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The Sprinkles of the Sandman Issue

Skalp Ahoi!

Durch Bootsschrauben verursachte Verletzungen haben sich im Amazonasgebiet zu einem ernsthaften gesundheitspolitischen Problem entwickelt.

Gefährliche, schlecht gebaute Motorboote gehören zu den meist genutzten Transportmitteln auf den Wasserstraßen des bitterarmen brasilianischen Amazonasgebiets. Sie werden von den Einheimischen aus dem zusammengestückelt, was sich an technischem Schrott und sonstigem Baumaterial gerade findet, wobei der Bequemlichkeit oft die Sicherheit zum Opfer fällt. Sitzt ein Passagier mit langen Haaren zu nah an der offenen Antriebswelle, läuft er in Gefahr, übel zugerichtet oder sogar sofort getötet zu werden. Sollte das Opfer den Zwischenfall überleben, wird es wahrscheinlich sein Leben lang unter Entstellungen wie dem Verlust von Ohren, Augenbrauen, Kopfhaut und großen Streifen Haut leiden. Die meisten Unfälle dieser Art passieren Frauen, die über Land reisen, wo es keine Behandlungsmöglichkeiten gibt, es sei denn, es gelingt ihnen, ein Ballungsgebiet zu erreichen, bevor es zu spät ist. Viele skalpierte Frauen können wegen ihrer schrecklichen Verletzungen keine Arbeit finden, und einige werden von ihren Ehemännern, Familienangehörigen und Nachbarn ausgegrenzt und misshandelt. Durch Bootsschrauben verursachte Verletzungen haben sich in der Region zu einem so ernsthaften gesundheitspolitischen Problem entwickelt, dass einheimische Aktivisten den Verein AMRVEA (Associação de Mulheres Ribeirinhas e Vítimas de Escalpelamento da Amazônia) gegründet haben, um den am Ufer des Amazonas lebenden Frauen und Skalpierungsopfern zu helfen und die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie wichtig die Abdeckung der Motoren ist. Am Wochenende des 11. Mai kam AMRVEA mit Angehörigen der Kommunalverwaltung und der brasilianischen Gesellschaft plastischer Chirurgen zusammen, um 87 Skalpierungsopfer in Macapá, der Hauptstadt des Amazonas-Bundesstaats Amapá, kostenlos operieren zu lassen. Wir waren vor Ort, um die Opfer kennenzulernen und ihre Geschichten zu hören.

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Maria Trindade Gomes, 43, Gründerin von AMRVEA, fiel im Alter von sieben Jahren einem Bootsmotor zum Opfer: „Mein Vater transportierte Mehl in Pará und einmal habe ich ihn begleitet. Als ich von Bord ging, rutschte ich aus und fiel auf ein Brett, das über dem Motor lag. Nach anderthalb Monaten ließen meine Eltern mich in einem Krankenhaus in Portel in Pará zurück. Eine Frau brachte mich ins Militärhospital in Belém. Ich lebte sechs Jahre im Krankenhaus, weil es keinen anderen Ort gab, an den ich hätte gehen können. Als ich nach Portel zurückkam, wollte mein Vater mich nicht zurückhaben und ich wurde von einem Franzosen adoptiert. Ich zog aus, als ich 18 war. Jetzt bin ich für den Verein unterwegs, um in Vorträgen von meinen Erfahrungen zu erzählen, und man bringt mir überall viel Respekt entgegen. Wir haben gelernt, uns selbst Perücken zu machen. Ich mache viele davon und trage je nach Stimmung eine andere—den einen Tag trage ich eine rote Perücke, am nächsten eine blonde, dann wieder eine schwarze oder eine gelockte … Mein Aussehen ist mir wichtig. Ich brauche etwa zwei Tage für eine Perücke, wenn ich die Haare zusammen habe. Wir verwenden menschliches Haar aus Spenden, weil wir kein Geld haben, um es zu kaufen. Jede Frau, der wir eine Perücke geben, muss uns die Haare für zwei Perücken für andere Opfer bringen, damit uns das Rohmaterial nicht ausgeht.“

Maria do Socorro Damasceno, 30, wurde ebenfalls mit sieben skalpiert: „Als Kind verstehst du überhaupt nicht, was da passiert. Erst wenn du zur Frau heranwächst, wird dir klar, dass es ein sehr schwerer Unfall war. Ich habe Ablehnung erlebt, Vorurteile … Ich bin deswegen vom Land weggezogen. Ich fragte mich, ob ich mit so einem entstellten Gesicht jemals jemanden kennenlernen würde. Jetzt habe ich vier Kinder. Alle freuen sich über die Operation.“

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Rosinete Rodrigues Serrão, 35, wurde vor 15 Jahren skalpiert und hilft jetzt anderen Opfern, ihr Selbstwertgefühl zurückzugewinnen: „Ich fühlte mich wie ein Monster. Ich hatte einen Freund, aber nach dem Unfall zog er sich von mir zurück. Anderthalb Jahre lang litt ich unter Depressionen und versuchte, mich umzubringen, doch dann ging ich wieder zur Schule und das hat mich ins Leben zurückgeholt. Jetzt habe ich einen ganz besonderen Menschen kennengelernt und bin im siebten Monat schwanger. Er ist ebenfalls Opfer eines Motorunfalls.“

Franciane da Silva Campos, 33, verlor ihre Kopfhaut vor 26 Jahren: „Ich war mit meinem Vater unterwegs, als ich einen Löffel fallen ließ. Als ich mich nach vorn beugte, um ihn aufzuheben, wurden meine Haare links einfach abgerissen. Ich war ein Jahr und 40 Tage im Krankenhaus. Ich habe sehr viel Diskriminierung erlebt. Ich habe einen Mann, eine Tochter, sogar eine Enkelin. Ich bin so aufgeregt; ich möchte diesem Aussehen auf Wiedersehen sagen. Als Erstes werde ich mir einen Job suchen.“

Marcilene Mendes Rodrigues, 24, war zehn Jahre alt, als sie bei dem Versuch, sich aus einem schwankenden Boot zu retten, verletzt wurde: „Mein Haar war alles für mich. Ich bin ausgerastet, wenn ich in den Spiegel sah und mich jemand ganz Fremdes anblickte. Die Ärzte werden mir Augenbrauen implantieren und wenn das Kopfhauttransplantat nicht den gesamten Kopf abdeckt, kann ich wenigstens Haarverlängerungen tragen. Gott sei Dank hat mich meine Familie nie im Stich gelassen. Mein Vater hat alles verkauft, was er hatte, um mir zu helfen.“

Francidalva da Silva Dias, 27, hat eine achtjährige Tochter, Patrícia (oben), die ihr beim Pflücken von Acai-Beeren 2009 vom Schoß fiel: „Ich war so unendlich verzweifelt. Ich habe so etwas in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. In der Notfallambulanz fragte mich Patrícia, ob ich ihr die Haare wieder zurückgeben könnte, und ich sagte nein, also meinte sie, es wäre mein Fehler, weil ich sie auf den Motor habe fallen lassen. Die Vorurteile in der Schule treffen sie sehr. Neulich hat ihr ein Junge die Perücke vom Kopf gezogen und sie kam weinend nach Hause“

Jaqueline Dias Magalhão, 17, wurde 2005 skalpiert: „Ich war gerade bei der Aperebá-Ernte [eine Frucht] und bewegte mich Richtung Heck. Der Motor war nicht abgedeckt und meine Haare verfingen sich. Es wurde einfach alles abgerissen. Zu Anfang habe ich überhaupt nichts gefühlt, aber als die Schmerzen heftiger wurden, wurde mir schwindlig; mein Kopf—alles—wurde taub. Ich möchte Medizin studieren. Es ist schwer, aber ich krieg das hin.“