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Das Wort „normal" kommt ganz unscheinbar daher. Es wird leicht überhört. Verkommt häufig zur Floskel, was es besser nicht sollte, denn wo das Normale ist, fängt abseits seiner Grenzen das Kranke, Perverse bisweilen auch Böse an. Wo aber das Eine aufhört und das Andere anfängt und wer von uns in welche Kategorie fällt, wird nicht selten von einigen Wenigen zum Leidwesen von vielen Anderen entschieden. Ein solcher Moment spielt sich gerade vor unseren Augen ab. Auf Hochtouren arbeitet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an einer neuen Version der ICD. Es ist eines der umfangreichsten Klassifikationssysteme der Menschheit, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen anhand seiner Krankheiten genauestens zu kodieren.Bei Noisey: Zwischen Wahnsinn und Normalität—Nicolas Winding Refn über die Rolle von Musik im Film
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„Eine Paraphilie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Diagnose einer paraphilen Störung; auch muss eine Paraphilie als solches nicht unbedingt eine klinische Intervention rechtfertigen oder erfordern."
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Viel mehr steht da nicht. Zugegeben, es ist extrem schwer, ja nahezu unmöglich, den exakten Übergang zwischen einer noch nicht pathologisch ausgeprägten Sexualität und einer definitiven Störung der Sexualpräferenz zu bestimmen; dennoch wären im Falle der ICD wenigstens ein paar grobe Kriterien zur besseren Bestimmung von Paraphilien wünschenswert, wie sie bereits 1994 für das DSM-4 entwickelt wurden und bis heute vorherrschen. So werden etwa der sexual-masochistischen Störung (302.83) die zwei folgenden diagnostischen Kriterien vorangestellt:„Es werden sexuelle Aktivitäten mit Zufügung von Schmerzen, Erniedrigung oder Fesseln bevorzugt. Wenn die betroffene Person diese Art der Stimulation erleidet, handelt es sich um Masochismus; wenn sie sie jemand anderem zufügt, um Sadismus. Oft empfindet die betroffene Person sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexuelle Erregung."
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Über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten, wiederkehrende und intensive sexuelle Erregung, die aus dem Akt resultiert gedemütigt, geschlagen, gefesselt oder auf eine andere Weise leiden gelassen zu werden, wie sie sich in Fantasien und dranghaften Verhaltensweisen manifestiert.B.
Die Phantasien, sexuellen Dränge oder Verhalten verursachen klinisch relevanten Leidensdruck oder Beeinträchtigungen in sozialer, beruflicher oder anderer bedeutender Hinsicht.Diese feine Unterscheidung trifft das ICD-10 nicht. Dabei wäre es so wichtig, mit einer minimalen Nuancierung im Bereich der Paraphilien großflächiger Stigmatisierungen vorzubeugen. Wer nicht gerade seinen Chef an den Bürostuhl fesselt oder 100 Gigabyte BDSM-Pornos auf seinen Arbeitsrechner runterlädt, sondern seine sexuellen Vorlieben ohne Leidensdruck in das Leben integriert bekommt, der gilt laut DSM-5 als völlig „normaler" und gesunder Mensch. Nach der ICD könnte er das im Zweifelsfall nicht sein. Deshalb finden auf europäischem Boden seitens der BDSM-Community auch Bemühungen statt, die bestehenden Verhältnisse zu ändern—nicht nur, was die Definition von Sadomasochismus anbetrifft. Man versucht, das Stigma der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen vor allem von den folgenden Krankheitsklassifikationen loszuwerden:F64.1 Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen
F65.0 Fetischismus
F65.1 Fetischistischer Transvestitismus
F65.5 Sadomasochismus
F65.6 Multiple Störungen der Sexualpräferenz
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