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Refugees im Orbit

"Ein fairer Dialog, nicht mehr und nicht weniger"

Im Gastbeitrag erzählt ein Flüchtlingsbetreuer, wie Asylsuchende in Österreich wirklich leben.

Foto: Gerhard Tuschla

Seit heute vor einer Woche bringen wir euch hier täglich unseren großen Sonderbericht über das Refugee Protest Camp Vienna: „Refugees im Orbit“ ist die Geschichte der hilfesuchenden Flüchtlinge, die in ihrer Votivkirchen-Kapsel um den Planeten Wien kreisen und im (politischen und menschlichen) Vakuum langsam vor die Hunde gehen.

Manchmal muss man erst einen Schritt zurücktreten, um einen Schritt vorwärts zu kommen. Das gilt bei großen Wandgemälden, verzwickten Streitsituationen und so ziemlich jedem politischen Thema, wo die Argumente in der Regel tieffliegen und zirka genauso unsauber enden wie bei Fäkalwerf-Wettbewerbe unter Baby-Schimpansen. In letzterem Fall kann ein Schritt zurück nicht nur die Gesamtsituation besser sichtbar machen, sondern auch eure einzige Chance darauf sein, nicht selbst mit Kot am Kragen aus der Sache auszusteigen. Wer jemals die Kommentare unter seinem eigenen Beitrag auf DerStandard.at gelesen hat, weiß, was ich meine — und alle übrigen, die den Troll-Mob kennen, der auf Standard.at vermeintlich linken Gastbeiträgen auflauert, vermutlich auch. Dabei ist daserste Opfer eines solchen Grubenkampfes nicht, wie Churchill immer wieder gern zitiert wird, die Wahrheit, sondern jede Wahrheit, die sich nicht in zwei Sekunden erfassen und in fünf Sekunden kommentieren lässt.

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Ich will hier wirklich nicht wie ein Jung-Opa aus Teenager werden Mütter klingen und euch mit alkoholgebrochener Stimme etwas über Entschleunigung oder die Zeit von Holzklötzen und gsunden Watschen erzählen (vor allem, weil ich Langsamkeit, Holz und Watschen auch zum Start meines vierten Lebensjahrzehnts noch genauso scheiße finde, wie jene 30 % meiner Mitsenioren, die bei der Volksbefragung gegen die Wehrpflicht gestimmt haben), aber ich möchte, dass ihr versteht, warum der heutige Beitrag nicht von mir, sondern von jemand anderem stammt, der selbst als Flüchtlingsbetreuer mitten in Wien tagtäglich mit den Schicksalen von Asylsuchenden aus aller Welt zu tun hat(te).

Also, abgesehen von dieser Einleitung natürlich. Die habe ich mir nicht nehmen lassen. Um euch zu sagen, dass unsere Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsthema nicht abrupt abreißt, nur weil ich ab sofort nicht mehr jede freie Minute für die Recherche rund um den Protest verwenden kann. Die Welt wuselt weiter und wir haben sie immer noch im Visier. Tatsächlich tun sich sogar gelegentlich Dinge, auch wenn das politische Patt in der Kirche manchmal den gegenteiligen Eindruck vermittelt. Damit das auch so bleibt, lassen wir jetzt die anderen erzählen. Der Autor arbeitet wie gesagt selbst in einem Heim für Asylwerbende in Wien und möchte anonym bleiben (sein Name ist der Redaktion bekannt).

Markus Lust auf Twitter: @wurstzombie

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STOCKBETTEN, STILLSTAND, STAGNATION

Vielleicht fällt es leichter, die Forderungen der Protestierenden vor der Votivkirche zu verstehen, wenn man den Alltag in einem Haus für Asylsuchende kennt. Ich würde jene Menschen, die Dinge von sich geben wie "Den Asylanten geht’s doch bei uns eh so toll", gerne mal einladen, eine Woche in jener Einrichtung als BewohnerInnen zu verbringen, in der ich einige Jahre neben dem Studium gearbeitet habe.

In besagtem Haus wohnen mehr als 100 Menschen, über die Hälfte davon sind alleinstehende Männer. Diese sind in einem eigenen Trakt untergebracht, wo sie in Zimmern zu rund 6 bis 8 Personen schlafen. Dass sie in Stockbetten mit alten Federkernmatratzen untergebracht sind, ist wohl kein großes Geheimnis. Die Menschen kommen aus den verschiedensten Ländern wie z. B. Afghanistan, Russland, Tschetschenien, China, Pakistan oder Nigeria stammen und werden aus logistischen Gründen gemischt in den Zimmern untergebracht. Das Konfliktpotential, das durch diese Mischung entsteht, ist natürlich groß, weil die Zimmer auch zum Leben geteilt werden und viele den ganzen Tag in den Zimmern bleiben, da sie weder Arbeit noch Geld für Freizeitaktivitäten haben.

KEIN GELD VOM STAAT, SONDERN NUR DIE MÖGLICHKEIT, ES ZU VERDIENEN

Im Parterre der Einrichtung gibt es Gemeinschaftsduschen für Männer und Frauen, wobei Kinder in die Frauendusche mitgenommen werden können. Um zur Dusche zu gelangen, müssen sie zuerst — und auch im Winter — durch den Hof. Die Asylwerber erhalten ein kleines Taschengeld, das meist knapp ausreicht, um für den jeweiligen Monat Nahrung zu kaufen. Es kam aber auch schon vor, dass jemand nach Aufbrauchen seines Geldes schwarz U-Bahn fahren musste, dabei erwischt und so zu einem "straffällig gewordenen Asylwerber"wurde. Viele der Bewohner sagen, sie würden gerne Geld für einen Neustart sparen, falls der Asylbescheid positiv wird. Dabei verlangen sie nicht mehr Geld vom Staat, sondern nur die Möglichkeit, es sich selbst verdienen zu können.

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Eine positive Erfindung des österreichischen Sozialsystems, von dem ausnahmsweise sogar Asylwerber profitieren, ist der sogenannte Kulturpass. Mit ihm können sozial schwache Menschen eine Vielzahl an kulturellen Einrichtungen der Stadt Wien oder an der Aktion beteiligten Kooperationspartnern gratis besuchen. Einer der Bewohner erzählte mir, dass er das Angebot zwar annimmt und liebt, er könne die Museen und Theaterstücke aber nur sehen und nicht genießen. Als ich ihn fragte, was er damit meine, sagte er, wirklich genießen könne man so etwas nur in der Freizeit. Um echte Freizeit zu haben, müsse man aber auch einem echten Job nachgehen können.

Keiner scheint zu wissen, nach welchen Kriterien die Asylbescheide beschlossen werden. Nach Angaben der BewohnerInnen sei es ein reines Glücksspiel. So gibt es — relativ selten — Leute, die bereits nach drei Monaten einen positiven oder negativen Bescheid bekommen. Genauso gibt es Menschen, die bereits zehn Jahre auf ihren Bescheid warten.

Das Warten, die Ungewissheit und der Umstand, zum Nichts tun verdammt zu sein, ist für die BewohnerInnen das Schlimmste – da sind sich alle einig. Ein Tag ist wie der andere und psychische Probleme, die meist ohnehin durch Traumata in den Herkunftsländern begünstigt werden, keimen in solchen Situationen noch verstärkt auf.

EIN FAIRER DIALOG, NICHT MEHR UND NICHT WENIGER

Bei einem Gespräch frage ich einen Asylwerber aus Tschetschenien, der mittlerweile seit sechs Jahren in Österreich lebt, nach den Gründen für die Besetzung der Votivkirche. Obwohl er selbst nie dabei war, unterstützt er die Forderungen der Protestierenden: "Das Leben als Asylwerber in Österreich ist, wie sagt man …"einige Sekunden sucht er nach Worten, um dann fortzufahren: "ausweglos und hoffnungslos."Mit den Behörden zu sprechen sei nicht nur aufgrund der Sprachbarriere unmöglich. Diese ließe sich ja noch relativ einfach überwinden. Vielmehr seien die Betroffenen einfach zu oft auf taube Ohren gestoßen, wenn es um ihre Rechte und Anliegen geht. Er denkt, dass es keine Alternative als eine derartige Aktion gäbe, um sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen.

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Seine Situation beschreibt er so: "Wenn du einmal einige Jahre hier bist, kannst du auch nicht mehr einfach so zurückkehren. Abgesehen davon, dass es noch Gefahren in den Heimatländern gibt, hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Und eine Familie, die auf mich wartet, habe ich nicht."Auf die Frage, was er sich von der Besetzung erwartet, antwortet er: "Einen fairen Dialog. Nicht mehr und nicht weniger."

ALS NÄCHSTES: MEHR GASTBEITRÄGE UND FOTOSSTRECKEN


ZULETZT BEI REFUGEES IM ORBIT:

4: Die Aktivisten, das sind die anderen!

In Teil 4 der Sonderreihe stellen wir uns die Frage, warum manche eigentlich so ein Problem damit haben, sich die Flüchtlinge als eigenständige, mündige Wesen vorzustellen.

5: Das Ute Bock Interview
In Teil 5 interviewen wir für euch Ute Bock - die Frau, ohne die das Flüchtlingsthema heute noch viel weniger in der Öffentlichkeit präsent wäre und den guten Geist Österreichs.

6: Alles auf Anfang?
Zum Abschluss von Markus' Berichtsreihe kommen auch noch die Skeptiker zu Wort, die nicht aus ideologischer Parteiprägung, sondern aus Erfahrung ein anderes Bild von Traiskirchen zeichnen.