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Kunst

Ich habe mir einen Mann gebastelt

Gemeinsam mit ihrem imaginären Freund aus Ton erforscht die Künstlerin Mary Stephenson das Verhältnis unserer Gesellschaft zu Romantik und Beziehungen. Wir haben sie in ihrem Atelier in London besucht, um mehr über ihren aktuellen Beziehungsstatus zu...
Mary Stephenson

Manche Leute sagen, man verliebt sich immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet und ich schätze, da könnte tatsächlich etwas Wahres dran sein, denn nachdem ich aufgehört hatte zu suchen, stand er plötzlich vor mir.

Nachdem ich bereits seit einem Jahr lang Single war, begann ich langsam zu verzweifeln. Ein guter Freund von mir macht immer Witze darüber, dass ich irgendwann allein sterben werde, worüber wir beide immer herzlich lachen müssen—zumindest dachte ich immer, dass es zum Lachen wäre. Doch seit Kurzem frage ich mich, ob er nicht einfach nur versucht, mir die Wahrheit zu sagen.

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Unter diesen Umständen—ich will nicht alleine sterben—schien es die einzig richtige Entscheidung zu sein, sich einen imaginären Partner zuzulegen und so habe ich schließlich Callum kennengelernt—während ich ihn an einem sonnigen Nachmittag im September aus Lehm geformt habe.

So wie Gott Adam aus Erde erschaffen hat, habe ich Callum aus Farbe und Ton geformt: Ich habe ihn nach dem Ebenbild eines Hipsters aus dem Osten Londons geschaffen, damit er vor der Damentoiletten eines Raves auf mich wartet und mich durch meine MDMA-induzierten Albträume löffelt. Glücklicherweise stand mir die Malerin Mary Stephenson die ganze Zeit über helfend zur Seite—denn ganz offensichtlich sind meine künstlerischen Fähigkeiten genauso gut wie mein Männergeschmack.

„My Man" von Mary Stephenson

Stephenson lebt in London und erschafft lebensgroße Freunde aus Farbe, Ton und Papier, mit denen sie sich in kunstvoll inszenierten lebenden Bildern fotografiert. Mithilfe ihrer Requisiten wirft sie einen Blick auf die Lebensweisen der Generation Y und stellt sie auf spielerische Art und Weise nach—sei es mit einer leeren Corona-Flasche oder mit einem Supreme-Shirt. Stephenson posiert mit ihren imaginären Freunden (denen sie bewusst keine Namen gibt) in Szenen, die nicht mehr oder weniger gestellt sind als jedes andere Facebook-Profilbild und hinterfragt damit unseren gegenwärtigen kulturellen Spleen für romantische Beziehungen—um jeden Preis.

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„Vor drei Jahren war ich auf einer Hochzeit, wo mich jemand gefragt hat, wie lange ich denn schon Single wäre", erinnert sich Stephenson. „Als ich ihm sagte, dass ich seit drei Jahren Single bin, meinte er nur: ‚Was für eine Verschwendung.' Das hat mich echt umgehauen."

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Wir stehen in Stephensons lichtdurchflutetem Atelier direkt über dem Londoner Ridley Road Market, wo es aufgetaute Buntbarsch zu Kilopreisen, falsche Gucci-Taschen, Körbe voller Limetten und Dashikis zu kaufen gibt. Gerüchten zufolge soll kann man dort sogar illegal Rohrratten kaufen. Ich habe einmal den Kadaver einer ganzen Kuh gesehen, der sorgfältig in der Hälfte zerteilt und in einem Einkaufswagen die Straße hinunter gerollt wurde. Es scheint also wohl kaum einen besseren Ort zu geben, um sich über Liebe und Beziehungen zu unterhalten—immerhin gibt es ja auch genug Menschen, die die missliche Lage eines Dauersingles mit dem Schicksal der Kuh im Einkaufswagen vergleichen würden: Ein bemitleidenswerter und widerlicher Anblick.

„My Man" von Mary Stephenson

„Zuerst war ich ziemlich beleidigt", erzählt Stephenson weiter. „Immerhin hatte er mich gerade erst kennengelernt und wusste nicht, wer ich bin und trotzdem dachte er, ich hätte drei Jahre meines Lebens verschwendet. Nach einer Weile fing ich dann an, darüber nachzudenken, wie wir unsere Beziehungen in Szene setzen und uns gesellschaftlich darüber definieren. Daraus entstand dann schließlich meine Serie My Man."

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Stephenson hat bildende Künste an der Kunsthochschule in Glasgow studiert. Schon so lange sie sich zurückerinnern kann, hatte sie immer davon geträumt, selbst ein körperliches Element ihrer Lieblingskunstwerke zu werden—wie Marry Poppins, die in eine Kreidezeichnung springt. „Ich fand die Grenze zwischen der zwei- und dreidimensionalen Welt schon immer sehr widersprüchlich", erklärt sie. „Als ich klein war, wollte ich in Gemälden leben—darauf beruht meine Arbeit, nur dass ich jetzt eben dreidimensional arbeite." Inspiration findet Stephenson bei anderen Künstlern, die sich selbst ins physische Zentrum ihrer Arbeit stellen, wie die französische Neorealistin Marisol.

Die Sammlung der Ex-Freunde. Foto: Alice Zoo

Während ich mir Stephensons Sammlung aus Ex-Freunden, die sorgfältig nebeneinander auf der Fensterbank aufgereiht sind, etwas genauer ansehe, frage ich, ob jeder von ihnen eine eigene Persönlichkeit, einen eigenen Namen oder eine Hintergrundgeschichte hat. „Nein, deswegen haben sie auch die Augen zu. Andernfalls bekämen sie zu viel Charakter. Ich schätze, sie sind so etwas wie die Platzhalter innerhalb der Aufführungen, die ich zu inszenieren versuche." Sie erklärt, dass sich die Freunde zwar ändern, ihre Arbeit aber der linearen Geschichte einer realen romantischen Beziehung folgt. Tatsächlich hat sie ihren Freunden erst vergangene Woche einen ihrer imaginären Freunde vorgestellt (und es lief ganz offensichtlich ziemlich gut).

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Stephenson stellt ihren Freunden einen ihrer imaginären Freunde vor. Foto: Teil aus der Serie „My Man" von Mary Stephenson

Unter Stephensons wachsamen Blick beginne ich mit dem gesichtlosen Mann aus Ton zu ringen, der schon bald mein neuer Freund werden sollte. Mit den Daumen bohre ich ihm Löcher für seine Augen und überarbeite anschließend noch einmal seine Nase, weil meine Fotografin Alice unbedingt anmerken musste, dass er mit seiner Nase eine gewisse Ähnlichkeit mit Dr. Zoidberg aus Futurama hat. Ich fühle mich wie Demi Moore in Ghost—wenn Patrick Swayzes Gesicht aus Versehen über der Flamme einer Kerze geschmolzen wäre und sie bei der Remodellierung gepfuscht hätte.

Ich verpasse ihm eine markante Nase und ausgeprägte Wangenknochen: Der Knochenbau ist extrem wichtig—vor allem, da er vererbbar ist. „Du brauchst noch Haare", sagt Stephenson und rollt noch ein wenig Ton für mich aus. Aus Gründen, die ich mir selbst nach wie vor noch nicht erklären kann, entscheide ich mich für einen 90er-Jahre Boybandmatte mit Mittelscheitel. „Mittelscheitel ist in Berlin gerade total angesagt", versuche ich mich zu rechtfertigen.

Beim Formen der Nase. Foto: Alice Zoo

Obwohl Stephenson ihren Männern keine Namen gibt, habe ich irgendwie das Gefühl, dass ich es doch tun sollte. Einen Freund zu haben, sollte gewisse Vorteile mit sich bringen und ich möchte nicht jedes Mal, wenn er meinen Kaktus gießt oder meine Auster knackt, sagen müssen: „Danke, Ding." Mit sakraler Feierlichkeit verkünde ich: „Hiermit gebe ich dir den Namen Callum." Jetzt, wo er einen Namen hat, wirkt es auch nur konsequent, dass ich mir eine Hintergrundgeschichte für ihn ausdenke. „Womit verdient Callum sein Geld?", frage ich mich selbst laut.

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Glücklicherweise ist Alice sofort zur Stelle und hat eine unerwartet spezifische Antwort. „Er ist Chefkoch in einem Food Waste Café", ruft sie. „Er ist aber kein Veganer. Er isst Fleisch, aber eher selten—nur zum Genuss, mehr an den Wochenenden und auch nicht viel … und nur Biofleisch." Fragend sehe ich mir Callums markante Gesichtswindungen an und stimme schließlich zu: „Dieses Gesicht ist das Gesicht eines verantwortungsvollen Fleischessers."

Stephensons Requisiten. Foto: Alice Zoo

Während wir—Stephenson, Alice und ich—herumstehen und uns eine Geschichte für Callum ausdenken, wird mir allmählich klar, dass wir genau das im Endeffekt mit all unseren romantischen Eroberungen machen: Wir idealisieren sie vor unseren Freunden und romantisieren alles, was sie tun. Wenn uns aber etwas von dem Bild, das wir uns in unserem Kopf geschaffen haben, abbringt, machen wir Schluss—die Welt der hyperspezifischen Dating-Apps bietet schließlich unbegrenzt viele Möglichkeiten.

„Die Vorstellung, dass Leute einen gewissen Typ haben, fasziniert mich immer wieder", sagt Stephenson, während sie Callums Wangenknochen sorgfältig konturiert. Sie gibt die Farben auf einen Servierwagen aus Metall und mischt sie grob mit einem Pinsel. „Wenn man einen speziellen Typ hätte", meint sie weiter, „wäre man dann nicht noch immer mit dem Typen zusammen, mit dem man seine erste Beziehung hatte?"

Beim Bemalen von Callum. Foto: Alice Zoo

Gemeinsam bemalen wir Callums Gesicht. Er sollte eigentlich einen Ohrring bekommen, aber der Ton bröckelt und fällt schließlich ganz ab. Behutsam malt ihm Stephenson einen kleinen goldenen Ring auf sein Ohr, während ich seinen Mittelscheitel abdunkle. „Er sieht aus wie jemand, der einen eigenen Piratensender hat, auf dem den ganzen Tag Acid House läuft", stellt Alice fest. Genau so wollte ich ihn haben.

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Während wir Callum zum Trocknen auf die Fensterbank stellen, stelle ich Stephenson eine letzte Frage: Glaubt sie an Romantik? „Da bin ich zwiegespalten. Ich will nicht einfach nur dagegen sein, aber ich glaube auch nicht, dass ich meinen Beziehungsstatus definieren muss. Ich bin eine junge Frau und genieße es, neue Leute zu treffen und mich zu verlieben. My Man ist keine Anti-Beziehung—es geht um unsere Erwartungen an Romantik und wie wir unser Leben inszenieren."

Ich verabschiede mich von Stephenson und gehe allein nach Hause (Callum braucht etwas Zeit, um sich einzurichten). Auf dem Nachhauseweg tue ich das, was alle Menschen tun, die frisch in einer neuen Beziehung sind: Ich wende mich an die sozialen Medien, um mir die nötige Bestätigung zu holen. Ich lade das hübscheste Foto von uns beiden hoch, auf dem wir gemeinsam lachen und warte auf das süße betäubende Summen, das zeigt, dass meine Social-Media-Präsenz dazu geführt hat, dass sich die anderen angesichts ihres Lebens schlecht fühlen.

Mein Freund nach seinem letzten Finish. Foto: Alice Zoo

Nichts. Ich bleibe kurz stehen. Keine Benachrichtigungen. Mein Blick verfinstert sich. Kann es sein, das mein Online-Avatar nicht den Neid bei den anderen Social-Media-Usern hervorgerufen hat, nach dem sie sich alle so sehr sehnen?

Ich vergrößere meinen Wirkkreis und schicke meiner Broadly-Kollegin Zing ein Foto. „Was ist mit seinem Mund?", fragt sie. Ich werfe einen genauen Blick auf das Foto auf meinem Handy. Mir ist noch nie zuvor aufgefallen, wie wulstig seine Lippen sind—aber sie hat recht. Sein Mund ist total runzelig und verquollen, wie ein Typ mit einem Überbiss, der nach dem Oralsex wieder auftaucht und erst einmal nach Luft schnappen muss, während man selbst eher unbeeindruckt geblieben ist.

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Irgendwann bekomme ich eine private Nachricht über Twitter. „Das will ich auch", meint eine Freundin. „Wirklich?", antworte ich hoffnungsvoll.

„Nein, er sieht aus wie ein Verbrennungsopfer", antwortet sie. „Sein Gesicht sieht aus, als wäre es geschmolzen."

Nennt mich ruhig oberflächlich, aber das war's für mich. Mein Freund aus Ton ist Geschichte. Wer würde sich schon freiwillig mit John Travolta sehen lassen wollen?