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Ich war eine Nacht in der Notschlafstelle und fühlte mich wie ein Arschloch

Ich habe inkognito in der Notschlafstelle übernachtet und bereute das.
Foto von Hans; Pixabay

Wo findet man in der Schweiz die hilfsbereitesten Menschen? Verkäufer/Innen zählen nicht, ihre Hilfsbereitschaft ist etwa so echt wie Silikonbrüste. Dass sich sozial benachteiligte Menschen oft mehr um einen sorgen als viele Privilegierte, scheint erstaunlich zu sein—ist aber der Fall.

Das habe ich erlebt, als ich eine Nacht in der Notschlafstelle verbrachte. Ich bat per Mail darum, dort zu übernachten, um darüber zu schreiben, erhielt aber eine Absage. Man wolle die Privatsphäre der Klientinnen und Klienten schützen und deshalb von Besuchen durch Medienschaffende absehen. Deshalb ging ich einfach hin. Ich rechnete mit Anonymität und Gleichgültigkeit und stiess auf die herzlichsten Menschen, die ich seit langem kennengelernt hatte.

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Foto von Ras67; Wikipedia; CC BY-SA 3.0 DE

Armut in der Schweiz ist eine oft verdrängte Realität. Sogar die Sozialhilfe verweist manchmal auf die Notschlafstelle, wenn sie Anträge ablehnt. Klar geht es uns gut im Vergleich zum restlichen Europa, aber nur, weil Armut nicht sichtbar ist, heisst das nicht, dass sie nicht existiert. Es ist ziemlich einfach, wegzuschauen.
Einem Grossteil der Stadtzürcher fällt die Notschlafstelle zum Beispiel nicht einmal auf. Hätte ich vorher nicht die Adresse herausgesucht, wüsste ich auch nicht, wo sie ist. Als ich die Klingel drücke, beginnt mein Herz zu rasen. Ich habe keinen Schimmer, was auf mich zukommt. „Haben Sie noch Platz?", frage ich, als sich die Gegensprechanlage meldet. Mir wird direkt erklärt, welchen Eingang ich zu benutzen habe.

Ich gehe die Treppe hoch zur Rezeption, wo ich als allererstes gefragt werde, warum ich hier sei. Scheisse, damit habe ich erstaunlicherweise gar nicht gerechnet. Ich behaupte, meine Eltern hätten mich rausgeworfen und muss daraufhin ein Formular ausfüllen. Ausserdem wird meine ID kopiert und mein Wohnsitz in der Stadt Zürich überprüft. Der Herr an der Rezeption stellt sich und seine Mitarbeiterin mit Namen vor und meint, ich könne mich in Notfällen und auch sonst an sie wenden.

Daraufhin werde ich in die Frauenabteilung der Notschlafstelle geführt. Als mir die Angestellte der Institution gerade das Zimmer zeigen will, werden wir von zwei streitenden Frauen unterbrochen. Ihre Zimmergenossin habe ihr mit dem Tod gedroht, beteuert eine hysterische Stimme. Sie will ihr Zimmer wechseln. Ich lehne mich an die Wand und versuche nicht panisch zu werden.

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Schliesslich wage ich mich bis in den Aufenthaltsraum, wo der Fernseher läuft und eine Frau am Esstisch sitzt. Sie redet kaum Deutsch und so versuchen wir uns mit einem Mischmasch aus Italienisch und Spanisch zu verständigen. Auch sie will wissen, was ich hier mache und scheint schockiert zu sein, dass eine junge Frau wie ich schon hier landet. Es scheint aussichtslos, ihren Fragen auszuweichen und so reite ich mich in ein immer dichteres Netz aus Lügen. Sie meint, am liebsten würde sie mich adoptieren und ich solle ihr meine Nummer da lassen.

Foto von Michael Parker; Flickr; CC BY 2.0

Ich mache schnell weitere Bekanntschaften. Frauen kommen auf mich zu, fragen mich nach meinem Namen, meinem Alter und dem Grund, warum ich hier bin. Einige erzählen mir aus ihrer Geschichte und in ein paar Momenten vergesse ich tatsächlich, dass ich nicht darauf angewiesen bin, hier zu übernachten. Die Menschen hier geben einem das Gefühl, willkommen und akzeptiert zu sein, es fühlt sich ein bisschen an wie ein Familientreffen. Ich gewinne einen Eindruck davon, wie das Leben für sie sein muss. In einer Kultur, in der Gastfreundschaft und Grosszügigkeit nicht wirklich vorherrschende Werte sind und wo das Prinzip Selbstverantwortung grossgeschrieben wird.

Die beiden Streitenden haben sich anscheinend beruhigt. Die Angestellte der Notschlafstelle setzt sich zu mir an den Tisch und hakt—bei Tee—weiter nach, warum ich da bin. Ihr Blick ist sorgenvoll. Dass meine Antworten knapp sind und ich die meiste Zeit über auf die Tischplatte starre, scheint ihre Sorge zu verstärken. Sie bittet mich deshalb in ihr Büro und steckt mir einen Flyer zu. Verharmlosungen von meiner Seite machen das Ganze nur noch schlimmer, deshalb bedanke ich mich einfach und nehme ihn. Irgendwann wird mir das alles zu viel. Ich will nicht noch mehr lügen.

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Also lege ich mich ins Bett und versuche zu schlafen. Ich teile mir das Zimmer mit zwei anderen Frauen. Die drei oberen Etagen der Stockbetten sind leer. Ich habe erwartet dass an einem so kalten Tag alles voll ist. Wäre dem so gewesen, hätte ich den Plan, hier zu übernachten über Bord geworfen und wäre wieder nachhause gegangen, in mein Zimmer mit dem 1.40-Meter-Bett und der Daunendecke. Das Licht brennt noch ein paar Stunden, ab und zu klingelt ein Handy und jemand telefoniert. Doch auch als das Deckenlicht ausgeschaltet wird und alle im Bett liegen, kann ich nicht schlafen. Das Gewissen nagt an mir.

Foto von Ricardo Liberato; Flickr; CC BY-SA 2.0

Das Frühstück am nächsten Morgen lasse ich ausfallen. Ich habe keine Sekunde geschlafen und will nur noch weg. Dass ich den Artikel nicht mehr schreiben möchte, habe ich schon in der Nacht entschieden. Ich verabschiede mich von den beiden Frauen in meinem Zimmer. Die eine nimmt mich nochmal zur Seite und spricht mir Mut zu, sagt mir, dass ich wie ihre Tochter sei und alles gut komme. Ich stürze regelrecht nach draussen und erwische gerade noch den Bus. Die Fahrtstrecke hat sich in eine fremde Umgebung verwandelt, obwohl ich sie fast jeden Tag fahre. Die Passagiere haben ihren „Zur-Arbeit-Blick" aufgesetzt, sie sind grimmig, ist ja auch erst halb acht. Mir ist schlecht. Und trotzdem bin ich froh, dass es im Ernstfall die Notschlafstelle gibt.

Nachträglich habe ich meine wahre Identität bei der Notschlafstelle aufgedeckt und trotzdem die Erlaubnis erhalten darüber zu schreiben.

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Die Notschlafstelle mit 52 Betten wird von den Sozialen Einrichtungen und Betrieben der Stadt Zürich betrieben. Sie bietet obdachlosen Frauen und Männern aus der Stadt Zürich ein Bett für eine Nacht, Verpflegung und eine Waschgelegenheit. Die Mitarbeitenden betreuen und beraten die Benutzerinnen und Benutzer und suchen mit ihnen nach angemessenen Wohnlösungen. 2014 verzeichnete die Notschlafstelle 14 623 Übernachtungen. Mehr Infos findest du hier.

Nora auf Twitter: @nora_nova_

ViceSwitzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelbild von Hans; Pixabay; CC0 1.0