Ein Abend in der Notschlafstelle

FYI.

This story is over 5 years old.

Obdachlosigkeit

Ein Abend in der Notschlafstelle

Die Notschlafstelle der VinziRast in Wien hat es sich zur Aufgabe gemacht, jede Nacht bis zu 60 Obdachlose aufzunehmen. Wir haben einen Abend dort verbracht.

Ich weiß nicht viel über Notschlafstellen, aber habe sie mir bis jetzt immer als den letzten Zufluchtsort für obdachlose Menschen vorgestellt, quasi eine logische Notlösung – vor allem im Winter. Doch was für mich als Außenstehende selbstverständlich erscheint, ist es wohl nicht, wie diese Geschichte von Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner zeigt: Er teilte die Geschichte einer jungen Frau auf Facebook, die einem Obdachlosen am Wiener Donaukanal half, der es jedoch vorzog, unter einer Brücke zu schlafen, um nicht in einer Notschlafstelle übernachten zu müssen. Auf die Frage, warum er denn nicht bei diesen Temperaturen eine Notschlafstelle aufsuchen würde, antwortete er, es gäbe dort oft Streit, weil er nicht "dazugehöre" und er könne dort nicht gut schlafen.

Anzeige

Warum sollte jemand es vorziehen, im Freien zu schlafen, wenn es Notschlafstellen gibt? Wie genau kann man sich so eine Notschlafstelle eigentlich vorstellen und wie wird den Menschen dort geholfen?

Die Notschlafstelle der VinziRast in der Wilhelmstraße in Wien hat es sich zur Aufgabe gemacht, jede Nacht bis zu 60 Obdachlose aufzunehmen und ihnen ein reichhaltiges Abendessen, ein sauberes Bett und ein Frühstück anzubieten – und zwar bedingungslos. Im Gegensatz zu anderen ähnlichen Angeboten sind hier Hunde und Alkohol nicht verboten und auch Paare werden aufgenommen.

Alle Fotos von der Autorin

Cecily Corti ist die Gründerin der VinziRast-Notschlafstelle und Obfrau des Vereins Vinzenzgemeinschaft St. Stephan. Die bedingungslose Zuwendung sei eine Grundhaltung der VinziRast, so Cecily. Das sei auch der Grund dafür, dass sie Förderungen der Stadt Wien abgelehnt habe. "Solange es geht, bemühen wir uns, unabhängig zu bleiben – das heißt, wir sind selber verantwortlich für unsere Entscheidungen", sagt sie. "Wir finanzieren uns nur durch private Spenden, haben fast ausschließlich ehrenamtliche Mitarbeiter und sind unheimlich sparsam."

Als ich um 17:30 Uhr in die Notschlafstelle komme, sitzt erst ein Gast im Gangbereich auf einer der beiden gegenüber aufgestellten Parkbänke. Links daneben hinter einer Glasfront befindet sich der Speisesaal, rechts das Büro, in dem Cecily und Magrit bereits am Computer sitzen und die Liste der Personen durchgehen, die die letzten Nächte hier verbracht haben. "Grundsätzlich dürfen die Menschen 30 Nächte bleiben. Aber wir machen viele Ausnahmen", erklärt Cecily, als sie mit der Liste fertig ist. "Menschen, die sonst nirgendwo unterkommen oder psychisch stark belastet sind, sollen hier die Möglichkeit bekommen, zur Ruhe zu kommen und zu sehen, wie es für sie weitergehen kann. Wir machen oft Ausnahmen, weil wir aufgrund der Unabhängigkeit alles sehr individuell handhaben können."

Anzeige

Links Magrit und rechts Cecily Corti am Computer

Ich begleite Cecily durch die Räume der Notschlafstelle. Im Aufenthaltsraum sehen gerade zwei Gäste fern. Es ist ein gemütlicher Raum mit fünf Couches, die mit einem einfachen Stoff überzogen wurden. Auf den Sofas gibt es noch zusätzlichen Platz für den Fall, dass zu viele kommen. Grundsätzlich stehen 48 Betten zur Verfügung – Pärchen schlafen gemeinsam in einem Bett. Falls auch das nicht reicht, werden andere Notschlafstellen angerufen und gefragt, ob diese noch Platz haben.

Der Schlafraum sieht im Grunde wie ein sehr langer Gang aus, der ein Mal um die Ecke geht. Ein paar persönliche Dinge deuten darauf hin, dass einige Gäste ihre letzten Nächte in den gleichen Betten verbracht haben. Cecily betont, dass hier sehr auf die Sauberkeit geachtet werde und hängt währenddessen ein paar Winterjacken aus dem Bettenbereich auf die Garderobenhaken an der Wand gegenüber. Es gibt hier auch die Möglichkeit seine Wäsche zu waschen, aufzuhängen und neue Sachen aus der Kleiderspendensammlung zu holen. Trotz des großen Andrangs sind alle deutlich bemüht, die Räume sauber zu halten.

Als wir weiter in die Waschräume gehen, erklärt Cecily, dass ein weiterer ehrenamtlicher Mitarbeiter jeden Abend beim Richten der Betten helfe, Kleidung ausgebe und manchmal auch ein Pflaster parat habe, wenn es notwendig ist. "Der unmittelbare und wertschätzende Kontakt zu unseren Gästen ist vielleicht das, was viele motiviert, hier mitzuhelfen", so Cecily. Auf die Frage, ob sie auch Streit schlichten müssten, antwortet sie: "Natürlich gibt es Streit, das ist unvermeidlich. Dann rufen wir die Polizei, aber das kommt selten vor." Wenn ein Gast aggressiv wird, werde er gesperrt und bekomme Hausverbot. "Es gibt nur drei Regeln", sagt Cecily. "Keine Gewalt, keine Drogen und kein Rauchen in den Schlafräumen." Alkohol wie Bier oder Wein sei erlaubt.

Anzeige

Wir gehen durch einen kleinen Hof, in dem sich die Gäste vor allem im Sommer gerne aufhalten. Hier wird darauf geachtet, dass die Gäste keinen Lärm verursachen, denn es soll auf keinen Fall Probleme mit den Anrainern geben. Cecily erzählt, dass die Hausbewohner die Eröffnung der Notschlafstelle im Erdgeschoß verhindern wollten. "Ich bat sie, nicht nur dagegen zu sein. sonst könne unsere Initiative nur scheitern und erklärte, dass wir unser Bestes tun würden, um Lärm, Schmutz und Gestank zu vermeiden." Im Jahr 2003 eröffnete die Notschlafstelle dann doch. Der Verein konnte das Haus mit einer großzügigen Spende kaufen und es gab im Laufe der Jahre keine großen Probleme mit den Bewohnern. "Am Ende wollte kaum jemand ausziehen, aber wir haben die Mietverträge nicht verlängert", erzählt sie.

Nach deren Auszug wurde das Haus mit Hilfe von Hans Peter Haselsteiner renoviert und zwei Stöcke daraufgesetzt. Somit wurden 29 günstige Wohnplätze für ehemals obdachlose Menschen geschaffen. Sie werden vor allem von ehrenamtlichen Mitarbeitern begleitet. Eine bezahlten Mitarbeiterin ist die Leiterin des Hauses.

Wir gehen weiter durch den Hof, in den Speisesaal mit angrenzender Küche. Drei ehrenamtliche Mitarbeiterinnen bereiten gerade Salat, Fisch, Kartoffeln und die Reste eines Spanferkels zu, das sie von einem Restaurant gespendet bekamen. Heute sind fast nur weibliche Mitarbeiterinnen hier. Ein junger Mann wird später beim Abräumen und Abwaschen helfen. Heidi ist 74 Jahre alt und arbeitet schon seit 8 Jahren ehrenamtlich in der Notschlafstelle. Sie ist fast täglich hier und behält den Überblick über die Lebensmittel.

Anzeige

Auf die Frage, ob sie auch an Wochenenden und Feiertagen komme, antwortet die pensionierte Apothekerin: "Natürlich, es muss jeden Tag ein Essen auf den Tisch. Ich wohne ums Eck und für mich ist es selbstverständlich, Leuten zu helfen, die weniger Glück gehabt haben." Beim Einkaufen benötige sie manchmal Hilfe, weil sie "es mit dem Kreuz hat", sagt sie. Aber auch ein Gast aus der Notschlafstelle hilft mit und wäscht ab. Die Gäste, die bei der Reinigung helfen, dürfen auch tagsüber in der Notschlafstelle bleiben.

Das Essen ist fertig und langsam füllt sich der Eingangsbereich mit Leuten. Cecily muss zurück ins Büro, um die Gäste aufzunehmen. 2 Euro kostet die Nacht – eigentlich. Die Menschen, die nicht zahlen können, werden natürlich nicht zurückgewiesen. Bei der Anmeldung kommen die Gäste nacheinander ins Büro – Zeit für ein kurzes Gespräch, für das Aushändigen von Kleiderspenden und Handtücher und die Liste zu führen. Es gibt ein paar sprachliche Barrieren, aber Cecily und Magrit tun ihr Bestes, um sich mit den Gästen zu verständigen.

Ein Mann diskutiert mit den beiden, ob er nicht doch zwei Stücke aus der Kleidersammlung nehmen dürfe. Aber für alle gilt – es darf nur ein Teil mitgenommen werden. Ein zweiter kommt herein und beginnt ebenfalls zu reden. Cecily macht ihn darauf aufmerksam, draußen zu warten. Der erste geht währenddessen durch und nimmt einen ganzen Stoß Kleidung mit. Es sei nicht immer einfach, meint Cecily. Sie bittet die Menschen wiederholt, nacheinander und geordnet in das Büro zu kommen.

Anzeige

Es ist bereits 19 Uhr. Erstaunlich wenige sind gekommen, obwohl es heute –1 Grad hat. Cecily stellt mir Michi vor. Ich setze mich zu ihm auf die Bank im Eingangsbereich. Neben ihm sitzt Mitch. Die beiden sind enge Freunde und erzählen mir gleich vom Leben auf der Straße. "Wir san zwa Österreicher und wir san am Sand", ist das erste, was Michi zu mir sagt. Sofort bietet er mir seine Winterjacke an – immerhin würde es hier schrecklich ziehen und ich hätte doch keine an. Ich schlage vor, meine eigene zu holen, doch Michi besteht darauf: "Jetzt nimms! Dir is koit und i hab kane Läuse!" Ich sage danke und nehme sie an.

Er dreht sich eine Zigarette und erzählt aus seinem Leben: warum alles den Bach runterging und warum er trotzdem auf keinen Fall in eine Wohnung ziehen möchte. "I bin immer bei der Philadelphiabrücke. Mich bringst du in keine Wohnung", sagt er. 21 Jahre hätte er in einer psychiatrischen Anstalt verbracht. Wirklich frei fühle er sich nur auf der Straße. In die Notschlafstelle kommt er schon seit 11 Jahren. "Ich kann dir ein Buch darüber schreiben, was hier schon alles passiert ist", erzählt er, während er an einer Plastikflasche voll mit Weißwein trinkt. Im Fernsehraum hatte er gemeinsam mit seinen polnischen Freunden während der Europameisterschaft 2008 Wodka getrunken. Danach wurde er gesperrt, denn harter Alkohol ist sogar in der Notschlafstelle verboten.

"Einmal war die Margit Fischer zu Besuch, mit der hab ich getanzt im Hof und da hat es uns gemeinsam umgehauen", erzählt Michi und lacht. Aber es gäbe auch Streit. Auf die Frage nach seinem Alter antwortet er laut "27", obwohl er offensichtlich um die 60 ist. Das Handy eines Bettnachbars habe einmal um 5 Uhr früh geläutet, als dieser auf der Toilette war. "Da habe ich das Ding runtergeschmissen und es ist in alle Teile zerbrochen", erzählt er schmunzelnd. Danach habe sich der Mann vor ihm gefürchtet: "Michi, Michi, da hast 5 Euro, schlagst mich eh nicht, wenn wir draußen sind", hätte er zu ihm gesagt.

Anzeige

Ich frage nach, ob Streitigkeiten häufig am nächsten Tag auf der Straße ausgetragen werden. Die beiden Männer nicken und Michi erzählt weiter: "Vorgestern hab ich jemandem ein blaues Auge gehauen, weil er mir etwas gestohlen hat. Stehlen geht gar nicht, das ist gegen den Ehrenkodex!" Auch in der Notschlafstelle hätte es vor einigen Jahren eine Schlägerei gegeben, bei der am Ende die Polizei gerufen wurde. "Da hat mir ein Typ den Tabak gestohlen und er hat's nicht mal zugegeben. Da hab ich ihn draußen geschlagen, und zwar blutig", sagt Michi.

Es ist bereits 19:30 Uhr und die Leute wandern zwischen dem Speisesaal, dem Aufenthaltsraum und dem Schlafsaal hin und her. Einige begrüßen Michi und Mitch herzlich, ein paar derbe Scherze fallen und auch die ein oder andere lieb gemeinte Beschimpfung. Manche werden kritisch beäugt, als sie an den beiden vorbeigehen und nach einem genervten Seufzer folgt ein Augenrollen. Ich frage sie, ob es auch andere Gäste gibt, mit denen sie gar nicht klarkommen. "Natürlich", sagt Mitch, "Am meisten nervt es mich, dass manche nicht den nötigen Respekt zeigen und zum Beispiel die Handtücher im Waschraum einfach auf den Boden schmeißen." Er selbst wäre sehr dankbar, dass Menschen hier freiwillig arbeiten, um für andere da zu sein.

Immer wieder trudeln neue Gäste in die Notschlafstelle. Manche kommen alleine, andere in einer Gruppe. Was aber auffällt – es sind wenige Frauen unter ihnen. Ich staune über eine Gruppe junger Männer, die schätzungsweise Anfang 20 sind. Einer von ihnen fragt Michi um Tabak, doch er schüttelt nur genervt den Kopf. Er sieht nervös auf die Uhr und fragt seinen Freund: "Wann kommt denn die Mama?" Die Mama, das ist eine 88-jährige Frau, die eigentlich Susanne heißt, erzählen sie. "Sie kommt zwei Mal in der Woche und spielt mit uns Uno", sagt Michi.

Anzeige

Schließlich holen sich die beiden ihr Abendessen. Ich gehe nochmal in das Büro und frage Cecily, ob es nachts viele Beschwerden gäbe. "Nein, da achten wir auf absolute Ruhe", sagt sie, "Manche beschweren sich zwar, dass geschnarcht oder gehustet wird. Da können wir nicht viel machen, außer Ohrstöpsel auszuteilen".

Schließlich kommt auch Susanne in die Notschlafstelle – sie ist der Inbegriff einer Bilderbuch-Oma. Nachdem sie sich eine Schüssel Krautsalat geholt hat, setzt sie sich an den Tisch im Speisesaal und bereitet ihre Uno-Highscore-Liste vor. Als sich ein junger Herr dazusetzen möchte und von "Mama" eingeladen wird, sich neben Mitch zu setzen, steht dieser plötzlich wütend auf und verlässt den Raum. "Ich weiß auch nicht, was er hat", sagt der junge Mann. Die Situation ist für kurze Zeit angespannt, aber gleich nach dem Austeilen der Karten freuen sich alle auf das Spiel. "Bei dem musst aufpassen, der schummelt", sagt mir Michi und zeigt auf Seppi, der nur lächelnd den Kopf schüttelt. Michi ist mir kurz böse, als ich ihm eine +4 Karte andrehe.

Immer wieder kommen noch Menschen und setzen sich an die Tische, um zu essen. Manche von ihnen sitzen alleine, ziehen nicht mal ihre Winterjacke aus und räumen noch mit vollem Mund ihre Teller weg. Mama hat Süßigkeiten mitgebracht, die beim Kartenspielen genascht werden. Geduldig schlichtet sie Streit, wenn sich zwei Spieler zanken. "Nicht schummeln!", sagt sie. "Jo eh ned, Mama", schallt es zurück. Am Ende teilt die 88-Jährige den Männern Zigaretten aus. Der Erstplatzierte bekommt drei Stück.

Ich schaue mich noch ein wenig um, bevor ich nach Hause gehe. Es ist 21 Uhr. In einer Stunde geht das Licht im Schlafsaal aus und es muss Ruhe herrschen. In den anderen Räumen dürfen sich die Gäste länger aufhalten.

Heute gab es keine Konflikte und obwohl die Stimmung manchmal zu kippen drohte, gab es nichts weiter als ein paar kleine Zankereien. Ich hoffe, dass sich niemand hier so ausgeschlossen fühlt wie der obdachlose Mann vom Donaukanal. Die Notschlafstelle ist nicht nur ein Ort an dem Essen ausgegeben und Betten zugeteilt werden, sondern ein Ort an dem die Menschen ein wenig Zusammengehörigkeit erleben können – auch wenn es manchmal Streit gibt.

Die VinziRast sucht laufend ehrenamtliche Mitglieder und sei es nur um mit den Gästen eine Runde Karten zu spielen. Wer sich gerne engagieren möchte, der kann sich hier melden.

Folge Sabrina auf Twitter: @Sprinert

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.