Seine Muskeln spannen sich. Er zerrt, rupft und reißt die drei Meter hohe Pflanze aus dem Boden, als sprudele darunter eine Erdölquelle. Man solle sich mal diese Wurzel ansehen, wie tief die sich in den Boden krallt: "Wahnsinn!" Dann taucht er zwischen das Hanfpflanzen-Dickicht, riecht an einem harzigen Blütenstand. "Oh man, wie das duftet, da wird man ja verrückt."Josef "Joe" Bayer führt so begeistert durch seine Hanfplantage, als könne er selbst nicht glauben, dass sie echt ist. Ihm bietet sich ein Ausblick, für den jedes Mitglied der bayerischen Drogenfahndung ein frisch eingeschenktes Weißbier stehen lassen würde. Von der Straße bis an den Waldrand, 1,5 Hektar Hanf, etwas mehr als die Fläche des Reichstagsgebäudes. Das Feld fließt einen bewaldeten Hügel hinab, auf dessen Spitze steht der Hof der Eltern. Von dort haben sie einen guten Blick auf das seltsame Treiben ihres Sohnes.
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In einer Woche soll hier jeder ernten dürfen, auf dem ersten Hanf-Selbstpflückfeld Deutschlands. In Bayern, nahe der oberfränkischen Kleinstadt Kronach. Klingt irre. Aber für Joe ergibt das alles Sinn.Im Hof, zu dem der 32-Jährige durch seine verspiegelte Sonnenbrille schaut, sitzen nicht nur sein Vater und seine Mutter, sondern auch die Büros und Lagerhallen des Familienunternehmens. Seit drei Jahrzehnten züchten und verkaufen die Bayers Erdbeeren auf 80 Hektar Land. Der Betrieb beschäftigt im Frühsommer bis zu 500 Angestellte. Die Kundinnen und Kunden kommen zu den Ständen oder direkt aufs Feld. Dort können sie Erdbeeren pflücken, bis der Rücken schmerzt. Joe macht also das Gleiche wie immer. Nur eben mit Hanf. Und das ändert doch wieder alles.
Haschisch und Nutzhanf – für viele Leute ein und dasselbe, sagt Joe. Den Unterschied – das eine macht high, das andere nicht – habe der gelernte Gärtner schon oft erklärt. Zuallererst seinen Eltern. Als er 17 war, fand die Polizei Gras im Wert von 20 Euro bei ihm. Er musste 80 Sozialstunden dafür leisten. Drei Wochen lang traute er sich nicht nach Hause. "Meine Eltern sagten, ich sei drogenabhängig, ich müsse auf Entzug." Erst vor eineinhalb Jahren hörten sie damit auf, das zu glauben.Seit seiner Kindheit leidet Joe am Reizdarmsyndrom. Probleme beim Essen, Magenkrämpfe – "der Bauch fühlt sich an, als ob er Feuer fängt". Stress, lange Arbeitstage und Hitze machen es schlimmer. Jedes Jahr mehrmals ins Krankenhaus, ständig neue Medikamente: 2015 reicht es ihm. Er sucht nach Alternativen und liest von Cannabidiol (CBD), dem nicht high machenden Wirkstoff in Hanf. Es soll bei Epilepsie, Schlafstörungen und Übelkeit helfen, aber auch bei Entzündungen. Im Internet bestellt er CBD-Öl, die Krämpfe lassen nach, seine Entzündungswerte fallen tatsächlich. Joe kann wieder schlafen. Nach einem halben Jahr beginnt er wieder zu kiffen, die Symptome lassen weiter nach. Als ihm 2017 ein Arzt medizinisches Cannabis verschreibt, erzählt er es seinen Eltern. Sie sehen, dass es ihrem Sohn besser geht, und ändern ihre Meinung über Gras. Also verpachtet der Vater dem Sohn ein Stück Land. In Sichtweite zwar, aber er soll mal machen. Und Joe macht.
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43 Kilo Samen hat er vor zwei Monaten in die Erde gesetzt. Jetzt wölben sich üppige Hanfsträucher unter der Sonne, wie zu Cellulose erstarrte Springbrunnen. An der Straße wachsen bis zu dreienhalb Meter hohe "Santhica 27", dahinter "Finola", die CBD-haltigste aller Nutzhanfsorten. Es duftet erdig und holzig. "Da kannst du Pinie, Moos und Gras rauslesen", sagt Joe und klingt wie ein Weinsommelier, "ach ja, und süßlichen Pfirsich auch. Alles ohne Dünger. Mein Vater sagt, das gibt's eigentlich nicht." Joe erzählt von Unkrautdruck, Rückverdichtung, Kapillarwirkung, Winternässe und schwirrt im Zickzack über sein Feld wie eine hyperaktive Biene. "Um so mehr man diese Teile penetriert", sagt er und meint beschneidet, "um so krasser werden sie. Die sind so auf Power gezüchtet, das ist unglaublich!" Heute kamen die Laborergebnisse der jüngsten THC-Analyse. Aktueller Stand: 0,17 Prozent THC in den Pflanzen. 0,2 Prozent dürfen es höchstens werden.
Die Polizei kann CBD und THC nicht unterscheiden
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Etwa eine Monat vor dem Anruf ist CBD das große Thema auf der Berliner "Mary Jane"-Hanfmesse. Herstellende von CBD-Ölen, -Cremes und -Tee halten ihre Produkte ins Messelicht, ganz ungestört von Polizeihundertschaften. CBD-Produkte sind legal, solange der THC-Gehalt eben unter 0,2 Prozent liegt. Dass Joe seine Pflanzen trotzdem nicht einfach Privatpersonen in die Hand drücken darf, liegt an einem Zusatz im Betäubungsmittelgesetz. Demnach darf man nur mit unverarbeiteten Hanf hantieren, wenn das "ausschließlich gewerblichen oder wissenschaftlichen Zwecken dient, die einen Missbrauch zu Rauschzwecken ausschließen". Das heißt, Joe muss sicherstellen, dass sich seine Kundschaft oder Dritte nicht an dem Zeug berauschen. Bei einem Mini-THC-Gehalt von 0,2 Prozent ist das so gut wie ausgeschlossen. Aber eben nicht ganz.
Man könnte den Hanf kiloweise alkoholisch einkochen, separieren und das THC extrahieren. Doch selbst mit diesem absurden Aufwand, schätzt Joe, könnte man den THC-Gehalt auf höchstens 0,5 Prozent pushen. Da ist der Weg zum nächsten Dealer komfortabler und billiger. Trotzdem verkauft Joe vorerst nicht mehr an Privatleute. Aktuell dürfen nur Menschen mit Gewerbeschein bei ihm pflücken, so wie der Teeproduzent, der neulich drei Kilo für 30 Euro mitnahm. Doch weil die Behörden so viel von CBD verstehen wie Wikinger von Tofu-Wurst, landeten die drei Kilo nicht in Teebeuteln."Kripo Bayreuth, Betäubungsmittelstelle. Wir haben bei einer Hausdurchsuchung drei Kilogramm Marihuana sichergestellt. Wissen Sie was davon, Herr Bayer?" Der Polizist habe ihn letzte Woche angerufen, sagt Joe und lacht, als er das Wort "Marihuana!" wiederholt. "Ich habe dem gesagt: 'Ja, davon weiß ich was. Ich verkaufe EU-zugelassenen Nutzhanf an Gewerbetreibende, ordentlich abgewogen, mit Rechnung und ausgewiesener Steuer.'" Seines Wissens nach, habe der Beamte geantwortet, seien alle Produkte illegal, die der Gattung Cannabis angehören. "Wahnsinn, oder?" Joe schüttelt den Kopf. Die nächste Viertelstunde habe er das EU-Nutzhanfgesetz rezitiert, deutsche Gerichtsurteile und den Unterschied zwischen Nutzhanf und potenten Pflanzen erläutert. "Aber das kann man ja gar nicht unterscheiden", habe der Polizist geantwortet. "Also habe ich es ihm erklärt", sagt Joe. Die einfachste Unterscheidungsmöglichkeit: Beim Nutzhanf ist alles voller Samen. "Niemand auf dem Schwarzmarkt möchte sowas. Niemand."
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Joe würde sein Hanffeld notfalls auch vor Gericht verteidigen
Joes Plan sieht vor, dass Menschen, die selber pflücken wollen, ohne Gewerbeschein ihre Ernte bei ihm abgeben müssen. Er würde sie dann nach ihrem Wunsch verarbeiten. Als Tee, Fußbad oder – wie der Polizist angemerkt habe – wie bei den Legal Highs als Badezusatz. Möglichkeiten gebe es viele, sagt Joe und schließt mit einem Draht den Gitterzaun um das Feld.Im Pausenraum des Erdbeerhofs schenkt Joe kalte Hanflimo ein, in einer Schale glänzen frische Erdbeeren. Joe sagt, er wolle kranken Menschen helfen. Einer Freundin etwa, die mit THC und CBD ihren Krebs bekämpft. Dass das funktionieren kann, ist kein Gerede eines Unternehmers, der 13 Tonnen Hanf auf seinem Feld loswerden muss: Das US-Gesundheitsministerium veröffentlichte im Juni eine Studie, derzufolge Cannabinoide das Wachstum von Krebszellen eindämmen können.Joe spricht von Burgerläden, Bars und Restaurants, die seinen Hanf verarbeiten, während seine sechsjährige Tochter von Stuhl zu Stuhl hüpfend den Tisch umrundet: "Ich hatte mal eine Zecke", verkündet sie plötzlich mit dem Ernst einer Nachrichtensprecherin. "Und was haben wir auf den Zeckenbiss gemacht?", fragt Joe. "Hanföl", sagt die Tochter, bevor sie weiter ihre Runde dreht. Selbst der Vater, sagt Joe, esse Hanf inzwischen als Salat und Pesto, trinke ihn als Tee. Kürzlich war Joe in Berlin auf der Feiermeile des Berliner RAW-Geländes. Zwischen all den Dealern und Feiernden, die nach Gras suchten, habe er sich unwohl gefühlt, sagt er. Das sei nicht seine Welt. In seiner Welt sitzt Joe an einem Verkaufstisch auf seinem Berg, um ihn herum der Hanf. Und wenn die Leute zur Ernte kommen, können sie damit tun, was sie wollen. "Wie bei den Erdbeeren", sagt er, "du wirst schon sehen."Folge Tim auf Twitter und VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.