Das Bild zeigt einen Screenshot aus dem Vernehmungsvideos des mutmaßlichen Mörders von Walter Lübcke, Stephan Ernst, der in diesem Video die Tat gesteht.
Screenshot: YouTube/Funk | bearbeitet von VICE
Politik

Dieses Video zeigt das Geständnis des mutmaßlichen Lübcke-Mörders

'STRG_F' hat Teile der Vernehmung von Stephan Ernst veröffentlicht, obwohl er noch nicht verurteilt ist. Ist das rechtlich und moralisch OK? Wir haben mit den Journalisten gesprochen.

Dieses Video macht betroffen. Stephan Ernst, ein mutmaßlicher Mörder, steht in rotem T-Shirt in einem Vernehmungsraum der Polizei, zwischen Schreibtischen und einer Spielecke, zeigt auf einen der Ermittler und formt mit der Hand eine Waffe. So soll es gewesen sein, sagt er, während er die Tat nachspielt, der er bezichtigt wird: den mutmaßlichen Mord an Walter Lübcke. Die Bilder wurden von dem jungen öffentlich-rechtlichen Digitalangebot funk veröffentlicht. In dem Video von STRG_F kann man Ausschnitte mehrerer Vernehmungsvideos sehen, in denen Stephan Ernst die Tat gesteht. Er sei am Abend des 1. Juni 2019 zum Haus der Familie Lübcke gegangen, habe den Zaun heruntergetreten und sei die Mauer hochgegangen, die Waffe in der Hand. "Der Tatentschluss war klar", bestätigt er auf Nachfrage des Polizisten. Zur Begründung sagt er: "Ich wollte, dass der Terror zu ihnen kommt." In einem zweiten Video zieht Ernst dieses Geständnis dann wieder zurück. Doch da ist man als Zuschauer längst überzeugt: Er war es.

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Seit einigen Wochen läuft in Frankfurt der Prozess um den Mord an Walter Lübcke. In der Nacht auf den 2. Juni 2019 wurde Lübcke, der für die CDU im hessischen Landtag saß und Präsident des Regierungsbezirkes Kassel war, auf seiner Terrasse erschossen. Walter Lübcke hatte sich für die Integration von Geflüchteten eingesetzt und seine Abneigung zu Pegida öffentlich gezeigt. Stephan Ernst gefiel das offensichtlich nicht. Nachdem er eine Veranstaltung besucht hatte, bei der Lübcke eine Rede hielt, sei er auf seinem "Schirm" gewesen. Er selbst rief Lübcke in dieser Veranstaltung zu: "Pfui! Verschwinde!" Jahre später dann der Mord. Ob es wirklich Ernst war, der schoss, ist aber noch nicht abschließend geklärt. Genau deshalb wirft das Video Fragen auf. Wir haben mit Nino Seidel und Julian Feldmann, den Reportern, die das Video veröffentlich haben, gesprochen.

Ist es überhaupt in Ordnung, ein solches Video vor einem rechtskräftigen Urteil zu veröffentlichen?

Die erste Frage lautet: Ist es sinnvoll, ein solches Video zu veröffentlichen, oder spielt man rechten Kreisen damit nur in die Hände? Von wem Seidel und Feldmann die Videos bekommen haben, sagen sie nicht. Das ist aus Quellenschutzgründen durchaus üblich. Die Echtheit des Videos ist auch nicht anzuzweifeln, das Video war während der öffentlichen Verhandlungen schon gezeigt worden – es ist Teil der Ermittlungsakten. Aber es ist eben ein polizeiliches Vernehmungsvideo, das für die Polizei und das Gericht gedacht ist, nicht per se für die Öffentlichkeit. Solange das Urteil nicht gefallen ist, sollte für die Öffentlichkeit gelten, dass Ernsts Schuld nicht bewiesen ist. Oder?

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Nino Seidel sagt dazu: "Wir sehen die Vernehmungsvideos als Dokumente der Zeitgeschichte an. Nachdem die Videos in der öffentlichen Hauptverhandlung im laufenden Prozess gegen Stephan Ernst und Markus H. vor dem Oberlandesgericht Frankfurt schon zu sehen waren, beeinflussen wir auch nicht die Verfahrensbeteiligten dadurch, dass wir jetzt Ausschnitte bei STRG_F zeigen."

Doch hinzu kommt, dass Videos, die Taten zeigen, einen Nachahmereffekt zur Folge haben können. Das hatte sich vor allem an dem Terroranschlag 2019 in Christchurch gezeigt. Der Täter gab in einem 74-seitigen Manifest an, der Amokläufer Breivik sei sein Vorbild gewesen. Das sei in diesem Fall aber anders, sagt Julian Feldmann: "Es handelt sich nicht um Tatvideos, wie etwa bei den Anschlägen von Christchurch und Halle, sondern um die Dokumentation von Befragungen durch die Polizei und einen Ermittlungsrichter." Dennoch: Statt der Opfer kommt der Täter zu Wort, was beim Betrachter durchaus Verständnis für den Täter zur Folge haben könnte.

Stefan Ernst sei selbst von Bildern eines Terroranschlags radikalisiert worden, sagt er nun in dem Vernehmungsvideo. Er habe immer und immer wieder die Bilder des Terroranschlags von Nizza 2016 im Kopf gehabt. Der islamistische Terroranschlag, der sich gegen Franzosen richtete, hatte bei ihm allerdings nicht Nachahmung, sondern den Wunsch nach Rache ausgelöst. Das gesteht Ernst in dem Vernehmungsvideo unter Tränen. Es scheint, als liefere er ausgerechnet in einem Video den Beweis dafür, dass die Macht der Bilder bei der Radikalisierung von Terroristen jeder Art eine Rolle spielt. Aber ist es deshalb auch falsch, seine Vernehmung zu veröffentlichen? Die Tränen eines offensichtlich gebrochenen Mannes können einen schließlich durchaus betroffen machen.

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Nino Seidel und Julian Feldmann sagen auf Nachfrage: Es war richtig. Denn, und darauf weisen sie auch schon in ihrem Video hin, "die Sequenzen sind in eine einordnende Veröffentlichung eingebettet". Und genau hier liegt der entscheidende Punkt: Nino Seidel und Julian Feldmann sind sich ihrer journalistischen Verantwortlichkeit bewusst. Sie haben das mehrstündige Videomaterial gesichtet, sortiert und journalistisch eingeordnet. Sie haben nicht einfach so ein Video ins Internet gestellt. Der Fall Walter Lübcke beschäftigt die beiden Journalisten schon lange, sie waren selbst bei Teilen der Verhandlungen anwesend.


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Und nun, da das Video in der Welt ist, bleibt die Frage, was wir daraus lernen können. Und schaut man sich das Video genau an, ist das eine ganze Menge.

Lässt sich an dem Video ablesen, wie gefährlich Rechtspopulismus wirklich für unsere Gesellschaft ist?

Stephan Ernst selbst hat eine Neonazi-Vergangenheit, war NPD-Mitglied. VICE hatte die rechtsextreme Kampagne im Netz gegen Lübcke rekonstruiert. Markus H., der mutmaßliche Mordhelfer von Stephan Ernst, hatte sich daran besonders aktiv beteiligt. In dem Vernehmungsvideo aber sagt Ernst nun, er habe sich eigentlich wieder auf seine Familie und seinen Job konzentrieren wollen. Es wären keine Neonazis gewesen, die ihn radikalisiert hätten, sondern vielmehr Gespräche mit Arbeitskollegen und "allen möglichen Leuten". Er sagt: "Dieses Thema, dieses Thema, sag ich mal, 'Überfremdung', dieses Thema 'Ausländerkriminalität', dieses Thema 'Deutschland ist nicht souverän'. Das ist immer da. Das ist immer da, auch bei den Arbeitskollegen." Der Tenor sei gewesen: "Merkel will dieses Land zerstören."

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Stephan Ernst ging offenbar gar nicht zurück in sein rechtsextremes Umfeld, es scheint, als hätte Ernst dies für seine Radikalisierung gar nicht mehr gebraucht. Vielmehr hielt Ernst sich in dieser Zeit unter anderem bei AfD-Treffen auf. Dieses rechtspopulistische Umfeld, Gespräche mit Arbeitskollegen und die Bilder anderer Terroranschläge ergaben offenbar ein ultragefährliches Potpourri in seinem Kopf. Die Bilder scheinen ihn überfordert zu haben, das Umfeld wiederum schien seine Wut zu bestätigen, und Walter Lübcke war sein Sündenbock. Er hätte das Gefühl gehabt, "man müsse doch da mal was tun", sagt er in dem Vernehmungsvideo – und er tat, als er im Juni 2019 schließlich mit einer Waffe den Garten des CDU-Mannes Lübcke betrat. Ist Stephan Ernst damit ein radikaler und brutaler Einzelfall? Oder lässt sich an ihm ablesen, wie gefährlich Rechtspopulismus für unsere ganze Gesellschaft ist?

Nino Seidel und Julian Feldmann sagen, das Verfahren gegen Stephan Ernst sei sicherlich ein spezieller Fall, Rückschlüsse auf die Gesellschaft ziehen sie trotzdem: "Die Konstellation, dass ein langjährig aktiver Neonazi zwischenzeitlich nicht mehr politisch beziehungsweise öffentlich mit Straftaten auffällt und Jahre später mutmaßlich eine schwere Gewalttat begeht, ist jedoch nicht ganz neu. Eine in Grundzügen ähnliche Täter-Biografie fand sich etwa bei dem Mordanschlag auf Henriette Reker 2015. Die Radikalisierung im bürgerlichen und politisch eher rechtspopulistischen Umfeld lässt aus unserer Sicht Rückschlüsse auf die Gefährlichkeit rechter und rechtspopulistischer Einstellungen zu. Die Gefährlichkeit besteht offenbar vor allem darin, dass die Grenzen des Sagbaren erweitert wurden."

Am Dienstag sagte Walter Lübckes Sohn Jan-Hendrik Lübcke vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main aus. Weinend sagte er: "Wir werden damit niemals fertig werden, was unserem Vater angetan wurde." Im Saal saß auch der mutmaßliche Täter Stephan Ernst, reglos und blass. Er wird nach Angaben seines Verteidigers am 5. August nochmals gehört werden. Ob er den Mord begangen hat oder nicht, wird sich erst am Ende des Prozesses zeigen. Dass er dazu bereit war, zu morden, hat er aber bereits bewiesen.

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