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16 Stunden Wagner, 16 Bier

Die Grundidee war von vornherein ziemlich klar: 16 Stunden Wagner mit 16 Flaschen Bier. Es war klar, dass besonders einem Opern-Neuling wie mir ein gewaltiges physisches und psychisches Unternehmen bevorstehen würde.

Die Grundidee war von vornherein ziemlich klar: 16 Stunden Wagner mit 16 Flaschen Bier. Die berauschend-bombastische Kraft Wagners ist vielleicht mit der des Bieres vergleichbar. Beide sollten im Zuge einer einzigen langen und ununterbrochenen Sitzung in der St. Johannes-Evangelist-Kirche in Berlin genossen werden. Es war klar, dass besonders einem Opern-Neuling wie mir ein gewaltiges physisches und psychisches Unternehmen bevorstehen würde. Wie es sich in solchen Fällen des Unwissens für seriöse Journalisten gehört, stellte ich vorher Recherchen an und macht mich ungemein sachkundig auf den Weg.

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In der Kirche befanden sich acht Musiker auf acht bewegbaren Bühnen, die alle mit einem Haufen Klamotten, ein paar Ästen und, wenn sie Glück hatten, mit einem großen Trichter dekoriert waren.

Schon jetzt zeichnete sich ab, dass diese Neuinterpretation des Ring der Nibelungen „experimentell“ werden würde. Warum auch nicht, schließlich ist der alte Zauberer von Bayreuth gerade 200 Jahre alt geworden.

Ein geschmeidiger Abstieg in die Wagner‘sche Welt der Riesen und Zwerge wurde durch 72 solide Bierkisten gewährleistet, die, wie du siehst, ununterbrochen von drei Rheinjungfern bewacht wurden. Den Gästen war nur eine Flasche pro Stunde erlaubt. Da die Veranstaltung schon morgens um 10 anfing, schienen sich am Anfang jedoch nur wenige dafür zu interessieren. Abgesehen davon, dass es insgesamt nur eine Handvoll Leute war, handelte es sich bei der Hälfte von ihnen um Presseleute, die den Alkohol umsonst bekamen.

Vom erhöhten Balkon aus rief ein rollkragentragender Regisseur Anweisungen und drehte Knöpfe. Als gottesähnlicher Schatten kam er gelegentlich von oben auf die Ebene der einfachen Sterblichen hinunter, um sich mit weltlicheren Aufgaben zu befassen und die Wagen der Musiker zu bewegen, selbstgedrehte Zigaretten zu rauchen und das Soßenkatapult vorzubereiten (mehr dazu später).

Lässt man den ganzen Gesang, das Schauspiel und die Orchesterbegleitung (kurz gesagt: die Handlung!) außen vor, bleibt eine ziemlich minimalistische Musikadaption des ursprünglichen Rings übrig—eine Wagner-Diätvariante, wenn du so willst. Wenn du die vollwertige Kost genießen wolltest, musstest du die Erniedrigung ertragen und deinen Kopf in eine der fünf gelben Öltonnen stecken. Aus Unterwasserlautsprechern ertönte das gewaltige Original dort in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit.

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Dagegen klang das neuinterpretierte Stück schlicht bis gar nicht. Zweifellos war es atmosphärisch, doch zumindest für das ungeübte Ohr ziemlich eintönig. Es war erst unheimlich, dann schauerlich, dann gruselig, dann richtig gruselig, und dann—welch Überraschung—wieder unheimlich. Schau dir diese drei Leute an, die schon nach ein paar Stunden so aussehen, als ob sie einfach nur ihre Zeit totschlagen und auf einen verdammten Bus warten. Nicht gerade ein Zeugnis musikalischer Hingerissenheit.

Ich habe öfter gehört, dass die Organisatoren von einem Schlag Mensch sprachen, der ihre moderne Wagner-Interpretation einfach nicht wertschätzt oder nicht wertschätzen kann. Um nicht gleich als Spießer abgestempelt zu werden, beschloss ich, meine gesamte künstlerische Energie zu aktivieren, und versuchte, mich auf die Musik einzulassen. Es schien sogar so, als ob alles auf eine Art Höhepunkt hinauslaufen würde. Der Nebel wurde immer dichter, eine Flasche Billig-Ketchup wurde vorsichtig in eine guillotineartige Vorrichtung gefüllt.

Doch es war keine Guillotine. Es war ein spezialgefertigter Hightech-Ketchuppresser. Jedes Mal, wenn im Original von Blut die Rede war, wurde Tomatenflüssigkeit durch das Gotteshaus gefeuert, die auf ein weißes Plastiklaken am anderen Ende des Raumes platschte. Wagner war ein großer Freund—einige behaupten sogar der Pate—des Leitmotivs. Das hier sah jedoch eher nach einem Leitmotiv aus, das sich ein Vorschulkind ausgedacht hat. Wie sollen wir Blut symbolisieren? Durch Ketchup! Warum? Weil es rot ist! Das ist alles.

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Wenn du ein sechzehnstündiges, eher ereignisloses Geschehnis entwirfst, wird bereits die geringste Handlung fesselnd und ergreifend. Wir als Zuschauer kamen der Aufforderung jedes Mal nach. Wir drängten uns um den Techniker mit den ketchupfarbenen Schuhen, als würden wir einer Sonnenfinsternis beiwohnen—so lange bis neun Ja!-Flaschen geleert waren. Picasso hat mal gesagt: „Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben.“ Vielleicht verbarg sich doch mehr hinter der Naivität, doch das Ganze wirkte eher wie ein mit Taschengeld finanziertes Kindergartenkunststück. Das absolute Highlight war, als der Ketchup irgendwann um den 21. Spritzer herum plötzlich zurückgefeuert wurde—direkt in das Gesicht eines bemitleidenswerten Zuschauers.

Theoretisch ist avantgardistische Kunst großartig, doch in der Praxis erlebt man oft bittere Enttäuschungen. Ich wäre gerne der Typ, der total auf diesen Kram steht, der sich völlig in den Feinheiten der Musik verlieren kann und die nüchterne Wirklichkeit der Aufführung hinter sich lässt. Wenn sich aber jemand eine Gießkanne auf den Kopf stellt, ist es schlicht und einfach sehr schwierig, sich eben der Tatsache zu entziehen, dass dort jemand mit einer Gießkanne auf dem Kopf steht. Das Bellen und Heulen aus dem Inneren einmal ganz außer Acht gelassen.

Aber zum Glück handelte es sich ja um ein Gesamtkunstwerk, und so gab es verlässliche Ablenkungen für die Sinne: Bier und Spinat. Für die Obdachlosen der Stadt wäre es wirklich das Paradies gewesen. Während draußen der Regen nieselte, war es in der Kirche den ganzen Tag lang gemütlich und kuschelig warm. Pünktlich zu jeder Stunde wurde ein Bier in Zimmertemperatur serviert. Und es gab so viel warmen Spinat und Sesamringe, wie man nur essen konnte. Wirklich kein schlechter Deal für 17 Euro Eintritt.

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Auch wenn die moderne Interpretation nicht ganz mein Ding war—sicherlich haben die Musiker, die die ganze Zeit mit nur gelegentlichen Pinkelpausen durchhielten, eine Meisterleistung vollbracht. Sie haben sogar die harten Fans übertroffen, die an die Heizungen gelehnt abknickten, als wir uns der letzten, sechzehnten Stunde näherten.

Ich bekam meinen letzten Stempel für mein letztes Bier, oder wie die Wagnerianer es hier nannten, den „Vergessenstrank“. Meine Leber (oder der Spinat) schien den meisten Alkohol abgebaut zu haben, doch rechtzeitig zur bevorstehenden Rückfahrt durch den Regen holte er mich doch noch ein. Und in diesem angenehmen Zustand habe ich mich, in einer Art Stockholm-Syndrom, dann eigentlich ganz gut amüsiert.

Doch nicht jeder war eingeschlafen oder betrunken, einige waren auch zu nervlichen Wracks verkümmert. Der Typ auf der linken Seite war auch von Anfang an dort gewesen. Doch in einem Todesspiel zwischen Wagner und dem Verstand kann es nur einen Sieger geben. Beim Anblick dieses, seinen Kopf in den Händen haltenden Mannes, dessen Gehirn zu Ketchupbrei geworden war, kannst du nicht behaupten, dass avantgardistische Kunst niemandem weh tut.

Fotos: Grey Hutton

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