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Eine Aktivistin erzählt, wie es auf Lesbos wirklich zugeht

„Das, was ich gesehen und erlebt habe, ist für mich das Zeichen eines implodierenden Europas, das Menschen in Not wie Vieh behandelt."
Fotos mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Das erste, das darauf hinweist, was hier passiert, ist ein schwarzes Gummiboot—so eins, wie man es immer in den Nachrichten sieht. Es ist leer, bis auf eine kleine Babyflasche, die darin liegt, und es schaukelt auf dem Wasser, im Hafen von Lesbos. Wir dagegen sind bequem mit Auto und Fähre hier angekommen. Der Himmel ist grau und das Meer voll mit peitschenden Wellen, weil am Hafen ein Sturm geht.

Wir sitzen in einem Café, im Hintergrund läuft Techno und ich treffe einige Mitglieder der Gruppe BeCause—die Leute, mit denen ich meine nächsten Tage verbringen werde. Schon in Wien haben wir uns ausgetauscht, organisiert, herumgeschrieben und geplant. Ich fühle mich trotzdem so unvorbereitet wie noch nie. Wir trinken griechischen Kaffee, der ziemlich genau wie türkischer schmeckt.

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Ich bin angespannt, müde und nervös. Wir sind so lange gefahren und waren so oft an verschiedensten Grenzen unterwegs. Als im vergangenen Jahr die Situation für Refugees in Ungarn immer schwieriger wurde, war unsere Gruppe Tee und Wärme nach Györ und Hegyeshalom vor Ort, um in der Nacht und bei Regen schwache Personen sowie Kinder und Schwangere mit dem Auto an die ungarische Grenze gefahren. Danach haben wir in Wien Teebeutel, Zucker, Küchenequipment sowie Gasflaschen aufgetrieben.

Es folgten Kroatien, Serbien, Slowenien und Spielfeld. Überall hatten wir ein ähnliches Programm: Teekochen, Essen ausgeben, Familien zusammenführen, erste Hilfe leisten. Dass wir einmal wirklich hier sein würden, hätten wir vor kurzem noch nicht für möglich gehalten. Lange Zeit war der Plan, auch direkt hier auf Lesbos zu helfen, nur ein theoretischer; wie ein trauriger Running Gag ohne Pointe. Jetzt haben wir uns mit Tee und Wärme einfach der Gruppe BeCause angeschlossen—und sind wirklich hier.

Vom Café fahren wir zum größten Camp auf der Insel: Moria. Das erste, was ich sehe, ist eine kleine Zeltstadt—weiße Zelte erheben sich auf einem niedrigen Hügel, dazwischen bunte, kleinere Campingzelte. Links davon mehrere weiße Gebäude, die von Stacheldraht umzäunt werden—das eigentliche Camp, oder „the inside", wie es hier genannt wird. Viele Männer, einige Frauen und wenige Kinder stehen herum oder schlendern die kleinen Wege zwischen den Zelten entlang. Dieses Bild kenne ich ziemlich gut. Es ist dasselbe an vielen Außenposten von Europa. Ich kenne die müden Gesichter, die verstörten Blicke, die abwesenden Kinderaugen, aber auch Gelächter, wachsame Konzentration, Fußballspielen, Zeitvertreib.

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Mein Freund mit der knallgrünen Schlumpfmütze ist schon seit ein paar Tagen hier—er arbeitet im Kinderzelt, bastelt mit den Kleinen an einem großen Planetensystem aus Pappmaché. Ich helfe ihm und klebe Zeitungspapier mit glitschigem Kleister auf einen Luftballon. Neben dem Kinderzelt gibt es auf dem Olivenhain, wie der Bereich außerhalb des eigentlichen Registrierungscamps genannt wird, ein großes Teezelt—hier werden Chai, Obst und Kekse ausgegeben, es gibt ein Kleidungszelt, eine Medizinstation und ein großes Küchenzelt, in dem von der britischen Gruppe The Bristol Skipchen dreimal am Tag warmes Essen serviert wird. Das Essen wird zugeliefert und aufgewärmt – wie ich erfahre, ist kochen hier nicht erlaubt.

Better days for moria heißt die Gruppe, die offiziell seit dem 29. November 2015 in Moria aktiv ist und diese Strukturen mit erschaffen hat. Zusätzlich gibt es ein nicht konfessionsgebundenes Bet-Zelt, saubere Toiletten und ein Informationszelt für neuankommende Freiwillige.

Das eigentliche Registrierungscamp ist fast vollständig umzäunt und besteht aus zwei großen Registrierungsstellen, die nochmals mit Stacheldrahtzaun umgeben sind. Ein ehemaliger Militärstützpunkt. Darin befindet sich eine Container-Ansammlung für Familien, die beheizt wird und teilweise Stockbetten beinhaltet.

Auf dem ganzen Camp verteilt sind zahlreiche Schlafhütten aufgestellt, sogenannte RHUs, Refugee Housing Units, die gemeinsam von der UNHCR und IKEA-DesignerInnen entwickelt wurden und in denen jeweils 15 bis 20 Leute Platz finden. Am unteren Ende des Camps gibt es eine weitere große Schlafhalle. In dem Bereich arbeiten viele NGOs, unter anderem Ärzte ohne Grenzen, Samaritan's Purse und UNHCR. In deren Hütte ist auch unsere Teestation plus Lager untergebracht.

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Drei Wochen und viel Verhandlungsarbeit hat es unserer Gruppe gekostet, aus einer Teestation am Boden draußen ein fixes Teezelt zu machen—aber dank UNCHR dürfen wir nun einen Teil ihrer kleinen Hütte verwenden. Ich komme direkt am Tag des „Umzugs" an. Die anderen kochen noch draußen, mit zwei Gaskochern; 85 Liter umfasst der größte Topf, 100 Teebeutel und 1,5 Kilogramm Zucker kommen hinein. Wir schenken an alle so viel Tee aus, wie die Leute wollen.

Wie oft habe ich schon Tee ausgeschenkt, wie oft einer vor Kälte zitternden Person einen warmen Becher in die Hand gedrückt, wie oft ein Lächeln ausgetauscht, einen Blick, ein „You're welcome here".

Insgesamt sind letztes Jahr laut UNHCR 851.319 Menschen in Griechenland angekommen—diverse Inseln eingeschlossen. Die Flüchtlinge, die es bis nach Lesbos schaffen, kommen meist im Norden an; die kürzeste Distanz zwischen der Türkei und Lesbos beträgt nur 5,5 km. Trotzdem kommt es auf der täuschend kurzen Strecke regelmäßig zu Tragödien. Die UNHCR berechnet außerdem 3771 ertrunkene Personen im Mittelmeer im Jahr 2015. Das sind 72,5 Personen pro Woche. Sie weisen jedoch auch darauf hin, dass die Dunkelziffer höher sein könnte.

Die Bootsrettung erfolgt hier durch verschiedenste Freiwilligengruppen, die Flüchtlinge dann von UNHCR-Bussen abgeholt und in verschiedene Camps gebracht. Oder aber die Boote werden von der griechischen Küstenwache oder von FRONTEX-Booten empfangen und die Flüchtlinge anschließend registriert. Je nach Nationalität gibt es zwei Registrierungsstellen—die meisten Leute warten hier tagelang. Registriert zu werden bedeutet jedoch nur, ein Visum für Griechenland zur offiziellen Weiterreise zu erhalten und hat nichts mit dem Antrag auf Asyl zu tun. Die griechische Polizei registriert alle, die ihre Dokumente noch dabei haben und nicht von Schleppern oder anderen Polizisten beklaut wurden.

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Flüchtende aus Marokko und Algerien hingegen werden nicht registriert—zumindest offiziell. Sie müssen auf der Insel bleiben oder in die Türkei zurückreisen, weshalb die NoBorderKitchen direkt am Strand ein Camp für illegalisierte MarokkanerInnen und AlgerierInnen aufgebaut hat. Wir unterstützen sie mit Teebechern und Wärmedecken. Vor Monaten war es in Moria noch schlimmer, wird uns erzählt: Wegen des besseren Wetters kamen täglich fast 100 Boote an, das bedeutet bis zu 5000 Menschen, manchmal mehr. Das ganze Camp war voll, Essen gab es kaum. Es wurde gedrängt, geschubst, die Polizei hat gewaltvoll durchgegriffen, Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt.

Immer wieder kommen Leute eingehüllt in dicke, graue UNHCR-Decken, mit kleinen Kindern am Arm, und fragen bei unserer Teestation, wie und wo sie die Nacht verbringen sollen. Wir leuchten mit kleinen Stirnlämpchen in alle Häuschen rein und ragen die darin liegenden Leute, ob dort noch mehr Leute Platz haben. Es ist Abend, es ist kalt. Bitte, können hier noch welche schlafen? „Jaja, hier können noch welche schlafen", sagt ein Mann, „aber keine Marokkaner!" Wir notieren auch das auf unserem weißen, zerknitterten Blatt Papier. House 37 – single men – no morrocans.

Familien dürfen wir in die Familienunterkünfte bringen. Zusätzlich stellt die Caritas begrenzte Schlafplätze in einem Hotel zur Verfügung. Eine große Gruppe aus etwa 10 Leuten kommt auf uns zu und fragt uns ebenfalls, wo sie schlafen sollen. Wir hören uns auch für sie im Camp um und geben der Gruppe Chai für die Wartezeit. Schließlich finden wir eine Hütte. Hinter einer kleinen Plastiktür liegt nur eine grüne Plane auf dem Boden, die von Schuhabdrücken verschmutzt ist. Eine Frau blickt mich enttäuscht an. Ich sage: „I'm sorry, that's everything we have", und zucke hilflos mit den Schultern. Ich schäme mich dafür, dass sie die Nacht dort verbringen müssen. Sie antwortet „It's OK", obwohl wir beide wissen, dass es das nicht ist.

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Kurz darauf kommt schon die nächste Gruppe zu unserem Teezelt und sucht einen Schlafplatz. Ich verständige mich mit ihnen auf Spanisch und erfahre, dass zwei der Frauen vor der Bootsüberfahrt auf der türkischen Seite fast vergewaltigt wurden. Eine der Frauen erzählt: „Danach bin ich einfach ins Boot gesprungen, ich wollte nur vom Festland und diesen Männern weg. Unsere Schlepper haben uns im Boot zuerst alle Sachen abgenommen—und haben dann das Boot verlassen, kurz nachdem wir losgefahren sind." Das Einzige, was sie noch besitzt, ist ein weißes Smartphone. Ich habe Tränen in den Augen und verabschiede mich. Sie bedankt sich für meine Hilfe.

Am Abend beginnt es zu regnen. Wir verteilen Regenponchos an die neu ankommenden Familien mit kleinen Kinder am Arm, durchnässt. Sieben NGO-MitarbeiterInnen warten mit einem Stapel Decken, Schlafsäcken und Kleidungsvorräten in einem warmen Zelt, bis sich jemand zu ihnen verirrt—es gibt draußen nämlich keinerlei Schild, das darauf hinweist. Es kommen viele Leute zu uns, die Hunger haben. Der Foodtruck, der von der Regierung bestellt wurde und zweimal täglich Essen liefert, ist seit zwei Tagen nicht gekommen. Außerhalb des Camps gibt es das selbstorganisierte, gut funktionierende Essenszelt, doch bei dem Regen ist es schwierig, die Leute dorthin zu lotsen.

Andere Freiwillige ergreifen die Initiative, leeren das Reisgericht von dem Essenszelt in ein großes, blaues Fass und verteilen das Essen in den Hütten. Es regnet immer stärker. Niemand ist zu sehen, die NGOs haben sich in ihre warmen Hütten vergraben. Ich stehe draußen und versuche, Leute unterzubringen, die immer noch keine Hütten haben, immer wieder kommen neue Leute an.

Ich verzweifle hier in diesem grauen, dreckigen Loch. Am liebsten würde ich das alles hier überflüssig machen. Es fehlt an allem, vor allem jedoch an Information für die Flüchtlinge. Wir reden oft darüber: Mit unserer Arbeit unterstützen wir nicht nur die Hilfsbedürftigen, sondern auch den ganzen Apparat Moria—also auch das Registrierungssystem und die menschenverachtenden Strukturen. Doch ohne unsere Arbeit wäre es noch schlimmer.

Es ist Symptombekämpfung, die wir hier betreiben, wie Zuckerguss auf einem giftigen Muffin—mit ein bisschen Tee, der die Welt in keiner Weise grundlegend verändert. Aber vielleicht kann er sie den Menschen, die hier Hilfe suchen, für ein paar Sekunden erträglicher machen. Ich habe keine Lust mehr auf einfache Lösungen, auf billiges Gelaber, auf Vereinfachungen und Homogenisierungen: Weder sind alle Flüchtlinge liebe Menschen, noch alle PolizistInnen böse und gewalttätig, weder alle NGOs untätig, noch alle Freiwilligen hilfreich.

Und trotzdem ist das, was ich gesehen und erlebt habe, für mich das Zeichen eines implodierenden Europas, das Menschen in Not wie Vieh behandelt—das wegschaut und in den Zuständen in den Flüchtlingscamps noch immer keine humanitäre Katastrophe erkennt.

Wenn ihr mit Spenden helfen wollt, könnt ihr diese zum Beispiel an Drop in the Ocean richten, eine norwegische NGO, die auch die Boote im Norden von Lesbos empfängt. Better Days for Moria kümmert sich um Essen und warme Kleidung vor dem Camp.