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Die Toten von Kairo

Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sind hart, aber auch sie müssen ab und an ihre Gefallenen beweinen.

Man sagt, Revolutionen beginnen wegen Mangel an Brot—betrachtet man Ägypten, merkt man, wie viel Wahrheit in diesem Satz steckt. Die Intensität dessen, was seit dem Frühling in Kairo passiert, zeigt, wie nötig die Revolution ist. Aber ich fange langsam an zu glauben, dass die Leute weitermachen, weil sie so viel verloren haben, dass sie es jetzt nicht mehr einfach sein lassen können. Sie haben noch die Hoffnung, ihre Verluste irgendwie rechtfertigen zu können.

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Am Freitag gab es einen Marsch, durch den der Toten der letzten Wochen gedacht wurde. Dieser Mann wanderte langsam umher und hielt dabei ein Foto seines Sohnes Islam Assam Mohammed in der Hand—er war 20. Er starb durch einen Schuss in den Kopf.

Viele der Anwesenden hatten bei dem Marsch Bilder von Familienmitgliedern und Freunden bei sich und symbolische Särge für jeden der Getöteten. Die Wahlen haben gerade etwas Ruhe in die Straßen einkehren lassen, aber viele Menschen können nicht vergessen, was geschehen ist.

Die Aktivisten, die ich in den vergangen Wochen traf, waren knallhart. Aber Dutzende Menschen sind gestorben und wenn das Kämpfen vorbei ist, kann es sehr schwer sein, mit so etwas umzugehen. Manchmal liegt es daran, dass die Toten deine Freunde waren, manchmal daran, dass man sich verantwortlich fühlt—und man deswegen nicht loslassen und aufhören kann.

Die Demonstration verlief durch die Straße Mohamed Mahmoud, in der fast alle Kämpfe statt gefunden hatten. Heute steht dort am Ende eine Mauer, die die Demonstranten von der Obrigkeit und dem verhassten Innenministerium trennt. Hinter der Mauer stand die Armee, dahinter die Polizei.

Hinterbliebene stecken Blumen in die Mauer. Das Wort dort bedeutet „Fall“, so wie in: „Die Leute verlangen den Fall der Regierung.“ Als wäre das nicht genug, entschied nach einer Weile ein Haufen langweiliger, übereifriger Typen, die von Leuten in orangenen Warnwesten (schlechtes Zeichen) angeführt wurden, dass es besser wäre, alle an der Mauer zurück auf die Straße zu schicken. Ich weiß nicht, wer sie gefragt hatte, aber viele Leute waren deshalb ziemlich sauer.

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Dann benutzten sie ein langes Band, das ihnen half, eine Reihe zu bilden, während sie die Leute zurück drängten. Warum sind diese Diensteifrigen immer so gut vorbereitet? Andererseits scheinen die weniger Beflissenen innerhalb von fünf Minuten überall im Zentrum Kairos einen Molotowcocktail zünden zu können. Also ist das vielleicht ausgeglichen.

Viele Leute haben ihr Augenlicht durch Schrotkugeln verloren und es ist ganz normal, dass du auf dem Platz Leute triffst, die solche Pflaster über einem Auge tragen.

Der Typ, dessen Gesicht da aufgesprüht ist, heißt Alaa Abd el Fattah. Er ist ein Blogger, der mit einer ganz offensichtlich sehr fadenscheinigen Begründung hier in Untersuchungshaft gehalten wird. Ich frage mich, ob irgendjemand jemals das Gesicht von dem Typen von Hipster Runoff auf eine Wand sprühen wird.

Ein Polizist wurde dabei gefilmt, wie ihm ein Vorgesetzter augenscheinlich dazu gratulierte, dass er die Demonstranten so zielsicher in die Augen trifft. Die Revolutionäre entwarfen ein „Gesucht“-Plakat mit ihm und verteilten es in der ganzen Stadt.

Die Gemüter hier sind sehr erhitzt und der „Ich-schieße-dich-blind“-Polizist entschied sich dazu, sich lieber selbst zu stellen, als der Bürgerwehr gegenübertreten zu müssen. Jetzt reden die Leute darüber, diese Methode auch bei anderen Polizisten anzuwenden, die sie gefilmt haben.

Egal ob die Bruderschaft, die Armee oder sonst irgendjemand an der Macht ist: Die Polizei ist immer noch die Polizei—eine Polizei, die ihren Beruf in einem Polizeistaat erlernt hat. Für Kairos Revolutionäre ist es sehr wichtig, eine Lösung dafür zu finden. Wenn die Kämpfe auf den Straßen aufhören und die Gemeinschaft der Demonstranten auseinanderdriftet, wird dieser Marsch den Aktivisten helfen, damit umzugehen, was sie gesehen und verloren haben.

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