Im Gespräch mit der Pariserin, die gerade durch Syrien und den Irak gereist ist

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Syrien

Im Gespräch mit der Pariserin, die gerade durch Syrien und den Irak gereist ist

"Nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wohin er geht.​"

Syrien und Irak gehören momentan zu den wohl unbeliebtesten Reisedestinationen der Welt. Hunderttausende Menschen flüchteten aus dieser krisengebeutelten Region, um der Verfolgung und dem Terror, der Versorgungsknappheit und dem Wahnsinn eines undurchschaubaren Krieges zu entkommen. Doch es gibt auch einige wenige Leute, die sich entgegen dem gesunden Menschenverstand und allen Überlebensinstinkten zum Trotz dafür entschieden haben, in das Auge dieses zerstörerischen Sturms zu reisen. Eine davon ist Lara-Scarlett Gervais, eine 30-jährige Abenteurerin aus Paris. Die junge Frau brach vor einigen Jahren ihr Archäologiestudium an der renommierten Universität Sorbonne ab, um die Welt auf eigene Faust archäologisch zu erkunden. Seither hat Gervais über 50 Länder bereist – die meisten davon ohne Begleitung. Letztes Jahr verbrachte die Reisefanatikerin sechs Monate in Syrien und im Irak, wo sie bei lokalen Archäologen lebte, um die Zerstörung des kulturellen Erbes von Palmyra (Syrien) und Nimrud (Irak) zu dokumentieren.

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Während es den irakischen Regierungstruppen im November 2016 gelang, Nimrud von der IS-Besetzung zu befreien, hat die sunnitische Terrormiliz im Dezember Palmyra wieder unter ihre Kontrolle gebracht – nachdem sie im März 2016 von syrischen Regierungstruppen zwischenzeitlich vertrieben wurde.
Seit Anfang Jahr befindet sich Gervais wieder im behüteten Paris, von wo aus sie bereits ihre nächste Reise plant. Ich wollte von der jungen Frau wissen, wie es heute um das kulturelle Erbe der ältesten Zivilisationen der Menschheit steht, welche Geschichten ihr die Leute vor Ort erzählt haben und welche Lektion sie aus ihren Erfahrungen gelernt hat:

VICE: Du bist soeben aus zwei der wohl gefährlichsten Ländern der Welt – Syrien und Irak – zurückgekehrt. Bist du verrückt?
Lara-Scarlett Gervais: Du bist nicht der erste, der diese Vermutung hat. Die meisten meiner Freunde sowie viele der Menschen, die ich auf meiner Reise getroffen habe, teilen diese Einschätzung. Andere finden, ich sei mutig. Dabei bin ich weder mutig noch verrückt. Ich wollte bloss den Alltag der Menschen in Syrien und im Irak miterleben. Zudem interessiere ich mich leidenschaftlich für Archäologie und Ethnologie.

Worauf ist deine Leidenschaft für Archäologie zurückzuführen?
Für mich ist die Archäologie ein Schlüssel zum Verständnis unserer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Da sich im Irak und in Syrien einige der bedeutendsten archäologischen Stätten dieser Welt befinden, träumte ich schon länger von einer Reise in diese Länder. Nur wer weiss, woher er kommt, weiss, wohin er geht.

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Wie ist aus dem Traum Wirklichkeit geworden?
Ich bereiste gerade den Norden Irans, als mir ein Freund im März 2016 anbot, ihm bei einem Dokumentarfilm über ein Flüchtlingscamp in Erbil, Irak zu helfen. Ich willigte ein, verzichtete auf meinen Rückflug von Jerewan nach Paris und überquerte die iranisch-irakische Grenze. In einem Sammeltaxi von Sulaimaniyya nach Erbil traf ich dann auf einen Syrer aus Damaskus, der mir von seiner bevorstehenden Hochzeit in seiner Heimatstadt erzählte. Ich erklärte ihm, dass ich schon lange nach Syrien wollte. Er reagierte sehr erstaunt und meinte, dass dies viel zu gefährlich für mich sei. Ich sagte ihm, dass wenn er dort heiraten könne, ich doch zumindest dorthin reisen könnte. So kam es, dass ich mir in den Kopf gesetzt hatte, nach meiner Zeit in Erbil nach Damaskus zu reisen.

Wie hat deine Familie auf deine Reisepläne reagiert?
Aus Rücksicht auf den Herzkreislauf meiner Mutter habe ich zuerst niemandem etwas von meinen Plänen erzählt. Meine Familie liess ich im Glauben, dass ich im Libanon sei. Erst nach zwei Wochen informierte ich meine Eltern. Meine Mutter war sehr wütend und besorgt, beruhigte sich aber nach einer Weile. Es war ja nicht meine erste Reise. Ich bin bereits per Anhalter durch Zentralasien und den Balkan gereist.

Du hast lokale Archäologen erst in Palmyra und später in Nimrud bei der Evakuierung der Relikte begleitet, und die Zerstörung der Kulturstätten durch den IS dokumentiert. Wie sah ein normaler Arbeitstag aus?
In Palmyra arbeitete ich zusammen mit einem Team der syrischen Direction Générale des Antiquités et des Musées (DGAM). Wir fuhren jeden Morgen zweieinhalb Stunden von Homs aus mit einem Minibus zur archäologischen Stätte in Palmyra. Bereits der Arbeitsweg war stressig, da die Strecke nicht besonders sicher war. Ein anderes Archäologen-Team wohnte direkt vor Ort, jedoch ohne fliessendes Wasser und ohne Strom. Ihre Arbeit bestand darin, intakte sowie zerstörte Artefakte zu entstauben, zu identifizieren, zu katalogisieren und für den Transport an einen geheimen und sicheren Ort in Damaskus vorzubereiten.

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Zentnerschwere Statuen und Bas-Relief-Tafeln mussten mit den einfachsten Hilfsmitteln von Hand wegtransportiert werden. Herumliegende Metallstangen dienten dabei als Träger und die Köpfe der enthaupteten Statuen wurden mit Isolationsplatten, die aus den Trümmern gezogen wurden, transportsicher verpackt. Während der Arbeit hörten wir die Detonationen von Minen, die von den Russen geräumt wurden sowie Schiessereien von Scharmützeln, die in den umliegenden Palmenhainen und Hügeln stattfanden. Die syrischen Archäologen sind durch das Embargo der westlichen Koalition in ihrer Arbeit stark eingeschränkt. Es fehlt ihnen an allen Ecken und Enden, doch die internationale Gemeinschaft bietet ihnen leider nur wenig Rückhalt.

Wieso leistet die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft den syrischen Archäologen in Palmyra nicht mehr Hilfe?
Auf Grund des Embargos ist es vielen Organisationen gar nicht erlaubt, nach Syrien einzureisen. Zudem wird den lokalen Archäologen in weiten Kreisen der wissenschaftlichen Gemeinschaft polemisch vorgeworfen, sich von Assad für Propagandazwecke instrumentalisieren zu lassen – obwohl sie tagtäglich ihr Leben riskieren, um den Schaden am kulturellen Erbe im Zaum zu halten. Die internationale Gemeinschaft hat sich lauthals über die Zerstörung von Palmyra empört, aber in der Folge kaum Hilfe geleistet.

Wie gross schätzt du den durch den IS angerichteten Schaden ein?
Das ist schwierig zu beziffern, zumal der IS Palmyra im Dezember ja wieder zurück erobert hat. Der DGAM ist es zwar gelungen, fast alle Relikte des Museums in Sicherheit zu bringen, aber die Ruinen der Kulturstätte sind der ideologischen Zerstörungswut des IS noch immer schutzlos ausgeliefert.

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Wieso zerstört der IS die Kulturstätten?
Um die Leute zu kontrollieren. Um den Eindruck zu erwecken, dass es neben ihrer Ideologie keine Alternative gibt und auch nie gab. Um die Identität und die Diversität Iraks und Syriens zu zerstören, vernichten sie ganze Teile der mesopotamischen Zivilisation. Dabei wäre der Schutz des Kulturerbes enorm wichtig für die Identität eines Volkes und seinen sozialen Zusammenhalt. Beides sind Grundvoraussetzungen für den Frieden und den Aufbau der Zukunft.

Was haben die Einheimischen über dich als Pariser Abenteurerin im Krisengebiet gedacht?
Die Leute reagierten auf mich sehr überrascht und waren neugierig. Sie haben sich gefreut, dass sich jemand aus dem Westen die Mühe macht, ihr Land zu bereisen. Einige sagten, mein Mut würde ihnen Hoffnung geben. Denn die meisten Menschen fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen.

Was hast du während deiner Reise über dich selbst gelernt?
Ich bin mir bewusst darüber geworden, welches Glück ich habe, in Frankreich geboren zu sein und die Welt erkunden zu können. Ich habe gelernt, oberflächliche Alltagsprobleme zu relativieren. Jede Begegnung, jede Reise ist ein fester Bestandteil Teil meiner Selbstkonstruktion. Sie ermöglichen mir, das Leben anders anzugehen und anzusehen, nicht formatiert zu sein durch die Gesellschaft, die sozialen Netze und die Medien.

Was hat dich auf deiner Reise am meisten beeindruckt?
Die Lebenskraft, die die Menschen inmitten von Stromausfällen und Raketenbeschüssen aufbringen. Die kreative Energie der Jugend in Baghdad. Die Gastfreundschaft der Menschen. Es ist berührend, wenn Menschen, die wirklich nicht viel besitzen, dir ihr Essen anbieten. In Tartous bin ich Nassima begegnet, einer blinden 31-jährigen Ismaelitin. Sie wurde mit ihrer Familie von ihrem Heimatort Taqba vertrieben. Zusammen mit ihr bin ich zur Masyaf-Festung gefahren. Es war ein emotional sehr starker Moment, ich wurde zu ihren Augen und sie hat mich so durch die Festung geführt.

Wurde es während deiner Reise auch mal brenzlig?
Wenige Stunden nachdem ich einen Bus von Tartous nach Safita genommen hatte, fand am Busbahnhof von Tartous ein Attentat statt. Als ich davon erfahren habe, wurde mir schon etwas mulmig.

Und was hast du über diesen undurchschaubaren Krieg gelernt?
Durch das Miterleben des Alltags von Syrern und Irakern, Sunniten, Schiiten, Christen, Jesiden, Kurden, Ismaeliten, Alawiten und Drusen habe ich ein Verständnis für die Komplexität des Konflikts gewonnen. Ich habe den Konflikt von innen gesehen und erlebt. Ich habe erkannt, dass es nicht einen Krieg, sondern mehrere gibt und, dass es nicht eine Wahrheit gibt, sondern mehrere Wahrheiten parallel existieren.