Gaspar Noé kam für Presseinterviews zu seinem neuen Film 'Climax' nach Berlin
Alle Fotos: Viktoria Grünwald

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Popkultur

Interview mit Gaspar Noé: "Die Menschheit war schon immer psychotisch"

In 'Climax' zeigt der Skandalregisseur, wie schlimm ein Drogentrip enden kann. Wir haben mit ihm über furchtbare Partys und echten Sex in einer "schizophrenen Welt" gesprochen.

Gaspar Noé sitzt in einem Berliner Hotel, direkt neben der Weinbar, und lächelt breit. Nicht sein teuflisches Pressefoto-Lächeln, sondern ein echtes. Dabei hat der 54-Jährige zwischen seinen Interviewterminen nicht einmal Zeit für eine Raucherpause. Und die sind ihm wichtig. Gaspar Noé ist in Berlin, um über seinen aktuellen Film Climax zu reden, und mit dem hat der Skandalregisseur etwas geschafft, was ihm in seiner fast 30-jährigen Karriere noch nie gelungen ist – die Leute lieben ihn. Climax handelt von einer Tanzgruppe, die im französischen Hinterland auf eine gelungene Choreografie anstoßen will. Das Problem: Jemand scheint LSD in den Sangria gekippt zu haben, jeder verdächtigt jeden und plötzlich wird aus dem spektakulär inszenierten Musical ein Horrorfilm, der ein für allemal die Frage beantwortet, wie eine Hölle auf Erden konkret aussehen könnte. Der Film, der am 6. Dezember 2018 in deutschen Kinos anläuft, ist atemberaubend, beklemmend, ernsthaft berührend – und trotzdem weiß man am Schluss nicht, ob man jemandem ernsthaft empfehlen sollte, Climax zu gucken. Ich starte die Sprachaufnahme. Bevor ich die erste Frage stellen kann, will Gaspar Noé allerdings etwas von mir wissen – wie ich den Film finde.

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VICE: Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wie ich mich danach fühlen soll. Irgendwie leer, irgendwie kaputt – welches Gefühl soll der Film denn auslösen?
Gaspar Noé: Bei Filmfestivals hast du ein eher junges Publikum und die mochten den Film. Die, die niedergeschlagen aus dem Film kommen, sind meistens schon Ende 30 oder in ihren 40ern. Weil der Film sie an all diese Situationen erinnert, in denen sie zu betrunken waren und einen Blackout hatten, in denen die Situation einfach eskaliert ist. Die schon mal jemanden beleidigt haben und sich am nächsten Tag nicht daran erinnern konnten, die in eine körperliche Auseinandersetzung geraten sind, ohne zu wissen, wie es überhaupt dazu gekommen ist. Manche Partys sind super, andere sind schrecklich. Und manche guten Partys kippen und werden zu etwas Schrecklichem. Der Film versetzt einen in die Situationen zurück, in denen man die Kontrolle verloren hat. Danach fühlst du dich irgendwie dreckig.

Das heißt, du hattest ähnliche Erfahrungen wie die Figuren in Climax?
Nein, natürlich nie so dramatisch. Aber ich habe mit 13 angefangen, Sangria zu trinken, zusammen mit meinen Freunden in der Schule. Und Ich weiß auch noch, wann ich das letzte Mal einen Blackout hatte. Ich war zwar körperlich da, bin aber am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen aufgewacht und wusste nichts mehr. Ich musste meine Freunde fragen, was an dem Abend passiert ist. Die meinten dann, es wäre ein lustiger Abend gewesen und ich hätte mit allen getanzt, aber allein die Tatsache, dass ich mich daran nicht mehr erinnern konnte, dass ich nicht mehr wusste, ob ich mit einem Taxi nach Hause gefahren bin … Dafür habe ich mich geschämt.

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Das letzte Mal traf ich Noé 2015 zum Interview, für seinen Film Love. Auch damals saßen wir uns am frühen Nachmittag in einem Hotel gegenüber und redeten über all die Themen, über die der Regisseur am liebsten redet: Liebe, Sex, Exzess. Damals stand allerdings ein Glas mit Wodka und Orangensaft aus der Minibar vor ihm, heute trinkt er Kaffee. Er versuche, keinen weißen Alkohol mehr zu trinken, sagt er. Lieber Bier. Ist der Mann, dessen Filme sich immer auch um Kontrollverlust und Rausch drehen, etwa brav geworden?

Du hast vor ein paar Jahren bei einem Filmfestival mal gesagt, dass dir nicht gefällt, wie die meisten Filme Drogenkonsum als etwas sehr Negatives darstellen. Dass einige der besten Erfahrungen, die du in deinem Leben gemacht hast, passiert sind, als du drauf warst.
Bei Alkohol, Drogen und selbst beim Tanzen ist es so: Wenn du mit Leuten tanzt, die lustig sind, mit denen es Spaß macht, dann ist das eine tolle Erfahrung. Wenn du aber irgendwo bist, wo du den Ort nicht magst, die Musik nicht magst, die Leute nicht magst und dich jemand dazu zwingt zu tanzen, dann ist es ein Albtraum. Wenn du dich dazu entscheidest, die Kontrolle abzugeben, dann solltest du von Leuten umgeben sein, mit denen du dich wirklich wohlfühlst. Außerdem können Alkohol, Kokain und andere Substanzen das Verhalten von Leuten total verändern. Du könntest mit der nettesten Person der Welt unterwegs sein, aber in dem Moment, wo sie anfängt zu trinken, schaltet sie den rationalen Teil ihres Gehirns aus. Wenn das Umfeld und die Leute um einen herum nicht stimmen, kann die Situation für alle gefährlich werden.

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Glaubst du, dass Menschen, die Erfahrungen mit Drogen hatten, Drogenerfahrungen in Filmen besser darstellen können?
Eigentlich geht es in dem Film gar nicht um Drogenkonsum, sondern um eine Gruppe von Leuten, die plötzlich glauben, in großer Gefahr zu schweben. Und dadurch kommen dann die anderen Seiten ihrer Persönlichkeiten hervor. Es gibt zwar die Vermutung, dass jemand etwas in die Sangria gemischt hat. Vielleicht ist es ein bisschen Ecstasy, vielleicht ist gar nichts drin. Aber es geht gar nicht so sehr darum, was hinein gemischt wurde oder wie viel, sondern dass es eine kollektive Paranoia gibt, dass die Leute ausrasten. Sie werden aggressiv, weil sie Angst haben. Der Film soll Drogenkonsum nicht schönreden oder verurteilen, aber es kann gefährlich werden, die Kontrolle zu verlieren. Das will ich zeigen.

Welche Filme gehen mit Drogen und Rausch so um, wie es deiner Meinung nach richtig ist?
Es gibt diesen Film, der vor 38, 40 Jahren sehr groß war. Da wurde Heroinkonsum dargestellt, wie es heute niemand mehr macht. Christiane F. – was war der deutsche Titel?

Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.
Genau. Der war meine visuelle Inspiration für den Film. Der Film zeigt auf sehr realistische Art und Weise, warum Heroin für viele so attraktiv und gleichzeitig so zerstörerisch war. Alles ist farblich so intensiv und traurig und dreckig. Für manche Zuschauer war der Film abschreckend, für andere hat er dazu geführt, dass sie sich erst recht für Heroin interessiert haben. Wenn du etwas darstellst, kannst du deutlich machen, dass du es ablehnst, oder du versuchst zu verstehen, was dahintersteckt. Es gibt dieses Zitat von Nietzsche: "Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." Wenn jemand sehr viele Gangbang-Pornos guckt, würde er das wahrscheinlich auch irgendwann ausprobieren wollen, und wenn du sehr viele Filme guckst, in denen es um Drogenkonsum geht, willst du die Drogen, die gezeigt werden, vielleicht auch mal ausprobieren.

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Auch auf VICE: Gaspar Noé über seinen Film 'Love'


Hast du manchmal Angst, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer dich missverstehen? Dass sie denken, du glorifizierst etwas, was eigentlich niemand nachmachen sollte?
Ich bin kein Pfarrer, ich mache Filme. Ich habe kein Interesse daran, anderen Menschen eine Position dazu weiterzugeben, was gut und was böse ist. Filme sind eine billige Imitation des Lebens. Wir wissen, dass das auf der Leinwand gerade nur ein Schauspieler ist, der so tut, als hätte er gerade Spaß oder würde gerade leiden. Leute gucken sich das gerne an, weil sie es aus einer sicheren Position heraus tun. Sie sitzen in einem dunklen Raum mit Leuten, die ihnen wahrscheinlich nichts Böses wollen, und gucken sich 90 Minuten lang das Leben einer anderen Person auf einer großen Leinwand an. Vielleicht lernen sie etwas daraus, vielleicht nicht. Ich liebe die Filme von Fassbinder und Pasolini, weil sie so grausam sind. Und das heißt, sie nehmen ihre Arbeit ernst.

Ich frage, weil die Vergewaltigungsszene aus deinem Film Irreversible mittlerweile auf mehreren Pornoplattformen hochgeladen wurde.
Wahrscheinlich sind auch Szenen aus meinem letzten Film Love auf irgendeiner Pornoseite gelandet. Da wollte ich Leidenschaft zwischen zwei Personen in ihren Zwanzigern zeigen, und das kann ich natürlich nicht, wenn ich keine Nacktheit oder menschliche Berührungen zeige. Ich finde es seltsam, wie heutzutage alles Sexuelle dazu verurteilt ist, auf Pornoseiten stattzufinden. In den 70ern und 80ern gab es Erotikmagazine. Die waren größtenteils mit Nacktbildern von Frauen, es gab aber auch welche mit Männern wie Playgirl, das sich explizit an Frauen gerichtet hat, oder Magazine für schwule Männer – wenn auch nicht so viele für lesbische Frauen. Auch in Filmen gab es mehr Erotik und Nacktheit und das war alles in Ordnung.

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Und jetzt? Sind wir prüder geworden?
Heutzutage wird die Darstellung von Sexualität immer mehr verteufelt. Wenn ein junger Mensch sehen möchte, wie sein zukünftiges Sexleben aussehen könnte, muss er auf Pornoseiten gehen und wird mit Gangbangs konfrontiert. Pornoseiten sind eine Imitation menschlicher Lust, die aussieht, als würde man sich an der Fleischtheke im Supermarkt befinden. Das hat nichts mit den echten Erfahrungen zu tun, die man in seinem Leben machen wird.

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Was macht denn "echte" sexuelle Erfahrungen aus?
Wenn du Sex hast oder feierst, wenn du die Kontrolle abgibst und Spaß hast, passiert das im Zusammenhang eines kompletten Tages, der innerhalb einer Woche liegt. Es geht um Verbindungen, die man mit Menschen aufbaut und wieder verliert. Pornos zeigen Sex komplett losgelöst von einer Geschichte. Er wird darauf reduziert, dass ein Genital oder eine Zunge mit einem anderen Genital in Berührung kommt. Das ist so weit vom echten Leben entfernt. Wir diskutieren offen darüber, welches Land ökonomisch am stärksten ist und welches das größte Militär hat, wir haben Unterwerfungsfantasien gegenüber anderen Nationen, aber die natürlichsten Teile des Menschseins, die noch eine Verbindung zu unserer animalischen Seite haben, werden verteufelt. Die Welt wird immer schizophrener. Hast du Houellebecq gelesen?

Das aktuellste Buch, Unterwerfung?
Nein, Les Particules élémentaires. Da gab es auch einen deutschen Film.

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Elementarteilchen.
Genau. Da wird aufgegriffen, wie die Pille das sexuelle Verhalten und romantische Beziehungen verändert hat. Wie sich Leute von den katholischen Vorstellungen zu Sex gelöst haben und dazu ermutigt wurden, Lust zu empfinden und nicht mehr von anderen abhängig zu sein. Aber eben auch, wie Leute immer einsamer werden. Du bist nicht mehr Teil einer Gruppe, du konkurrierst mit dem Rest der Welt. Heute sind die Leute viel wettbewerbsorientierter und psychotischer als vor 30 Jahren. Obwohl: Die Menschheit war eigentlich schon immer psychotisch.

Unsere offizielle Gesprächszeit ist vorbei, wir müssen jetzt Fotos machen. Nach drei, vier Bildern vor der roten Wand im Hotelzimmer schnappt sich Gaspar Noé seine Zigarettenpackung. Ob wir nicht lieber noch draußen ein paar Fotos machen wollen? Das wäre doch interessanter. Vor allem aber will er rauchen. Noé kann nicht lange stillstehen. Alle paar Sekunden wechselt er die Position, posiert mal vor der Außenwand eines Hauses, dann bei den Klingelschildern im Hauseingang. Die 30 Minuten sind deutlich überzogen, als der Regisseur das Shooting beendet. Seine Freundin ist da, die beiden sind zum Essen verabredet. Am Abend gibt es eine Vorführung von Climax, bei der er anwesend sein soll, davor muss er noch mehr Interviews geben. "Ihr habt Menschenfeind verachtet, ihr habt Irreversible gehasst, ihr fandet Enter The Void abstoßend, ihr habt Love verflucht. Jetzt versucht es mal mit Climax", steht auf einem der aktuellen Filmplakate. Eigentlich wollte Gaspar Noé nie geliebt werden. Jetzt scheint es ihm doch ganz gut zu gefallen.

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