Menschen

Frau, alleine, nachts: Ich fühle mich im Lockdown noch unsicherer als sonst

"Ey, willst du ficken?"
Frau in einer dunklen Straßenunterführung
Foto: Imago Images | Imagebroker || Bearbeitung: VICE

Am 27. März schreibe ich mit silberfarbenem Lackstift in mein Tagebuch: "AUSGANGSVERBOT FÜR MÄNNER! JETZT!". Die Buchstaben sind lang und kantig und gehen über das gesamte A5-Blatt.

Die Schrift ist so wütend, wie ich es an diesem Abend war. Seit zwei Wochen war ich damals bereits in freiwilliger Selbstisolation und habe das Haus nur für das Allernötigste verlassen: einmal am Tag laufen, einmal in der Woche einkaufen, viermal am Tag raus mit meinem Hund. Keine Freundinnen, kein Essen abholen bei Restaurants, keine sozialen Kontakte in der analogen Welt. Dass sich nicht nur mein Verhalten, sondern auch mein Sicherheitsgefühl verändert, merke ich in dieser Zeit daran, dass ich googel, wann die Sonne untergeht. 18:13 Uhr. Diese Uhrzeit ist weit davon entfernt, das Ende meines Tages zu sein. Aber das Haus möchte ich danach eigentlich nicht mehr verlassen. Würde ich auch nicht – wäre da nicht mein Hund Tito, dessen Gassi-Bedürfnis nicht zu meiner wachsenden Sorge passt.

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Diese Sorge schleicht sich mit Corona in meinen Alltag. In meinem Grätzel – Kiez, wie man in Deutschland sagen würde – ist seit der Pandemie abends nichts mehr los. Deswegen empfinde ich jede Begegnung mit einem fremden Mann, der mich anspricht, als potentielle Gefahr. Mehr als sonst. Freundinnen geht es ähnlich. "Ich fühle mich abends unsicherer als früher", sagt eine meiner Freundinnen, die einen systemrelevanten Job hat und deswegen noch viel draußen unterwegs ist. Sobald es dunkel wird, bleiben wir weitestgehend zu Hause.

Es ist nicht so, als wäre sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum ein neues Phänomen. Aber die Umstände sind anders: Die Straßen sind leerer. Die Menschen weichen einem aus. Man lächelt sich noch seltener an als sonst. Wenn ich das Haus abends verlasse, ist mein Nacken angespannter als sonst. Ich bin konzentriert, in der einen Hand halte ich die Leine meines Hundes, in der anderen meinen Hausschlüssel. Ich fühle mich nach und nach weniger sicher. Das zeigen meine Tagebucheinträge.

Neben meinen eindringlichen Wunsch (Ausgangsverbot!), der sowohl als Graffiti an einer Hauswand gesprayt oder aber ein Titel meiner Kolumne sein könnte, steht da:

Direkt vor der Haustür ungut angemacht zu werden, hat mir echt noch gefehlt. Und der Mann weiß jetzt auch, wo ich wohne. Wieso ignorieren fremde Männer immer wieder meinen offensichtlichen Versuch, sie zu ignorieren? Und in welcher Welt sind Schmatzgeräusche eine gute Idee, um jemanden nachts anzusprechen? Ich habe es so satt. Einen Wortwechsel später; ich spreche sehr harsch, er sehr schmierig, wechsle ich die Straßenseite. Ich verfluche Tito für seine träge Art. Was soll ich machen, wenn der Mann mir folgt? Da ist niemand, in dessen Richtung ich gehen könnte, so wie ich es in solchen Situationen sonst immer mache. Einen Schweißausbruch später ruft er mir obszöne Dinge hinterher, geht mir aber nicht nach. Aufatmen.

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Ich weiß, dass die Forderung nach einem Ausgangsverbot für Männer unrealistisch und irrational ist. Deswegen steht sie ja auch nur in meinem Tagebuch. Aber mein Sicherheitsgefühl verschiebt sich mit jeder unangenehmen Situation, in die mich Männer während dieser Coronakrise bringen. Mal rufen mir zwei aus einem weißen Kombi zu, dass sie mich gerne ficken möchten. Da ist jetzt keine Passantin, die an mir vorbeigeht und mit mir den Kopf schüttelt. Ein anderes Mal höre ich auf dem Weg in den Hundepark eine Gruppe junger Männer auf meiner Muttersprache Bosnisch über mich sprechen. Bei deren Wortwahl hätte ich für einen Moment gerne darauf verzichtet, sie zu verstehen. Außerdem treffe ich hier sonst oft meinen serbischen Nachbarn und plausche mit ihm. Den habe ich seit des Corona-Lockdowns nicht mehr gesehen.

Statistisch gesehen sind meine Sorgen irrational. Die Straßenkriminalität geht seit der Pandemie international wie in Österreich zurück. Keine Überraschung, das öffentliche Leben ist lahmgelegt. "Dass die Straßenkriminalität sinkt, heißt nicht, dass das Leben für alle 'sicherer' wird", sagt die Kriminologin Angelika Adensamer. "Einerseits in Bezug auf Kriminalität wie häuslicher Gewalt oder aber auch auf Cyberkriminalität. Letzteres war auch schon vorher der am schnellsten wachsende Kriminalitätsbereich." Die Statistik sagt auch: Für Frauen sind die eigenen vier Wände der gefährlichste Ort. Experten und Expertinnen warnen davor, dass häusliche Gewalt von Männern dort zurzeit weiter zunimmt.

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Zu dem Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit sagt die Kriminologin, dass die generelle Unsicherheit der Lebenssituation eine Rolle spiele. Aber auch: "Die Straßen sind jetzt oft ganz leer. Wenn weniger Leute auf der Straße sind, kann einem in einer Notsituation auch niemand helfen." Das öffentliche Leben werde aus ihrer Sicht komplett neu verhandelt: "Es stellen sich Fragen wie: Müssen die anderen Angst vor mir haben oder ich vor ihnen? Diese Umstellung im Verhalten auf der Straße gegenüber anderen Menschen kann Unsicherheit erzeugen."

Die Sozialarbeiterin Marie-Pierre Nyirabatware ist nicht nur unsicher, sie hat Angst. Sie verlässt das Haus nachts nur noch mit ihrem Partner. "Ich fühle mich vor Übergriffen weniger sicher als vor Corona." Denn sie beobachtet noch etwas anderes: Wem geholfen wird – und wem nicht.

"Ich selbst falle als Schwarze Frau der Polizei als Erstes auf"

Seit der Pandemie arbeitet Nyirabatware online weiter mit den Jugendlichen. "Was sie mir über das Verhalten von Polizisten erzählen, ist sehr besorgniserregend." Eine 14-Jährige habe ihr anvertraut, dass sie eine 400-Euro-Strafe erhalten habe, weil sie beim Spaziergang zufällig eine Freundin getroffen und sich somit nicht ans Kontaktverbot gehalten hätte. "Wie soll eine 14-Jährige 400 Euro zahlen können?", fragt Nyirabatware. Natürlich müsse man sich an Regeln halten, aber Jugendliche seien neben wohnungslosen und suchterkrankten Menschen immer die Ersten, die aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden. "Ich selbst falle als Schwarze Frau der Polizei als Erstes auf", sagt die 24-Jährige. "Besonders wegen der Berichte aus meinem Umfeld über die Polizeiwillkür seit Corona bin ich sehr vorsichtig."

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Auch die Wissenschafterin und Erwachsenenbildnerin Melinda Tamás bestätigt, dass marginalisierte Personen den verstärkten Polizeiauftritt mehr als Bedrohung und weniger als Schutz empfinden. Tamás gibt Antirassismus-Workshops für Jugendliche und Erwachsene, beschäftigt sich mit Diskriminierungs- und Gewaltprävention und forscht zu Minderheitenrechten und sozialer Inklusion sowie Exklusion.

Women of Color würden berichten, mehr Beamte auf der Straße und die damit einhergehende "Amtshandlung" als unverhältnismäßig und dadurch als bedrohlich zu empfinden. "Women of Color haben in der Regel schon viele diskriminierende und rassistische Erfahrungen mit Beamten gemacht", sagt Tamás.

Zudem erhalte sie von vielen Frauen die Rückmeldung, dass sie sich in der aktuellen Situation im öffentlichen Raum unsicherer fühlen, als sie dies ohnehin tun. "Es gibt ein kollektives Bewusstsein darüber, dass öffentliche Räume seit jeher männerdominiert waren und Frauen sich diesen Platz erkämpfen mussten."

Wenn sich Frauen nun im öffentlichen Raum bewegen, schwinge das Gefühl mit, noch weniger hierher gehören zu dürfen als sonst. "Öffentliche Orte gehören selten Frauen", sagt Tamás.

Und während des Lockdowns gehören sie uns noch weniger, denke ich. Männer weichen mir auf der Straße seltener aus. Sie halten sich nicht an den Sicherheitsabstand. Plötzlich wird sogar der Bekannte, der in der Gegend wohnt und den ich eigentlich mag, zum Stressfaktor. Nicht, weil er mich sexuell belästigt, sondern weil er meine Bitten, mir bei einem zufälligen Treffen nicht so nahe zu kommen, ignoriert. Männer nehmen die Öffentlichkeit in einer schmerzhaften Selbstverständlichkeit ein, die Pandemie unterstreicht diese Umstand nur. Raum einnehmen und Männern Grenzen setzen, das fällt mit einem gefährlichen Virus in der Luft schwerer.

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