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The Moral Compass Issue

Unvollkommene Zukunft

Sicher geht es nicht nur uns so, aber 2011 war ein echt mieses Jahr. Kann also eine Horde Wahrsager uns sagen, was wir mit unseren Leben anfangen sollen?

Sicher geht es nicht nur mir so, aber 2011 war für mich ein echt mieses Jahr. Es begann damit, dass ich per Facebook den Laufpass erteilt bekam, und endete damit, dass ich so arm war, dass ich mir vom letzten Kleingeld Orangen zum Abendessen kaufen musste. In den letzten zwölf Monaten wurde ich überfallen und ausgeraubt, habe eine Nacht im Gefängnis verbracht, meinen Computer und meine Brille zerstört, geriet mit der Miete in Rückstand, wurde öfter Arschloch genannt, als ich zählen kann, und habe häufiger gekotzt, als gevögelt. Klar sind das Luxusprobleme, aber so gehäuft geben sie mir das Gefühl, langsam zwischen zwei gewaltigen Mühlsteinen aufgerieben zu werden. In meinem Kopf hat sich dauerhaft eine winzige, brummende Anspannung eingenistet. Ich erinnere mich, dass ich mit 18 dachte, wie geil es sein müsste, 24 zu sein, womit ich nur zeigen will, was für ein Idiot ich mit 18 war. Eines ist mir im letzten Monat klar geworden, und zwar, dass ich Führung brauche. Ich wollte eine Reihe von Maßnahmen, nach denen ich mich besser fühlen würde, oder wenigstens die Gewissheit, dass dieses 365-Tage-Tief vorübergehen würde. Ich weiß, manche Leute wenden sich in schweren Zeiten Christus oder Allah oder Vishnu zu, aber eine organisierte Religion sagt einem im Allgemeinen doch nur, dass man kein Arschloch sein oder bestimmte Tiere nicht essen soll. Ich war auf der Suche nach einem konkreteren, persönlicheren Rat. Wie jede logisch denkende Person wandte ich mich also an Hellseher. Natürlich ist der Glaube, dass bestimmte Menschen oder Karten oder Münzen auf magische Weise über etwas Bescheid wissen, was noch gar nicht passiert ist, ziemlich verrückt; allerdings gibt es für jemanden, der etwas über die Zukunft wissen will, keine Optionen, die nicht verrückt wären. Ich musste einfach so viele Wahrsager ausprobieren, wie ich konnte, in der Hoffnung, dass einer von ihnen eine Antwort auf meine Frage hätte: „Wird mein nächstes Jahr besser als das letzte?“ Die erste Wahrsagemethode, die ich ausprobierte, war zugleich die billigste: das I Ging. DAS I GING
Die Chinesen verwenden dieses Buch schon seit Tausenden von Jahren. Der Einführung meiner Ausgabe zufolge handelt es sich um „eine bestimmte Art von besonderem Vorstellungsraum für einen Dialog mit den Göttern oder Geistern, die kreative Basis der Erfahrung dessen, was heute das Unbewusste genannt wird“. Aha. Im Wesentlichen erzeugt man dabei nach dem Zufallsprinzip eine Reihe von Linien, die dann ein oder zwei Symbole, sogenannte Hexagramme, ergeben. Traditionell braucht man für die Linien 50 Schafgarbenstängel, aber da ich gerade keine Schafgarbenstängel zur Hand hatte, habe ich stattdessen sechsmal mit drei Pennys geschnippt. Als erstes Hexagramm warf ich ein Pi, die „Stockung“. Dieses bedeutete, dass mich ein Scheißdreck aufhielt, dass ich nicht wirklich selbst schuld war und es einfach akzeptieren müsse (um es mit meinen Worten wiederzugeben). Beim zweiten Hexagramm handelte es sich um das deutlich positivere Chi Chi oder „Nach der Vollendung“, ein Symbol, das „Ihre Situation hinsichtlich einer wichtigen Bewegung von einer Position zur anderen beschreibt“. Der englischen Grobübersetzung zufolge würde mein Hemmnis bleiben, bis die Zeit der Durchquerung gekommen sei; oder, mit anderen Worten, unternimm nichts, bevor die Dinge nicht besser werden. Ein Ratschlag, der dafür sorgt, dass man dem Orakel für Jahrhunderte erhalten bleibt! So positiv diese Weissagung auch war, brauchte ich doch etwas Menschlicheres. Also begab ich mich zu den Zigeunerinnen. WAHRSAGERLÄDEN
Ich bin mir gar nicht sicher, ob es Zigeunerinnen waren, aber sie sahen ganz danach aus. Beide Psychic Shops, die ich besuchte, waren typische Wahrsagerläden, wie man sie an der gesamten Lower East Side Manhattans und wohl in jeder bevölkerungsreichen westlichen Stadt findet—mit Neonwerbung und vollgestopft mit einer Mischung aus New-Age-Krams und altertümlichem Nippes. Der Name der ersten Zigeunerin mittleren Alters war, so stand es auf ihrer Karte, Sara. In Saras voluminösem Ausschnitt steckte Bargeld. Für 15 Dollar warf sie einen Blick auf meine Handflächen und leierte dann mit gelangweilter Stimme eine Litanei von Weissagungen hinunter: Ich würde 80 Jahre alt werden, zwei Söhne haben, mich selbstständig machen, meine Schwierigkeiten seien nicht mein Fehler, sondern die Folge eines von meinen negativen Gefühlen geworfenen Schattens, es bestünde noch immer eine Verbindung zu der letzten Frau, die ich geliebt hatte. Am Ende meiner Sitzung teilte sie mir mit, dass meine verschiedenen Chakren blockiert seien, doch wenn ich ihr 300 Dollar für einige Kristalle gäbe, könne sie die Blockade beseitigen. Ich sagte ihr, ich würde darüber nachdenken. Die zweite Zigeunerin erschien mir erstaunlicherweise noch windiger. Nachdem sie mir 55 Dollar abgeknöpft hatte, drehte sie munter einige Tarotkarten um, fragte mich dabei, ob so gängige Mädchennamen wie Jennifer und Stephanie mir etwas sagen würden (eigentlich nicht) und fragte sich laut, ob ich je ein Kind abgetrieben oder als Kind ein Trauma erlitten hätte (hm, ich glaube nicht). Als sie mir mitteilte, ich würde Millionär, sagte ich ihr, dass ich mir eigentlich gar nicht so viel Geld wünschen würde. Sie entgegnete: „Jeder wünscht sich Geld.“ Ich glaube, ich habe mehr über sie erfahren als über meine Zukunft. ONLINE-HELLSEHER
Als ich einem befreundeten Fotografen von der Geschichte erzählte, an der ich schrieb, schickte er mir einen Link zu einer Website namens justanswer.com, auf der es hieß: „Fragen Sie nach dem Rat eines Hellsehers, und Sie erhalten schnellstmöglich eine Antwort!“ Ich fragte, ob mein nächstes Jahr besser werden würde als das vergangene, gab meine Kreditkarteninformationen ein—und wurde gebeten, meine Kreditkartennummer erneut einzugeben. Auch wenn ich ein Vermögen bei den Zigeunerinnen gelassen hatte, war mir das zu vage. PROFESSIONELLE TAROTKARTENLESERIN
Liat Silberman, eine Australierin, die in TriBeCa die Karten legt, ist alles andere als vage. Sie nimmt 100 Dollar pro Sitzung, ist häufig Monate im Voraus ausgebucht und übt die Tarotkartenleserei in schicken Cafés aus. Beim Auslegen eines „keltischen Kreuzes“ aus Karten teilte sie mir auf angenehm sachliche Weise mit, was sie sah: Ich hätte kein Geld, sei ängstlich und unsicher, was die Zukunft anbeträfe, und hätte nicht genügend Zeit für Freunde—falls ich so weitermachte, würde ich in wiederholte, materialistische Suchtmuster verfallen, die durch eine entsprechend hässliche Teufelskarte versinnbildlicht wurden. Sie sah in meiner Zukunft zwei Frauen, aber es würde mit keiner von ihnen gut ausgehen. Entweder war sie medial begabter als die Zigeunerinnen in den Läden oder einfach gewiefter darin, Scheiße zu erzählen. Als ich meine Probleme vor ihr ausbreitete, erinnerte sie mich daran, dass ich in den Zwanzigern sei und jeder in seinen Zwanzigern so empfindet, wenn er versucht rauszufinden, wo’s langgeht. Keine große Sache. Ihr Rat lautete, Spaß zu haben, das Leben in der Stadt zu genießen, zu wachsen und mich anzupassen—Dinge, die ich weiß, die ich aber immer wieder hören muss, weil ich ein Idiot bin—und sie erzählte diese Dinge wie eine nette, unhippe Tante, mit der man problemlos über seinen Drogenkonsum reden kann. GLÜCKSKEKSE
An jenem Abend kam ich an dem schäbigen chinesischen Restaurant bei mir um die Ecke vorbei und dachte mir, was soll’s? Warum nicht noch eine Weissagung mehr? Nachdem ich meine Portion Hühnchen General Tso heruntergewürgt hatte, brach ich meinen Glückskeks auf und fand folgende Botschaft: „Du bist fast angekommen.“ Scheiße. Vielleicht ist ja doch was dran an der Sache.

Fotos von Mike de Leon