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Selfies im Club—das muss aufhören!

Vielleicht wäre es nicht so schlimm, wenn alle ein bisschen mehr High wären—aber selbst das geht nicht mehr gefahrlos.

Klare Ansage gleich nach dem Einlass am Berghain: Fotografien (und Selfies) unerwünscht.
Foto: Ausschnitt aus Lost And Sound - Berlin, Techno and the Easyjet Set von Tobias Rapp (© Muting The Noise | Bestellen)

Es gab Zeiten, da existierte Clubfotografie lediglich, um malmende Kiefer in Langzeitbelichtung festzuhalten. Sie fing die brodelnde Ekstase von Partys ein und versetzte boulevardmedienaffine Eltern im ganzen Land in Angst und Schrecken. Das, womit wir es heute zu tun haben, ist eine ekelerregende Mischung aus modernem Supernarzissmus und Vergötterung des DJs. Nichts von Beidem ist Grund zur Freude.

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Die Selfiekultur, so sehr dir das ZEITmagazin oder Jezebel auch weismachen wollen, dass sie die Antwort des Internetzeitalters auf die Bürgerrechtsbewegung darstelle, ist einfach vollkommen idiotisch. Die Vorstellung, eine selbstgemachte Frontalaufnahme sei nicht mehr als eine Entschuldigung, dein Ego zu füttern und allen mitzuteilen, wie zufrieden du mit deinem Aussehen bist, ist falsch. Es ist private Selbstgefälligkeit—bis es dann hochgeladen wird.

Selfie im Berghain, Berlin:

Genau genommen machst du nicht einmal ein Foto von deinem Gesicht. Nein, du fängst eine verzerrte, komprimierte Version davon ein: die Lippen geschürzt, die Augenlieder gesenkt, den Kopf in Pose gebracht. Alleine der Gedanke daran, wie Leute diese Fotos machen und sie dann betrachten—ihre eigenen Gesichter kritisch begutachtend wie ein Art Director der Vogue—erfüllt mich mit kaltem Grauen. Und das beschränkt sich nicht nur auf das eigene Schlafzimmer oder eine Zugfahrt. Unzählige Male habe ich Menschen beobachtet, die neben dem DJ-Pult standen, ihren Arm wie zu einem Smartphone-‚Sieg Heil' erhoben. Sie möchten sicherstellen, dass alle wissen, a) wie gut sie aussehen und b) wie viel Spaß sie gerade haben.

Aber warum?

Es scheint ganz so, als ob das Hirn mit jedem ‚Like' auf Instagram die gleichen Neurotransmitter ausschüttet, wie bei dem Gewinn einer Runde Black Jack in Las Vegas. Klar, es gibt auch Clubs, in denen noch viel mehr fotografiert wird. Aber in denen geht es weniger um die Musik und die Stimmung, sondern mehr darum ein ‚prolliges Arschloch' zu sein. Genau jene Art von Club, die man auf sogenannten ‚Partymeilen' jeder größeren deutschen Stadt findet. Die Clubs, in denen sich Männer mit riesigen Armen und zu kleinen, gefälschten Versace T-Shirts tummeln. Sie tragen Sonnenbrillen und buchen einen Tisch in der V.I.P.-Ecke, um mal richtig abzuswaggen.

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Selfie im Rote Sonne, München:

Es ist eine unansehnliche Darstellung spießiger Wohlstandsvorstellungen, die in Form einer mit Wunderkerzen dekorierten Magnumflasche billigen Sekts ihren Ausdruck findet.

Sie stehen dort und posieren mit einem Gläschen in der Hand und starren direkt in die Linse. Das ganze Drumherum verkommt zur Nebensache, bis endlich die Admins der Club-Facebookseite ein Fotoalbum erstellen und die ganze Welt dort sehen kann, was für einen geilen Abend sie hatten—denk' nur an Portale wie Nachtagenten. Bis zu einem gewissen Punkt kann man diesen Menschen gar nicht böse sein. Sie sind einfach unsicher. Sie wollen—nein, sie müssen—Menschen wissen lassen, dass sie attraktiv und wohlhabend sind. Das ist eine dieser menschlichen Schwächen, die wir wohl alle nachvollziehen können. Es ist aber noch etwas anderes zu einem Trend geworden, das Teil eines größeren Problems ist.

Genauso, wie du bei jedem größeren Konzert oder Festival Menschen mit einem Presseausweis im Bühnengraben rumrennen siehst, die nur darauf warten, dass der Typ von Muse—oder welcher Band auch immer—dieses ‚Oooosh'-Gesicht macht, damit sie „die Energie des Auftritts" einfangen können, gibt es jetzt ambitioniertere Hobbyfotografen, die mit ihren Smartphonekameras Fotos von den Menschen hinter den Plattentellern machen. Das Ganze macht aber überhaupt keinen Sinn, da die mit Abstand meiste ‚Energie' eines ernstzunehmenden DJs immer noch von dem Aufbau und der Dynamik seines Sets ausgeht—und nicht von seinem Äußeren.

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Selfie im EGO, Hamburg:

Dies ist auch Teil des größeren Problems, dass die DJs das Zentrum der ganzen Party geworden sind. Die Raver stehen nun da und glotzen sie an, als ob sie von ihnen besessen wären oder sie vögeln wollen—oder beides. Nach gaffen spielt tanzen in den Clubs inzwischen die zweite Geige.

Wenn du dir alte Aufnahmen von zugeknallten Ravern anschaust, siehst du sie nur bei einer Tätigkeit: Tanzen wie die Wahnsinnigen. Sie tanzen und tanzen für Stunden über Stunden. Die Augen verdreht, ihre Hände bauen Kästchen in der Luft, bis ihre Körperflüssigkeiten erschöpft sind und sie sich wieder neu aufladen müssen. Sie nahmen die Kameras gar nicht richtig war. Heutzutage sind Kameras so etwas wie die Katzenminze der Clubkultur: Jeder will sein verschwitztes Antlitz in einem sozialen Netzwerk verewigt sehen—jeder will von Fremden geliebt werden.

Selfie im Heinz Gaul, Köln:

Und es wird nur noch schlimmer. Der kollektive Narzissmus wird eines Tages seinen traurigen Höhepunkt erreichen, wenn eine Party nur noch einer gigantischen Fotokabine gleicht und die Menschen an den Schultern befestigte Handyhalter tragen, um leichter Selfies machen zu können. Vielleicht wäre die Sache nicht so schlimm, wenn alle ein bisschen mehr High wären—aber sogar das kann man ja heutzutage nicht mehr tun, ohne Gefahr zu laufen, sich auf irgendwelchen YouTube-Videos zum Gespött zu machen. Bis Drogen legal, sicher und gesellschaftlich akzeptiert sind, müssen wir wohl lernen, unserem sinnlosen und deprimierenden Bedürfnis nach physischer Bestätigung zu widerstehen. Im Dunkeln sollte das eigentlich auch kein großes Problem sein.

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Selfie im Robert Johnson, Offenbach:

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