Ein männliches Model: Der Autor
Foto: Nicole Franke
Menschen

Essstörungen und Belästigung: Als Männermodel kämpfte ich mit denselben Problemen wie Frauen

Ich wurde vom dicken Kind zum viel zu dünnen Mann, bis ich kaum noch aß und so viel trank, dass ich in meinem Erbrochenen aufwachte.

Meine 1,89 Meter, die langen Beine, die markanten Wangenknochen und die blauen Augen waren meine Eintrittskarte in eine Welt, die ich zuvor nur aus Filmen wie Der Teufel trägt Prada kannte: Die Modewelt. Ich war ein Model.

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Bei meiner ersten Agentur unterschrieb ich im Alter von 16 oder 17 Jahren, damals in München. Meine Agentin buchte mich für zwei, drei Jobs. Ich war zum Beispiel in einer Foto-Love-Story des Teenie-Magazins Popcorn zu sehen. Getrieben von einem Bild des Erfolges, was durch Filme wie eben Der Teufel trägt Prada geprägt wurde – es herrschten noch die Zeiten vor Instagram –, dachte ich, ich müsste um jeden Preis erfolgreich sein. Auch als Teenager.

Vom Popcorn-Boy mauserte ich mich zum Fashion-Model. Meine zweite Agentur fand ich in Berlin, danach ging es nach Hamburg. Zwischenzeitlich war ich für Aufträge im Ausland, in Singapur zum Beispiel. Dort winkten Jobs für Labels wie Charles & Keith. Den ganz großen Erfolg habe ich nie gelandet, ich wurde nie berühmt, der Druck in mir selbst war zu groß. Mit 23 Jahren verabschiedete ich mich aus dem Geschäft. Und hier ist der Grund:

Mit Anfang 20 war ich zwar dünn und gut in Form, meine Agenten sagten mir jedoch, ich müsste noch mehr abnehmen. Ich trieb Sport bis zur totalen Erschöpfung, mir war schwindelig, ich hatte schlechte Laune. Ich heuerte einen Trainer an, aß nur noch Salat oder Dinge mit hohem Eiweißgehalt. Dazu sehr viel Kaffee. Für jemanden, der noch kein richtiges Gefühl für sich selbst entwickelt hat, ist es sehr gefährlich, immer wieder zu hören, dass er nicht genug sei. Zur Recherche für diesen Artikel habe ich nach Bildern von damals gesucht – und mich erschrocken. Auf einem Bild sticht meine Hüfte hervor, mein Schlüsselbein ebenfalls. Ich sehe mager aus. Und unglücklich.

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Es sind meist Frauen, die Übergriffe öffentlich machen. Aber es gibt auch männliche Models, die sexuell belästigt werden.

Immer wieder liest man Berichte über weibliche Models, die eine Essstörung entwickelt haben. Oder sie berichten vom Druck, von sexuellen Übergriffen und sagen, wie scheiße die Branche sei – und damit haben sie auf gewisse Weise auch Recht. Vor einigen Wochen machte das Model Sunnaya Nash per Instagram einen Chat-Verlauf mit dem Fotografen Marcus Hyde publik, in dem dieser Nacktbilder des Models forderte. Hyde arbeitet sonst mit Stars wie Kim Kardashian oder Ariana Grande zusammen.

Sunnaya Nash ist nur eines der vielen Beispiele, die sich unter anderem im Zuge von Metoo äußerten. Auch der Star-Fotograf Terry Richardson soll Frauen sexuell bedrängt haben. Magazine wie die Vogue beendeten daraufhin die Zusammenarbeit mit Richardson.

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Es sind meist Frauen, die Übergriffe öffentlich machen und damit eine Welle der Empörung auslösen. Aber es gibt auch männliche Models, die sexuell belästigt werden und unter dem Druck der Branche leiden. Über solche Fälle wird nur viel weniger gesprochen. Da wäre einmal Josh Kloss, dem Katy Perry bei einer Party die Hosen heruntergezogen haben soll. Er war damals in dem Video zu Perrys Hit "Teenage Dream" zu sehen. Man kann das witzig finden, aber das ist es nicht: Da wurde ein Mensch auf einer Party entblößt, seine Genitalien waren zu sehen.

Egal ob Star- oder Kartei-Model, Erfahrungen wie diese hat wahrscheinlich fast jeder gemacht. Als ich noch gemodelt habe – es war nach einem Termin bei einer Agentur in Amsterdam –, kontaktierte mich einer der Booker per Facebook. Er sei in Berlin, schrieb er. Ob wir uns nicht treffen wollten?


Auch bei VICE: So habe ich mich an die Spitze der Pariser Fashion Week gemogelt


Ich war 21 oder 22 und naiv. Ich dachte, er wolle über die Zusammenarbeit reden. Einen Vertrag hatten wir nämlich noch nicht unterschrieben, vielleicht ginge es ja darum. Der Booker machte jedoch ziemlich schnell klar, dass es nicht um meinen Vertrag gehen sollte. Vielmehr hatte ich das Gefühl, es ging ihm um Sex – auch wenn er das nicht ausgesprochen hat. Er sagte, dass es Probleme mit meiner Mutteragentur gebe, die sich um alle Angelegenheiten und die Platzierung bei Agenturen im Ausland kümmerte. Heute verstehe ich die Situation so: Sein "Angebot" sollte die vermeintlichen "Probleme" aus der Welt schaffen (Screenshots liegen VICE vor). Was zwischen den Agenturen genau ablief, weiß ich nicht.

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Ich habe mich nicht auf das Angebot eingelassen. Es gibt jedoch genug solche Geschichten in der Branche. Demnach haben männliche Models mit ihren Bookern geschlafen, um einen Job zu bekommen. Das sei in Mailand und Paris ganz normal, erzählte mir einer, der es wissen muss, aber dessen Name ich hier nicht nennen möchte. Ob das stimmt, weiß ich nicht – ich kann es mir jedoch vorstellen.

Ich verurteile das nicht, solange es einvernehmlich ist. Aber ich glaube, dass sich viele Männer in der Branche nicht zu Wort melden, weil Männer glauben, stark sein zu müssen und Belästigung deshalb lieber mit sich selbst ausmachen. Ist ja auch ein Kompliment, wenn ein Mann sexuell begehrt wird. Ja, all das sind Klischees – aber durch Metoo ist auch ein uraltes, dystopisches Klischee öffentlich geworden, an das viele vorher nicht glauben wollten.

Das Problem war: Ich hatte kein gesundes Selbstbild. Ich wurde vom dicken Kind zum viel zu dünnen Erwachsenen.

Um zu verstehen, warum ich das alles trotzdem mitgemacht habe, will ich erzählen, warum ich überhaupt mit dem Modeln angefangen habe. Nach der Trennung meiner Eltern wurde ich wahnsinnig dick. In der Schule wurde ich gemobbt, ja, auch das sind wahrgewordene Klischees. Mit 14 oder 15 Jahren habe ich gelernt, dass Anpassung ein Weg ist, um dazuzugehören. Ich fing an, Sport zu treiben und mich gesund zu ernähren. Ich stand schon immer gerne auf der Bühne und vor der Kamera. Damals wollte ich Moderator werden. Ich wurde dünner und sportlicher, setzte die ersten Fotoshootings mit Freunden um, damals noch mit der Digicam. Immer häufiger sagten sie mir, ich solle doch professionell modeln. Heute weiß ich, dass ich mir die Liebe und Aufmerksamkeit, die mir als Kind gefehlt hat, durch die Ausgrenzung wegen meines Gewichts, zurückholen wollte. Und ich wollte besser sein als mein altes Ich, aber auch besser als andere. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, wer ich überhaupt war – also suchte ich nach etwas, das mir einem Traum gab, den ich verwirklichen konnte, und damit auch ein bisschen mich selbst: das Modeln.

Das Problem war: Ich hatte kein gesundes Selbstbild. Ich wurde vom dicken Kind zum viel zu dünnen Erwachsenen. Ich scherzte mit 17, ich würde die Kate-Moss-Diät machen: nichts essen und nur Wodka trinken. Blöd nur, dass das stimmte und ich meist so viel trank, dass ich in meinem Erbrochenen aufgewacht bin.

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Der Autor liegt für ein Shooting auf einer Couch

So sieht Autor heute aus: "Heute passe ich besser auf mich auf." Foto: Lukas Preuss

Ich war fehlgeleitet von einer Fantasie, die zwar vom Modeln beeinflusst war, hauptsächlich aber mit mir selbst zu tun hatte. Ich verwechselte Aufmerksamkeit und Bestätigung mit Liebe – und suchte sie am falschen Ort.

Egal, wie dünn ich im Laufe der Jahre wurde, mir wurde immer wieder gesagt, ich müsse noch mehr abnehmen. Die Anweisungen meiner Agenten waren sehr verschieden: Bau mehr Muskeln auf! Schau mal den an, so wollen wir dich haben. Ich hörte: Mach das, nur dann bist du gut, nur dann wirst du gebucht. Auf der anderen Seite wollte man mich möglichst schmal halten, ich sollte in Paris und Mailand laufen. Aus alldem wurde nichts – ich passte zu diesem Zeitpunkt nicht rein in das Model-Business. Im wahrsten Sinne.

Als ich für drei Monate in Asien war, ging ich zweimal am Tag zum Sport. Jeweils ein bis zwei Stunden. Ich musste in Singapur von 125 Dollar in der Woche leben (eine Packung Scheiblettenkäse kostet dort über fünf Dollar). Trotzdem bekam ich kaum Jobs, da ich außerhalb der Saison in den Stadtstaat geflogen wurde. Es gab nur selten Castings. Das baute Druck in mir auf. Was sich erst einmal nach Champagnerproblemen anhört, war der reinste Stress. Die schlechte Auftragslage nagte an meinem eh schon angefressenen Selbstwertgefühl. Mir wurde antrainiert, dass ich nur Jobs bekommen würde, wenn ich hart genug arbeiten würde und schmal genug wäre. Doch ich bekam sie nicht. Also wurde ich immer extremer. Mehr Sport, weniger essen, ich war erschöpft.

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Männliche Models müssen meist bestimmte Kriterien erfüllen: möglichst muskulös, vielleicht tätowiert, der Sunny Boy oder halt der Skinny Boy.

2016 entschied ich mich, meine Agentur zu verlassen und das Modeln an den Nagel zu hängen. Die Stimme in mir, die sagte, dass das, was ich da tat, nicht gesund war, wurde immer lauter. Mir wurde bewusst, dass wir uns die Dinge aussuchen, die uns in unserem Denken bestätigen und uns genau darauf konzentrieren. Heute weiß ich, dass die Verantwortung, gut mit mir umzugehen und Grenzen zu zeigen, allein in meiner Hand liegt. Mit Anfang 20 wusste ich das jedoch nicht.

Ich glaube, es gibt genug Models, die sich gut in dem Geschäft zurechtfinden. Die sich gesund ernähren, auf ihren Körper hören, das alles nicht so ernst nehmen. Aber es gibt auch Menschen wie mich, die dazu gehören wollten, ihre eigenen Grenzen nicht respektieren und alles tun, um erfolgreich zu sein. Für diese Menschen ist dieser Text.

Mittlerweile sieht man diverse weibliche Models, in unterschiedlichen Kleidergrößen, Haarfarben, mit Schönheitsmakeln, wie zum Beispiel Pigmentflecken. Männliche Models hingegen müssen meist immer noch bestimmte Kriterien erfüllen: möglichst muskulös, vielleicht tätowiert, der Sunny Boy oder halt der Skinny Boy.

Ich will nicht sagen, dass das Modebusiness schlecht ist. Aber man ist oft auf sich allein gestellt. Dafür war ich damals nicht bereit, ich mutete mir zu viel zu. Und ob mir nun mein Chef in einem Bürojob die Hand auf den Oberschenkel legt oder mich ein Booker in sein Hotel bestellt, beides geht zu weit. Wichtig ist in beiden Fällen, seine Grenzen zu kennen, sich selbst zu kennen und vor allem sich selbst zu respektieren. Rückblickend bin ich dankbar für all die Erfahrungen. Für diese zwei klischeehaften Beispiele. Denn: Am meisten habe ich dadurch über mich selbst und meine Bedürfnisse gelernt, und dabei geht es oft gar nicht um das Modeln an sich.

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Heute passe ich besser auf mich auf. Ich esse regelmäßig, meist das, worauf ich Lust habe. Ich gehe vier- bis fünfmal die Woche zum Sport – und das ist mehr als ausreichend. Doch statt mich im Gym zu quälen, was mir nie Spaß gemacht hat, gehe ich zum Boxen oder laufe. Das sind Sportarten, die mich fordern. Ich weiß, dass mein Selbstwert nicht von meinem Erfolg abhängt, oder davon, wie ich aussehe. Der Selbstwert kommt, wenn ich mich selbst respektiere. Ich fühle mich gut.

Vor einigen Tagen, nachdem ich angefangen hatte, diesen Text zu schreiben, hatte ich wieder ein Shooting. Und es hat Spaß gemacht. Der Fotograf hat sich auf mich eingelassen, das Team war nett – und im Gegensatz zu damals konnte ich aussprechen, wenn sich etwas zu gezwungen oder unnatürlich angefühlt hat. Jetzt bin ich für alles bereit, komme was wolle.

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