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Bundestagswahl 2017

Der ARD-Talk 'Überzeugt uns' hat gezeigt, wie egal den Parteien junge Wähler sind

Politiker sollten erzählen, was sie für junge Leute erreichen wollen. Die Antworten in der Einzelkritik.
Foto: ARD | Collage: Josefine Lippmann

Was kommt heraus, wenn sich die Redaktion eines öffentlich-rechtlichen Senders eine Show ausdenkt, die junge Wähler interessieren soll? Überzeugt uns! Der Politikercheck. Die Sendung lief vergangene Nacht in der ARD, sie war so wenig jung und echt wie Werbespots, in denen junge Menschen angestrengt Skateboard fahren oder breakdancen. Verantwortlich dafür: Tagesthemen-Moderator Ingo Zamperoni und die Autorin Ronja von Rönne sowie sieben Spitzenpolitiker der Parlamentsparteien, plus AfD und FDP.

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Aber geschenkt. Ein schlechter Talk tut niemandem weh. Man kann ihm mit Häme begegnen oder ihn ignorieren. Tragisch ist, dass Überzeugt uns offenbart, dass den Parteien Antworten auf die Frage fehlen, wie sie junge Wähler erreichen wollen. Das wurde besonders deutlich am Ende der Sendung. Moderator Ingo Zamperoni bat die Politiker, einen Satz zu vervollständigen: "Meine Partei ist die beste Wahl für junge Wähler, weil …"

Die Antworten in der Einzelkritik.

Cem Özdemir, Spitzenkandidat der Grünen, 51 Jahre

"… weil wir die Einzigen sind, die einen klaren Kompass haben beim Klimaschutz. Wir wollen dafür sorgen, dass das Auto sauber wird, dass gesunde Lebensmittel auf unsere Teller kommen, die Tiere dabei nicht gequält werden und Europa zusammengehalten wird."

Junge Menschen lieben Europa, weil das Erasmus-Jahr eine tolle Zeit ist, um sich durch den Kontinent zu saufen und zu vögeln. Klimaschutz und ethisch korrekte Lebensmittel sind jungen Menschen wichtig – gleichzeitig ernähren sie sich so beschissen wie immer und sind so mobil wie keine Generation vor ihnen. Wer heute grün wählt, muss längst kein Überzeugter sein. Viele Studenten und junge Großstädter fliegen von München zu ihren Freunden nach Hamburg oder fürs Wochenende nach London oder Bukarest. Die Grünen sind mittlerweile so konservativ und spießig geworden, dass sie längst über eine schwarz-grüne Koalition nach der Bundestagswahl nachdenken. Wer Veränderung will, wählt eher die Linke oder die AfD. Wer jung ist und will, dass alles bleibt, wie es ist, wählt CDU. Warum junge Menschen die Grünen wählen sollen, beantwortet die Partei momentan nicht.

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Alexander Gauland, Spitzenkandidat der AfD, 76:

"… weil junge Menschen eine Heimat brauchen und wir diese Heimat in Deutschland garantieren wollen."

Lokalstolz ist harmlos, wenn man im Bayerischen Wald Pilze sammelt und Bilder bei Instagram mit "#dahoam" versieht. Er ist gefährlich, wenn Heimat auf Ideologie trifft, auf Propaganda und Chauvinismus. Wenn aus Heimatliebe "#defendeurope" wird wie etwa beim Postergirl der Identitären Bewegung, Alina von Rauheneck. Man muss Gauland eines zugestehen. Leider. Mit seiner Antwort gelingt es ihm, das Alte-Herren-Thema "Heimat" auf die Jugend umzumünzen, ohne allzu gewollt zu wirken. Ohne es zu sagen, unterstützt er die durchgestylte Neurechte, deren einst schwarz-rot-weißes "Deutschland den Deutschen" nun "Europa der Vaterländer" heißt und für die Heimatgefühl ist "wie Drogen nehmen".

Katja Suding, stellvertretende Vorsitzende der FDP, 41:

"… weil wir ein liberales Menschenbild haben. Wir wollen den Einzelnen stark machen durch bessere Bildung. Wir wollen unsere Zukunftschancen nutzen, indem wir die Digitalisierung wirklich angehen."

Ist Digitalisierung wirklich das Stichwort, um Jungwähler aus dem Dornröschenschlaf ihres politischen Desinteresses zu küssen? Wenn man der FDP glaubt, ja. Fragt man Jungwähler, eher nein. In Deutschland will kaum jemand digitale Unternehmen gründen, die jungen Wähler glauben nicht, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze schaffen wird. Andererseits: Deutschland ist ein Entwicklungsland, wenn es um Breitbandnetz geht. Hätte Suding etwa versprochen, den Nahverkehr in allen großen Städten zuverlässig mit WLAN zu versorgen, hätte sie punkten können.

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"Hat dich einer von denen überzeugt?", fragt Moderatorin Ronja von Rönne ins Publikum. Die Antwort: "Nee, nicht so wirklich."

Jens Spahn, Mitglied im Parteipräsidium der CDU, 37:

"… wir nehmen die Menschen, auch die jungen, wie sie sind. Wir wollen nicht vorschreiben, was man ist, was man fährt, wie schnell man fährt, wie man wohnt. Das sollen Menschen selbst entscheiden."

Zu sein, wie man ist – dazu gehört, zu lieben, wen man will. Jens Spahn, ein Hardliner, wenn es um Menschenrechte für Flüchtlinge geht, ist vergleichsweise progressiv, wenn es um Bürgerrechte für Deutsche geht. Er ist schwul und stimmte für die Ehe für Alle – anders als etwa die Kanzlerin. Aber wieso widmet er sein Statement ausgerechnet dem Auto? Junge Menschen fahren Bahn, mieten sich ein Auto, wenn sie eins brauchen oder organisieren sich eine Mitfahrgelegenheit. Spahn ist das egal: Deutschland, die Autofahrer-Nation, verdient einen Autofahrer-Wahlkampf.

Katja Kipping, Parteivorsitzende der Linken, 39:

"… weil wir für eine Gesellschaft streiten, in der alle – auch Junge – frei von Armut sind. Heißt unter anderem, dass wir uns für ein elternunabhängiges BAföG in Höhe von 1.050 Euro stark machen."

Das BAföG zu erhöhen, ist ein kluger Gedanke. Das wollen auch SPD und Grüne. Aber die Linke will als einzige Partei, dass das BAföG komplett unabhängig vom Einkommen der Eltern gezahlt wird. Die Wünsche der Linken, BAföG und andere Leistungen für junge Familien und Studenten sollen 26 Milliarden Euro kosten. Die Linke will das über höhere Steuern für Reiche finanzieren. Ob die Rechnung aufgeht, ist die eine Frage, aber immerhin gelingt es Kipping bei Überzeugt uns, Jungwählern ein konkretes Angebot zu machen.

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Alexander Dobrindt, CSU, Bundesverkehrsminister, 47:

"… wir wollen Freiheit statt Bevormundung. Wir wollen Chancen statt Schulden. Wir wollen Innovationen statt Verbote, deswegen sind wir die beste Wahl."

Maximales Blabla – das ist bequem, aber in Bayern kann sich die CSU das leisten, wählen ja auch so genug Menschen die Partei. Sie regiert schon jetzt allein. Und wie es aussieht, wird sie das auch nach der nächsten Landtagswahl 2018 tun.

Ralf Stegner, stellvertretender Bundesvorsitzender SPD, 57:

"… wir wollen nicht Milliarden für Panzer und Drohnen ausgeben, sondern für Bildung. Für Zukunft. Für Familien. Wir wollen was tun, für ein Europa, das uns Frieden bringt und Wohlstand sichert."

Europa, klar! Wer einen Spitzenkandidat Martin Schulz hat, der setzt auf Europa. Das Problem: Wer sonst wenig hat, setzt auf Phrasen.

Antwort: das erste Mal in einer Talkshow sprachlos gewesen | Foto: Screenshot

Was bleibt also von Überzeugt uns? Katja Kipping war die einzige, die einen konkreten Vorschlag brachte, Alexander Gauland der einzige, der die Jugend deutlich ansprach. Bei den anderen wirkt es, als seien Jungwähler Beifang im Kampf um Wählerstimmen.

61,5 Millionen Menschen sind im September berechtigt zu wählen. Jeder Sechste von ihnen ist unter 30. Wie können Parteien das ignorieren?

Ein Grund könnte die niedrige Wahlbeteiligung junger Menschen sein. Sie wählen traditionell seltener als Ältere. Aber weil Senioren weiter zuverlässig wählen gehen und durch den demografischen Wandel immer mehr werden, heißt das im Umkehrschluss: Was die Jugend wählt, wird zunehmend irrelevanter. Die Politiker, die bei Überzeugt uns zu Gast waren, scheinen das verstanden zu haben.

CDU-Mann Jens "Ich will nicht auf Englisch bedient werden" Spahn twitterte nach Ende der Sendung sein vernichtendes Urteil:

Dabei entgeht ihm, dass Überzeugt uns eher die Politik parodiert, der junge Wähler egal sind. Aber wozu die Aufregung? Im Bundestag sitzen schon jetzt gerade einmal elf Abgeordnete unter 30. Nach aktuellen Umfragen werden es nach der Wahl noch weniger sein.

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