FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

Terry Gilliam über ‚Gilliamesque’, seine ‚prä-posthumen Memoiren’

Wir haben uns mit dem surrealistischen Regisseur über seine Anfangszeit, sein Meisterwerk ‚Brazil' und die Geldmacherei Hollywoods unterhalten.

Foto von Jay Brooks, mit freundlicher Genehmigung von HarperCollins und CameraPress London

In meiner Jugend hinterließen Terry Gilliams Filme bei mir einen tiefen Eindruck. Die gebildeten Nerds unter euch werden ihn auch als das außerbritische Mitglied von Monty Python kennen. Bei der Comedy-Truppe war er für die Animationen zwischen den Sketchen des Flying Circus verantwortlich. Andere kennen ihn als den Regisseur genialer Fantasy-Filme wie Time Bandits, in dem ein Junge sich einer Gruppe Zwerge anschließt, die auf der Suche nach reicher Beute durch die Geschichte reisen, oder Brazil, ein dystopischer Thriller, in dem ein tagträumender Regierungsangestellter zwischen die Zahnräder der albtraumhaften Bürokratie gerät und von Monty-Python-Darsteller Michael Palin in einer Babymaske gefoltert wird.

Anzeige

Dann gibt es seine mainstreamigeren Filme: Gilliam hat Brad Pitt als irre brabbelnden Weltverbesserer in 12 Monkeys gecastet, Johnny Depp in Fear and Loathing in Las Vegas überraschend hässlich gemacht und Jeff Bridges in Tideland als tragischen Heroinsüchtigen buchstäblich herumgammeln lassen. Er hat sogar den Tod seines Hauptdarstellers Heath Ledger verarbeitet, um seinen Film Das Kabinett des Dr. Parnassus fertigzustellen. Sein neuester Film, The Zero Theorem von 2013, zeigt einen kahlen Christoph Waltz als agoraphobischen Programmierer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Für die Rolle rasierte sich der Deutsch-Österreicher auf Gilliams Wunsch hin sogar die Augenbrauen.

VICE hat sich zuletzt 2009 mit Gilliam unterhalten, also war es höchste Zeit, sich noch einmal zusammenzusetzen, vor allem, weil er soeben ein neues Projekt abgeschlossen hat. Diesmal handelt es sich nicht um einen Film, sondern um „prä-posthume Memoiren" mit dem Titel Gilliamesque. Das Buch ist in Deutschland im November erschienen und behauptet, ein „zügelloser Einblick in einen einzigartigen kreativen Geist und ein unvergleichliches Porträt der Popkultur des späten 20. Jahrhunderts" zu sein, doch es liegt sofort auf der Hand, dass es noch viel mehr ist. Das Titelbild fällt ins Auge und jede Seite enthält die bunte und surreale visuelle Kunst, für die Gilliam bekannt ist, ob mit gezeichneten Ausschnitten oder als Standbild von seinen vielen detailreichen und kunstvollen Filmsets.

Anzeige

Zwar gehörte der Surrealist zu den durch und durch englischen Pythons, doch Gilliam ist in Minneapolis geboren und aufgewachsen. Seine US-amerikanische Staatsbürgerschaft gab er 2006 auf, allerdings sagt er, dies sei weniger eine politische Geste als eine Lösung für ein Steuerproblem gewesen. Er erklärt in seinen Memoiren, dass er „kein Problem damit hatte, in zwei Ländern Steuern zu zahlen, bis George W. zurückkehrte, um sich noch ein Stück vom Weißen-Haus-Kuchen abzubeißen …" Seine Motive sind also vielleicht doch ein wenig politisch, und eigentlich ist er nach fast 50 Jahren in London vielleicht ohnehin Brite.

Als ich mich neulich telefonisch mit ihm unterhielt, klang der 75-Jährige väterlich und dennoch verspielt. Seine Stimme war warm, fröhlich und neigte zu manischen Ausschlägen.

Beim Lesen von Gilliamesque war ich überrascht zu erfahren, dass Gilliam der Chef des Cheerleader-Teams, der Jahrgangssprecher und der Ehrenredner seines letzten Highschool-Jahres war. „Ich war ein Goldjunge!", bestätigte er. „Ich war sehr beliebt." Danach begann er ein Physikstudium, denn Mathematik und Wissenschaft seien einfach die Fächer gewesen, die man nach dem Krieg studierte.

„Es ging darum, die Technologie der Zukunft zu bauen", sagte er. „Physik war zu abstrakt und kompliziert für ein einfaches Wesen wie mich. Ich habe schon immer das Praktische dem Physischen vorgezogen. Ich habe dann stattdessen Politikwissenschaft studiert, denn es gab nur vier Pflichtkurse und so konnte ich mir im Grunde meine eigene liberale Bildung zusammenzimmern. Es gab Wahlkurse wie Theater und orientalische Philosophie, was viel interessanter war. Ich habe auch immer gearbeitet. Ich habe in einem Postamt, in einer Metzgerei und einer Chevy-Fabrik gearbeitet. Die albtraumhaften Fertigungsanlagen, die in Monty-Python-Animationen auftauchen, waren davon inspiriert."

Anzeige

Danach wurde Gilliam zum Theater-Coach im Camp Roosevelt, einem Sommerlager für die Kinder der Hollywood-Prominenz in der Nähe von Palm Springs. „Viel praktischer, als in einem Schönheitssalon Haare aufkehren", sagte er mir. Er erklärte, er habe Ende der 1950er versucht, eine riesige Produktion von Alice im Wunderland aufzuziehen, doch er habe das Vorhaben abbrechen müssen, denn es gab „einen Mangel an organisatorischer Infrastruktur, die mir dabei hätte helfen können, meine Vision dreidimensional werden zu lassen. Sich das Ganze vorzustellen, war der leichte Teil", erzählte er. „Das Schwierige war, es tatsächlich umzusetzen, ohne die Zeit, das Geld oder das Talent, das dazu nötig gewesen wäre."

Gilliams Sinn für Humor war schon immer sein treuer Begleiter, und bei den verschiedenen Hindernissen, die ihm in seiner Filmkarriere begegnet sind, konnte er den auch gut gebrauchen. 2008 erschien im Guardian ein Artikel mit dem Titel „Why Is Terry Gilliam Cursed with Bad Luck?". 2012 fragte Blouin Artinfo: „Can Terry Gilliam Make a Film Not Plagued by Disaster?". Es gibt tatsächlich sogar einen ganzen Film nur über die Produktionsschwierigkeiten, die Gilliam schon zugesetzt haben. Doch er hat sie alle überstanden.

MOTHERBOARD: Der gefährlichste Dreh aller Zeiten: 150 Raubkatzen und 70 verletzte Menschen

Als ich ihn nach seinen größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Filmen fragte, lachte er und sagte „Welcher Film?", bevor er eine nüchterne, einsilbige Antwort gab: „Geld."

Anzeige

Doch dann erklärte er: „Zero Theorem hatte ein Budget von 8 Millionen, aber er sieht nicht aus wie ein Acht-Millionen-Dollar-Film. Er sieht viel teurer aus. Manchmal kann die Knappheit die besten kreativen Lösungen hervorbringen. Außerdem bittet man Freunde um Gefallen. Matt Damon kam ein paar Tage ans Set, Tilda Swinton ebenso. Die Schauspieler sind nicht das Problem."

Er fuhr fort: „Sieh dir Brothers Grimm an, mein Film mit dem höchsten Budget. Visuell ist er nicht besser als die anderen, was zeigt, das Geld nicht alles ist. Manchmal kann es sogar schaden. Ein Beispiel dafür, wie geringe Mittel Gold hervorbringen? Wer sich keine Pferde leisten kann, nimmt Kokosnüsse!", womit er sich auf den Running Gag aus Die Ritter der Kokosnuss bezieht, in dem die Ritter auf unsichtbaren Pferden durch die Gegend reiten, während ihre Knappen Kokosnusshälften aneinanderschlagen, um Hufgeklapper zu imitieren.

Ich musste ihn einfach nach seinem größten Flop, Tideland von 2005, fragen. In diesem Film spielt Jeff Bridges einen heroinsüchtigen Alleinerziehenden, der an einer Überdosis stirbt und schließlich von geistig behinderten Nachbarn, die sich mit seiner Tochter anfreunden, ausgestopft wird. Der Film würde auch für seine sexuellen Elemente kritisiert.

„Oh, Tideland!", rief er. „Über den will niemand reden."

Ich riet, das könne damit zu tun haben, wie düster der Film ist, doch Gilliam kaufte es mir nicht ab.

Anzeige

„Es liegt daran, dass alle mit dem kleinen Mädchen in dem Film Mitleid haben, weil ihr Vater auf Heroin ist", antwortete er. „Aber die Vorstellung, dass Kinder diese kleinen unschuldigen Wesen sind, ist einfach nur Bullshit."

Gilliam sagte außerdem, Tideland sei „eine einzigartige und befreiende Erfahrung gewesen", im Gegensatz zu Brothers Grimm, seinem ersten Film seit dem berüchtigten Debakel um sein Projekt Don Quixote, bei dem eine lange Reihe von Problemen, darunter durch Überschwemmung zerstörte Sets, den Abbruch der Produktion über die bekannte Figur von Cervantes nach sich zog. Anscheinend hatten die Weinsteins bei der Produktion von Brothers Grimm so viel zu melden, dass Gilliam sagt, er habe sich letzten Endes gar nicht mehr verantwortlich gefühlt.

„Es war, als sei ich wieder in der Army, und ‚Nicht mein Problem, Kumpel' ist eine ziemlich schlechte Einstellung auf einem Filmset", erklärte er. „Also hätte es keinen schöneren Kontrast dazu geben können als Tideland."

In seinen Memoiren sagt Gilliam, Tideland habe ihm die Möglichkeit gegeben, sich mit seinem inneren Kind in Verbindung zu setzen. Er denke, es sei unerlässlich fürs Überleben, dass man das innere Kind, was auch immer das genau ist, am Leben hält. Alle hätten dieses Staunen und die Fähigkeit, überrascht zu sein, doch das würde einem im Laufe des Lebens ausgeprügelt. Er habe einfach das Glück gehabt, eine Arbeit zu finden, die es ihm erlaubt hat, die kleine Göre am Leben zu halten.

Anzeige

Was Kinder angeht, so hätte Gilliam einer ganzen Generation neuer Filmfans ein Begriff werden können. „J. K. Rowling wollte, dass ich Regie führe", gesteht er über den ersten Harry Potter-Film. „Wobei ich letztendlich froh war, dass ich diesen Auftrag nicht bekommen habe, denn alle Quellen behaupten, das Studio habe solche Kontrolle über den Regisseur [Chris Columbus] ausgeübt, dass es ein Albtraum war."

Mit Albträumen kennt sich Gilliam natürlich aus. Über seinen dystopischen Klassiker Brazil sagt er 30 Jahre später: „Manche sehen eine Darstellung einer Welt, in der die Leute wenig anderes tun, als im Schatten einer allgegenwärtigen terroristischen Bedrohung alte Filme auf winzigen Bildschirmen anzusehen, abstoßend extravagantes Essen zu sich zu nehmen und unvernünftige Schönheits-OPs durchführen zu lassen, als ‚prophetisch'. All dieses Zeug gab es in den 80ern schon. In gewisser Weise ist Brazil so sehr Dokumentarfilm wie Dystopie."

Ich wollte Gilliam nach seinen großen kulturellen Einflüssen fragen, einer Mischung aus Mad Magazine und der Bibel. „Natürlich habe ich die Bibel gelesen!", rief er. „In den 50ern war die Bibel das beliebteste Buch in Amerika! Im Gegensatz zu heute, wo sie niemand mehr liest, haben alle damals die Bibel gelesen."

Grimms Märchen hatten ebenfalls einen großen Einfluss auf Gilliam. Er sagt von den klassischen Märchen, sie seien genau so „verharmlost" worden wie auch das Alte und Neue Testament. „Das ist das Interessante daran", sagte er, „wir teilen eine Kultur, die diesen Geschichten entwachsen ist, und die Leute merken es nicht einmal."

Ob Buch oder Film, Gilliam hatte während unseres Gesprächs so viel Enthusiasmus für alles, was mit Fantasie und Fiktion zu tun hat. Er schüttete sich vor Lachen aus, als es darum ging, dass Hollywood-Studiobosse Romanautoren als „Content Creators" bezeichnen. Er verglich sie mit Goldeseln, die ausgenutzt werden. „Es geht nur um das amerikanische Konsumdenken und die Medien", sagte er. „Daran erinnert mich dieser Content-Creator-Scheiß."

Ich fragte ihn, ob er vorhabe, auch einen 3D-Film zu drehen. „Machst du Witze?", fragte er zurück. „Zu teuer!"

Vor Kurzem hat die Website Variety fälschlich Gilliams Tod verkündet. „Unheimlich lustig", sagte er dazu. „Solche Sachen machen die ständig!"

Da er offensichtlich noch mit beiden Beinen im Leben steht, wollte ich zum Schluss noch wissen, wie seine Zukunftspläne aussähen. Ein weiterer Film? Ein Band mit Illustrationen? Eine Graphic Novel?

„Ich werde einfach dasitzen und auf meinen Computer starren, wie ich es immer tue", antwortete er.