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zeitgeist

Deine Essgewohnheiten sind der Spiegel des Zeitgeists

Wir haben zwar die Wahl, von was wir uns ernähren. Unser Verlangen nach bestimmtem Essen ist aber oft von einem gesellschaftlichen Kollektiv angetrieben. Esstrendexperte und Autor des neuen Buchs The Tastemakers, David Sax, ist der Meinung, dass...

In amerikanischen Supermärkten wimmelt es heutzutage von handwerklich gebrautem Bier. Die Verkaufszahlen sind im Vergleich zum Vorjahr um 82% gestiegen und die Regale sind bis zum Rande mit Crying Lamb, Fisherman's Tongue und Monkey's Cough gefüllt. Sie stehen alle da, direkt neben dem Orangensirup und warten nur darauf, bis du sie einpackst und in Papis Volvo auf eine Spritztour mitnimmst. Das Gleiche gilt für Rote Bete, Kokosöl und Chia-Samen, die Supernahrung 2014, die sich zu happigen Preisen in unseren Supermärkten rapide verbreiten.

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Essen, genau wie Mode, ist an Trends gebunden. Und genau wie in der Modeindustrie, liegt die Wahl, was wir konsumieren, nicht allein in unseren Händen. Hunger, früher einmal ein physiologischer Zustand, spielt hinter gesellschaftlichen, kulturellen, geographischen und Marketing-Auslösern nur noch die zweite Geige. Darum geht es im neuen Buch The Tastemakers von David Sax, einem 34 Jahre alten Autor aus Toronto mit einer Schwäche für jüdische Delis.

„Wir haben durchaus die Wahl, wenn es darum geht, was wir essen, aber in Wirklichkeit ist unser Appetit etwas Kollektives. Wir wollen bestimmte Dinge ausprobieren, weil wir letztendlich den Zeitgeist essen wollen."

Sax' Buch, das sich in den USA schnell zu einem Bestseller entwickelte, ist eine umfassende Reise zu den Ursprüngen unseres kollektiven Geschmacks. Es gibt weder vor, unsere Art zu essen zu verändern, noch ist es eine Moralpredigt über unsere Glutamat-Abhängigkeit. Stattdessen erklärt es den Mangel an traditioneller, historischer Küche in der westlichen Welt, im Besonderen in Ländern mit starker Außenpolitik („und zwar Großbritannien und den USA"). Er behauptet, diese Länder wären Essensbewegungen schutzlos ausgesetzt.

Laut Sax werden wir von vier Auslösern von Essenstrends kontrolliert, in steigender Spannung: der Landwirtschaft (alles, was von Jahreszeit und Wetter abhängig ist, wie schwarzer Reis oder Getreide), Gesundheit (also ernährungsbedingte Essenstrends wie Grünkohl oder kaltgepresste Säfte, die von der Wissenschaft oder Klatschzeitungen, egal wie zweifelhaft, aufrechterhalten werden), von Köchen (dank Köchen wie Simon Rogan wird dein Steak mit Tulpe als Beilage serviert) und von Kultur (Filme und Fernsehen, deshalb haben wir alle so oft Spaghetti gegessen, nachdem wir Blau ist eine warme Farbe gesehen hatten).

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Einer der größten Essenstrends der letzten Zeit ist der Cupcake. Laut Sax' Recherchen sind die Verkaufszahlen zwischen 2008 und 2012 um 56% gestiegen. Warum? Laut Dr. Jean Retzinger, einer ehemaligen Bäckerin, heute Professorin für Medienwissenschaften an der Berkeley-Universität, waren „Cupcakes […] ein essbares, leicht verfügbares Symbol moderner Weiblichkeit." Sie will damit nicht andeuten, dass dies etwas Negatives sei, aber sie sagt, es wäre „unvermeidlich. Trends sind ein Nebenprodukt der Entwicklungsgeschichte—wir haben uns vom Jagen, was verfügbar ist, zur Wahl, was gejagt wird, entwickelt. In der heutigen Welt, die von sozialen Netzwerken dominiert wird, überrascht immer wieder, wie schnell Trends aufkommen und wieder verschwinden. Instagram und Twitter können Essenstrends blitzartig vorantreiben", sagt Sax.

Während Cupcakes mittlerweile schon seit einem Jahrzehnt existieren, hielt der Hype um Cronuts (einem zweifelhaften Phänomen, das letzten Mai in New York aufkam und eine frittierte Mischung aus Donut und Croissant ist) nicht einmal ein Jahr. Sax ist der Meinung, dass „soziale Netzwerke die Macht haben, die Kurzlebigkeit von Trends zu bestimmen. Cronuts hätten es ohne den Cupcake-Trend, den Vorläufer, nicht gegeben. Wenn es aber um Durchhaltevermögen geht, spielen die beiden nicht in derselben Liga. Solange soziale Netzwerke und Medien auf diese Weise funktionieren, wie sie es momentan tun, wird diese ,Fast Food'-Kultur nur noch schneller werden."

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Eine weitere Entwicklung der letzten Zeit ist laut Sax die „Mainstreamifizerung" der Gastronomie: ,,Es gibt Leute, die wahrliche Feinschmecker sind und darüber entsetzt sind, dass etwas so Reines, so durch die Massenkultur versaut werden konnte. Dann gibt es Leute, die gerne essen, was im Trend liegt, sich aber nicht die Mühe machen, darüber zu lesen. Aber im Endeffekt ist es egal, wer du bist und woher du kommst. Was du isst, ist Teil einer Bewegung. Es ist fast unmöglich, das zu vermeiden."

Grünkohl ist ein Paradebeispiel in den USA. Wenn du jemanden siehst, der Grünkohl ist, gehst du sofort davon aus, dass diese Person wohlhabend, etwas Besonderes oder hip ist. Ist dann weißer Zucker, das Essen der Armen, das schlimmste Übelder Soul-Cycling-praktizierendenoberen Mittelschicht des Westens?

Seit der Wirtschaftskrise wurden in Großbritannien Prioritäten neu gesetzt und der Fokus verschob sich hin zu Essen für die Seele, Pub-Essen und regionale Produkte. Man muss sich nur die Beliebtheit von Bieren aus Mikrobrauereien, Welsh Rarebit oder Streuselkuchen ansehen, die mittlerweile auch in nobleren Etablissements serviert werden. Wir können uns jetzt auch das Reisen wieder leisten, was den Wiederanstieg von asiatischem Essenstourismus erklärt—besonders in Vietnam und Korea.

Natürlich hat die Macht von Essenstrends auch ihre Schattenseite. Viele Trends sind genderabhängig. Frauen sind oft empfänglicher für Trends, die Gewichtsverlust versprechen, was wahrscheinlich auch der Grund ist, warum der „Keine Kohlenhydrate"-Trend immer noch nicht vorbei ist. Männer hingegen werden auch reichlich konditioniert, zum Beispiel mit den langsam angreifenden Protein- und Paleo-Diäten, die größere Muskelpakete versprechen und mit dem neu gestählten Körper—seien wir uns mal ehrlich—mehr Sex. Keiner davon ist aber ein ausgeglichener Lebensplan.

Was kommt als nächstes? „High End-Ramen-Nudeln, glaube ich," sagt Sax sofort. Eine schicke Variante von Pot Noodles? „Genau. Wir werden die asiatische Küche immer noch weiter aufgreifen und in Großbritannien gibt's ja schon erstklassige indische Küche. Außerdem Essige, alte Getreidesorten und schwarzer Reis. Das sind gesundheitlich und landwirtschaftlich bedingte Trends, die meines Erachtens nach boomen werden." Siehe da, die ersten Ramenbars eröffnen schon im Tempo von Bäckereien auf der St. Giles High Street in London—das ehemalige Zuhause ruhiger, unscheinbarerer Schwulencafés, die Café Latte mit viel Milchschaum in Dessertschüsseln servierten.

Ein anderer Koch meinte, sichtlich voller Ärger darüber, dass wir in nächster Zeit „viel von alternativen Proteinquellen wie Insekten, komischen Fische, Eichhörnchen und anderen invasiven Arten" hören werden: „Ich bin mir außerdem sicher, dass es diese komischen Gebäcke wie Cronuts und Waffagatos immer wieder geben wird, weil manche Leute das immer noch für ein cooles Konzept halten. Wir jungen Trendsetter vergessen manchmal, dass wir nicht der Mittelpunkt des Universums sind", sagt er.

Wenn Trends irgendetwas bedeuten, räumt Sax ein, wird dieser Innovationszyklus das extreme Ausmaß der Modewelt annehmen. In einem Wort, Normcore—ein Konzept, das letzten Frühling erfunden wurde und das einen nichtssagenden, konventionellen und unauffälligen Kleidungsstil beschreibt. Vergiss Craft Beer und Cocktails in Einweckgläsern. „Es ist schwierig, diese Unterscheidungen zu machen", sagt Sax, „aber ich denke, das Äquivalent wären Hipster, die Thunfischsandwiches essen."