die Berliner Alice-Salomon-Hochschule hat entschieden, ein Gedicht auf seiner Fassade überstreichen zu lassen, das von einigen als sexistisch wahrgenommen wird, und die Grünen in Bremen fordern, dass Musiker und Bands mit problematischen Songtexten nicht mehr in die Veranstaltungshalle der Stadt eingeladen werden sollen. Dem war ein Auftritt von Frei.Wild vorausgegangen, einer Band, der eine Nähe zum rechten Spektrum nachgesagt wird. Die Bild-Zeitung nimmt alle drei Geschichten in ihrer Berichterstattung auf.

Die angemessene Reaktion: In der Morgenkonferenz entscheiden, was "total Krasses" zu tun und seinen preisgekrönten Kolumnisten ein eigenes, viel besseres Gedicht schreiben lassen. Titelvorschlag: Männer und Pusteblumen. Die tatsächliche Reaktion: Bild rastet komplett aus und zeigt es allen: Aus Protest gegen die Entscheidung der Alice-Salomon-Hochschule lässt sie die kritisierten Verse des "verbotenen" Gedichts auf ein LED-Display auf dem Axel Springer-Verlagshaus erleuchten.

Auch dem EU-Gericht demonstriert die Zeitung mit einem beinahe bewundernswerten Repertoire an wütenden Ausrufen und eigenartigen Assoziationen, wie Empörung aussehen kann: "Zensur"! "Tugend-Diktat"! "Kleingeist"! Sogar ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest verbrät die Bild in ihrer Wutrede: "Umerzieher aller Länder, vereinigt euch!"

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Bild, die selbsternannte Schutzpatronin des Kleinen Mannes, will diesen Wahnsinn nicht akzeptieren – und schreibt von einer "Kastration der Kunst". Das erscheint uns dann doch ein bisschen drastisch. Aber vielleicht gibt es in der Bild-Redaktion den geheimen Auftrag, in Zeiten von Ich bin ein Star – Holt mich hier raus auch außerhalb der Dschungel-Berichterstattung so viele Hoden-Metaphern wie möglich zu verwerten.

Kleingeist oder Freigeist: Wer soll die Heulsuse der Woche sein?*

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