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THE IDENTITY CRISIS ISSUE

Autos auf Schallgeschwindigkeit

Michael „The Big Oki“ Müller ist der Held der dB-Drag-Szene.

Michael „The Big Oki“ Müller vor einem Bruchteil seiner weit über 1.000 gewonnen Pokale Wer in einer Kleinstadt in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, oder schon einmal so eine besucht hat, der kennt sie. Die Jungs mit ihren kleinen Autos und den dicken Anlagen. Manche belächeln sie, manche beneiden sie und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich wäre immun gegen diese absolute und definitive Form der Zurschaustellung einer tief und dumpf empfundenen Männlichkeit. Auf eine verschrobene und schizophrene Art, die mir selbst manchmal Angst einflösst, finde ich sie einfach nur geil. Natürlich besitze ich selbst keine laute Anlage und kann dementsprechend nicht die dunkle Seite meiner Maskulinität zelebrieren, weshalb ich aber auch sofort Feuer und Flamme war, als ich zum ersten Mal von Bass Race und dB Drag, wie es in der Szene genannt wird, Wind bekam. Eine Sportart, die in der dünnen Luft des Car-Hi-Fi-Tunings angesiedelt ist und all diese Jungs mit ihren kleinen Autos und dicken Anlagen wie das aussehen lässt, was sie sind: Amateure, die vor Tankstellen herumgammeln.  Schalldruck, Schalldruck und noch mehr Schalldruck ist das Ziel der dB-Drag-Racing-Wettbewerbe, in denen Autos und deren Besitzer in verschiedenen Klassen und in über 50 Ländern gegeneinander antreten, um ihre Musikanlagen bis an die Leistungsgrenze aufzudrehen. Auf 100 und mehr Events pro Saison alleine in Deutschland wird mittels eines Schalldrucksensors an der Windschutzscheibe ermittelt, wessen Anlage den kraftvollsten Brummton erzeugen kann. Ein tiefer Ton im für den Wettbewerb zugelassenen Bereich von 20–80 Hertz dröhnt nicht länger als 1–2 Sekunden aus den Anlagen und kann dabei infernalisch laute Dezibelbereiche von 180 dB oder mehr erreichen. Offensichtlich ist der menschliche Körper nicht wirklich dafür ausgelegt, solche Lautstärken auszuhalten und man kann vielleicht erahnen, dass dB-Bereiche, die selbst Windschutzscheiben aus der Fassung drücken oder Autodächer abreißen können, sich nicht unbedingt positiv auf das eigene Wohlbefinden auswirken. Wenn man ein schwaches Herz oder keine Lust darauf hat, dass einem die Lunge kollabiert, sollte man sich also nicht unbedingt hinter das Steuer eines solchen Autos zwängen. Mehr brauchte ich nicht hören, um sofort am eigenen Leib erfahren zu wollen, wie viel Power so eine Karre erzeugen kann. Deshalb setzte ich mich mit dem mehrfachen Weltmeister und amtierenden Deutschen Meister Michael „The Big Oki“ Müller in Verbindung, um ihn und seine „Schalldruckwaffe“ im beschaulichen hessischen Limeshain zu besuchen—einen veredelten Touran, den er in Anlehnung an seinen in bester Onomatopoesie erfundenen Schlachtruf „Üüüühh!!!“, der das Brummen des Autos beschreibt, TÜRANN getauft hat. Limeshain, das wird einem beim Passieren des Ortschildes sofort bewusst, ist der Prototyp eines westdeutschen Provinzstädtchens. Die Gehsteige werden hier anscheinend so häufig geputzt, dass sie den Eindruck erwecken, durch das ständige Geschrubbe und Gekehre ausgeblichen zu sein. Die Häuser sind akribisch entlang der Hauptstraße aufgereiht und mit diesem speziellen Rauspritzputz verkleidet, den man so nur in ländlichen Gebieten vorfindet und der alles gleich so wunderbar spießig wirken lässt. Das war in meiner Fantasie der Ort, der einzige Ort, an dem eine Sportart wie dB Drag Race eine Lichtgestalt wie Oki hervorbringen kann.  Natürlich kann sich jeder eine Anlage in seinen Wagen schustern, das Autoradio aufdrehen und Krach erzeugen, doch bei Autos wie Okis TÜRANN ist das Erreichen maximalen Schalldrucks eine Wissenschaft für sich, wie mir Oki gleich zu Beginn meines Besuches in seiner Welt erklärt. Ein fundiertes technisch-physikalisches Wissen ist Voraussetzung, um einen Wagen so zu konstruieren, dass einem durch den entstehenden Druck nicht die ganze Karre auseinanderbricht oder die Anlage einfach abraucht. Die Lautsprechergehäuse müssen perfekt berechnet, die Inneneinrichtung entsprechend angepasst und der Innenraum bedacht werden, um die Anlage auf den Bruchteil eines dBs perfekt abzustimmen und gleichzeitig einen authentischen Klang mit guter Bühnenabbildung zu haben. „Auch das Ohmsche Gesetz ist da Standard, das muss drin sein. Genauso wie Geometrie, Volumenberechnung und so weiter. Bestimmte Teile der Physik sollte man grob beherrschen, wenn man gewinnen will. Zumindest erleichtert das Verstehen der Physik die Arbeit ungemein“, erklärt mir der freundliche Hesse, während wir vor seinem in der Einfahrt geparkten TÜRANN stehen. Doch wie kommt man überhaupt dazu, so viel Herzblut und Zeit in den perfekten Klang seines Autos zu stecken? Generell scheint Oki dieses Faible für Technik, Musik, Hi-Fi, Klang und Lautstärke seit frühster Kindheit in die Wiege gelegt worden zu sein. Sein Vater war Automechaniker, sein Onkel war Werkzeugmacher und Leiter einer Versuchswerkstatt, in der für das SpaceLab Teile produziert wurden, die in die Erdumlaufbahn geschossen wurden. Er selbst verfolgte den gleichen Berufsweg und wurde ebenfalls zunächst Werkzeugmechaniker, doch über allem stand immer die Musik. „Mit elf oder zwölf ist mir eine Aufnahme von Venom in die Hände gefallen. Davon war ich schon sehr fasziniert, da es anders war als Roy Black und der ganze Mumpitz, den ich im Wohnzimmerschrank meiner Eltern gefunden habe.“ Laut Oki ist sein Auto ein extremer Zehnkämpfer, ein Gladiator und ein Schöngeist zugleich. So sieht es aus, wenn man bei 25 Prozent Ausladung der Anlage in Musik ertrinkt. Es ist also nicht wirklich verwunderlich, dass er bereits 1989 an seinem ersten Auto, einem VW Jetta, herumbastelte und eine Anlage im Wert von 17.000 Mark einbaute. „Man möchte die Musik ja auch spüren, und ein Schlagzeug mit nur 50 oder 60 dB zu spüren geht nicht. Das ist für mich widernatürlich.“ Doch bevor er noch mehr in seinen Jetta investieren konnte, war der Wagen Schrott und Oki beinahe tot. Bei einem unverschuldeten Unfall knallte ihm 1992 eine rücksichtslose Raserin mit 140 Sachen frontal rein und schob den Jetta wie eine Ziehharmonika zusammen. Das Lenkrad hatte ihm den Kiefer gebrochen, zweimal erstickte er an seinem eigenen Blut und wurde wieder reanimiert, während er über zwei Stunden lang bei vollem Bewusstsein im Wrack eingeklemmt war. Das Auto wurde schließlich mit einer Kette an einen Baum gebunden und musste dann von einem Abschleppwagen auseinandergezogen werden. „Ich kann mich daran erinnern, dass meine Knochen aus dem Bein ragten und dann mit einem Ruck wieder ins Bein gesprungen sind. Es wurde überlegt, mir den Arm abzuschneiden, um mich rauszuziehen und ihn dann später wieder anzunähen. Meine Hauptschlagader am Oberschenkel war durchtrennt und zwei Liter Blut liefen in mein Bein. Zum Glück hatte ich meine Arbeitshose an, die sehr eng war und den Blutdruck gehalten hat.“ Mit 49 Knochenbrüchen überlebte Oki zwar, doch der Unfall hat sein gesamtes Leben grundlegend umgekrempelt. Mit 21 war er plötzlich schwerbehindert und konnte seinen Job nicht mehr ausüben. Noch heute leidet er unter den Folgen. „Das war dann auch ein Verlust an Lebensqualität, den ich kompensieren musste, ich war damals erst 21, lag im Krankenhaus und hatte zwar zunächst durch Versicherungen und Ähnliches keine finanziellen Sorgen und jede Menge Zeit, konnte aber zunächst nichts damit anfangen. Im Nachhinein war das gut, weil ich Zeit hatte zu planen, was ich mit dem Geld machen würde.“ Natürlich plante er bereits, was sein nächstes Auto werden sollte und was für eine Anlage dort, neben den Elementen, die aus seinem zerstörten Jetta gerettet werden konnten, ihren Platz finden würde.  Nachdem er sich also alles in Ruhe überlegt hatte, konnte Oki schließlich in seinen neu erworbenen, gebrauchten Mercedes steigen und wurde alsbald auch zu verschiedenen Autotreffen eingeladen, da er weit und breit derjenige mit der dicksten Anlage war. „Man will ja auch Leute treffen, um zu sehen, dass man nicht der Einzige ist, der so bekloppt ist, und dabei natürlich auch Tipps kriegen und etwas dazulernen.“ Auf diesen frühen Treffen wurden auch ab und zu dB-Messungen durchgeführt, die er jedoch nicht besonders ernst nahm. „Zu einem der ersten dB-Wettbewerbe bin ich planlos hin und habe im Prinzip nicht gewusst, was ich mache. Ich habe gebrummt und bin wieder gefahren. Ich habe bis heute keine Ahnung, welchen Platz ich belegt habe.“ Mit seinem Zweitwagen, einem Passat mit ebenfalls dicker Anlage, gewann Oki 1995 seine erste Trophäe, ausgerechnet auf einem Opel-Treffen.  Drei Jahre später war er zum ersten Mal deutscher Meister und 2004 schließlich zum ersten Mal overall Punkte-Weltmeister im dB Drag Racing. Seitdem konnte ihn kaum jemand übertönen „Mein Ziel war es, zehn Jahre am Stück deutscher Meister im dB Drag zu werden. Nun habe ich aber schon 13 Titel oder 14? Insgesamt sind es wohl an die 60 nationale und internationale Titel, bis hin zu mehrfachen Weltmeistertiteln! Wie oft soll ich denn noch gewinnen? Wie viele Pokale denn noch? Ich habe mehr Titel, als andere Leute in ihrem Leben an Events teilgenommen haben.“ Die Pokale, die bis zu 2,5 Meter groß sind, stapeln sich nun in seinem Haus ebenso wie eine unglaubliche Menge an hochwertigem technischen Equipment. Oki gibt mir eine Führung durch sein kleines „Reich“ und ich fühle mich wie im Lagerraum eines Elektronikmarktes. Zu jedem Karton, zu jeder Schachtel mit hochwertigem und vor allem teurem Hi-Fi-Equipment kann Oki eine Geschichte zum Besten geben. Er erzählt von speziellen Magneten in Lautsprechern, die selbst durch die Verpackung hindurch Schlüssel anziehen können, seinem ersten Autoradio von 1989, von dem er noch immer die Seriennummer auswendig aufsagen kann, und mir geht durch den Kopf, wie größenwahnsinnig sich all diese Geräte wohl in Aktion anhören mögen.  Ob das Gerücht denn stimme, dass man in einem Auto bei voll aufgedrehter Anlage krepieren könnte, möchte ich wissen. „Dass man in so einem Auto stirbt, wenn man innen sitzen bleibt, ist nur bedingt richtig. Es kommt eher darauf an, wer früher den Geist aufgibt, der Lautsprecher oder der Mensch. Ich selber habe schon ca. 171,8 dB ausgehalten. Aber da ging nichts mehr mit Atmen. Das ist, als würde man Flüssigkeit atmen.“ Die Teilnehmer solcher Wettbewerbe bedienen deshalb ihre Fahrzeuge per Fernbedienung von außerhalb des Wagens—und dort stehen wir nun auch. Der TÜRANN erinnert beim Anblick seiner Innenausstattung an den Delorean aus Zurück in die Zukunft. Im Kofferraum befinden sich fünf Verstärker, die die im ganzen Wagen verteilten Bässe und Lautsprecher befeuern. Überall sind Schalter und blinkende Digitalanzeigen, die Wattstärke sowie verschiedenste andere Parameter anzeigen, die die Welt um den TÜRANN herum zum Mitvibrieren zwingen. Ich nehme neben Oki in seinem Wagen Platz  und er demonstriert mir, was bereits 25 Prozent Auslastung der Anlage leisten. In der engen Fahrgastzelle, in der selbst Lautsprecher im Fußraum eingepasst sind, wird es schlagartig ohrenbetäubend laut. So laut, dass man die Energie körperlich spürt und gleichzeitig jede Note heraushören kann. Oki erklärt mir: „Der Klang ist so gut und klar, dass man nicht zwingend mitbekommt, wenn man sich die Ohren schädigt.“ Ich verstehe aber nur Bruchstücke und nicke mit einem debilen Grinsen, während Oki auch gleich wieder aufdreht. Aus den Boxen wummert Slayer und Napalm Death und ich kann die Musik atmen. Geil. Bis zum heutigen Tag hat Oki mit großem Abstand mehr Punkte in dB Drag Racing Wettbewerben gesammelt, als je ein Mensch vor ihm.

Fotos: Grey Hutton