Der "Polenbus" war nicht meine Idee. Meine gute Freundin M. hat mir ein Foto vom Werbeplakat geschickt. Das klebte irgendwo in Marzahn an der Wand einer unsanierten grau-roten Neubauplattensiedlung. Ich weiß nicht, was sie dort überhaupt wollte, aber dass es überhaupt noch unsanierte Platten in Marzahn gibt, hat mich beeindruckt. Mittlerweile gibt es auch in Marzahn Bioburgerläden, in denen Kunststudenten Ausstellungen machen. Und Kinder aus den Platten tragen Fahrradhelme.
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Ich bin selbst hier großgeworden, allerdings in einem Luxusteil von Marzahn—einer von den Nazis erbauten Doppelhaus-Siedlung aus den 30er Jahren. Jedenfalls habe ich sofort zugesagt, als sie mich fragte, ob ich nach Polen mitfahren will. Ich hatte Lust auf IKEA-Tüten vollgestopft mit gefälschten Markenklamotten, Pharmaka, an die ich in Deutschland nicht ohne Rezept rankomme, und vor allem: eine trashige Unterhaltungsfahrt.
8:09 Uhr: Marzahn – Ghetto war gestern
"Shuttle-Bus zum Polenmarkt" steht drauf und dann erfährt man noch, dass er täglich um 9, 12 und 15 Uhr direkt von "hier" für 5 Euro pro Strecke losfährt. Und, dass es eine Facebook-Seite gibt, auf der sich tatsächlich schon über 10.0000 Leute eingecheckt haben.Ein paar Omis wechseln hastig die Straßenseite hin zur Bushaltestelle, als ob es etwas zu verpassen gäbe. Wir kaufen uns die Tickets: Abreißmarken für Hin- und Rückfahrt. Alle Sitze sind schon belegt, wir müssen einen der 21 Stehplätze einnehmen.Um 08:57 Uhr, drei Minuten zu früh und mit mindestens 15 Stehplatzgästen an Bord, rollt der Bus los. Der Marzahner Plattenbau grenzt direkt ans bäuerliche Land. Grünes Flachland. Hier und dort ein Hellweg-Baumarkt oder ein Hofer. Aus den Lautsprechern tönt Rihannas "Diamonds". Schon komme ich mit einer Mutter mit Polyesterklamotten und deren zwei Töchtern ins Gespräch. Die Große hat den Ausflug zum Polenmarkt angeregt. Was sie dort suchen? "Zigaretten", sagt sie. "Und so als Ausflug, sind ja gerade Ferien."
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10:09 Uhr: Getrocknete Rinderohren für den Hundedarm
Marktstände füllen ein backsteinernes Fabrikgelände und schlängeln sich drumherum. Es ist eine alte Papierfabrik der deutschen Firma Waldhof, die später Zewa Wisch und Weg herausgebracht hat. Erbaut Ende der 30er Jahre. Das ruinöse Gebäudeareal gibt dem Marktgeschehen etwas Postapokalyptisches. M. und ich schlendern los.Als Erstes essen wir ein paar riesige Eclair und Spritzkuchen. Zahlen dürfen wir in Euro. Auch sonst ist hier alles auf die Shopper aus dem Nachbarland abgestimmt. Werbetafeln auf Deutsch weisen uns den Weg: Möbel, Friseursalon, Gardinenhaus, Goldschmiedewerkstatt, Erdbeerbecher und natürlich Zigaretten. Später werden wir erfahren, dass der Markt von einem Deutschen geführt wird.
Wir machen vor einer Auslage getrockneter Tierkörperteile halt. Metallkörbe voller Rinderohren und Hühnerfüßen. Ein energischer Käufer klärt mich auf: "Das sind Delikatessen für meinen Hund. 800 Gramm Hühnerfüße bekomme ich hier für 5 statt 15 Euro. Und die Ohren sind gut für die Verdauung. Das Fell reinigt den Hundedarm von Bakterien."
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11:37 Uhr Schnäppchen-Alarm – 9-Millimeter-Revolver 45% billiger als in Deutschland
Dann stoßen ein paar halbstarke Jungs dazu. Sie sehen mich auf den Revolver starren und spotten: "Dafür brauchst du aber einen Waffenschein!" Sie schlagen zu: Klappmesser für 8 Euro. Schlagstock für 7 Euro. Sie erzählen, dass sie mit dem Fahrrad von Berlin nach Polen gefahren sind und hier nur einen Abstecher machen. Ich will wissen, wozu sie Schlagstock und Klappmesser brauchen, aber da fragen sie mich schon lachend, ob ich für die Polizei arbeite. Ich lache hastig mit.Als ich meiner Freundin M. über die Messerkäufer berichte, wiegelt sie ab. M. hat sich in ihrer Diplomarbeit mit Waffen beschäftigt und berichtet mir von ihren Erfahrungen auf dem Schießstand: "Weißt du, was eine Waffe in der Hand mit einem macht? Da bekommt man ein seltsames Gefühl von Macht. Beängstigend ist der Moment kurz vorm Abdrücken. Wahrscheinlich ist das bei den Jungs mit den Messern genauso. Das sind Machtspiele. Die haben vielleicht sonst nicht so viel Verantwortung in ihrem Leben."
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13:23 Uhr: Lust am Leben – mit Cialis und Ketamin
Die Klamottenstände sind unaufregend. Gefälschte Markenware gibt es hier kaum, nur ein paar Michael-Kors-Taschen. Die Marke ist wohl bei den Markenwächtern noch nicht bekannt. Ich komme auf die Idee, nach dem Potenzmittel Cialis und nach Ketamin zu suchen, aber der Zigaretten-Verkäufer winkt ab: "Wir haben Kartuschen für E-Zigaretten. Was Illegales verkaufen wir nicht. Probier es mal in der Apotheke." Dort begrüßt mich ein junge Polin um die 20 mit großen Augen und blauem Lidschatten. Ich frage sie nach dem Potenzmittel. Sie lächelt, tippt im Computer, schüttelt den Kopf: "Nix mehr da." Ich drehe mich um und bringe die Frage nach Ketamin nicht über die Zunge. Dieser Markt ist eher für Zigaretten-Abhängige und Omas gedacht, nicht für illegale Drogen und Waffen.
Ich frage mich langsam, was ich auf dem Polenmarkt überhaupt suche. Hundefutter und Zigaretten brauche ich nicht. In der Hoffnung dass doch etwas Spannendes passiert, schnacke ich einen sehr jungen Polen an, der pinke, neongelbe und silberne Tuning-Radkappen verkauft. Der Stand lockt außerdem mit Sportautobezügen. Und einer Wand voller Briefkästen mit gelben Posthörnern. Was sind die Verkaufsschlager? "Die Radkappen gehen auf jeden Fall. Die Leute kommen sogar aus den Niederlanden oder Luxemburg. Das ist dann deren Jahrestrip zum Polenmarkt." Und wo sind die ganzen Markenimitate und Drogen? "Der Markt ist in einer ständigen Evolution. Früher gab es noch Fakes von Nikes und Adidas. Heute gibts hier nichts Illegales mehr. Trotzdem wächst der Markt immer weiter." Pavel erzählt, dass seine Eltern den Stand seit 20 Jahren betreiben und er hier arbeitet, um für die Uni zu sparen. Google Maps fand er schon immer klasse und deshalb will er Geografie und IT studieren. Er wirkt so ausgeglichen, bodenständig und im Reinen mit der Welt—das macht mich ein wenig neidisch.
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14:45 Uhr: Panik
16:42 Uhr: Abfahrt – warum jeder sein eigenes Opfer ist
Am Ende steht fest: Polen ist schon lange kein Ort der Rechtlosigkeit mehr. Ich wollte eine trashige Geschichte über das Europa der einfachen Leute schreiben. Über eine Busfahrt von einem Ghetto zum anderen. Und stellte fest, dass beide keine Ghettos mehr sind.